JudikaturJustiz12Os27/18i

12Os27/18i – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. März 2018

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. März 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Ettel als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung des Christian H***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB, AZ 21 Hv 4/18m des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss vom 15. Jänner 2018 und einen weiteren Vorgang in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 354 HR 358/17x (nunmehr AZ 21 Hv 4/18m) des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzen

1./ die Unterlassung der Anhörung des Betroffenen vor der zu 2./ genannten Beschlussfassung § 6 Abs 2 erster Satz StPO und § 434 Abs 1 erster und dritter Satz StPO;

2./ der Beschluss vom 15. Jänner 2018 (ON 30) § 429 Abs 5 StPO iVm §§ 174 Abs 3 Z 2 und 4, 176 Abs 4 letzter Satz StPO und § 21 Abs 1 StGB.

Gemäß § 292 letzter Satz StPO wird dieser Beschluss aufgehoben und dem Erstgericht die unverzügliche Klärung der Voraussetzungen für die vorläufige Anhaltung des Betroffenen unter Gewährung rechtlichen Gehörs aufgetragen.

Text

Gründe:

Mit Beschluss der Einzelrichterin (im Ermittlungsverfahren AZ 354 HR 358/17x) des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2017 (ON 7 S 5 und ON 8 in AZ 21 Hv 4/18m des genannten Gerichts) wurde über Christian H***** – soweit hier noch von Relevanz – wegen des dringenden Verdachts des Verbrechens der schweren Nötigung nach den §§ 15 Abs 1, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB sowie der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 StGB, des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach den §§ 15 Abs 1, 269 Abs 1 erster Fall StGB und der schweren Körperverletzung nach den §§ 84 Abs 2, 15 Abs 1 StGB die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO – unter ausdrücklicher Verneinung jenes nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO (ON 8 S 4 zweiter Absatz) – verhängt.

Nach Durchführung einer Haftverhandlung setzte die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Untersuchungshaft mit Beschluss vom 20. Dezember 2017 aus dem genannten Haftgrund (unter neuerlicher Verneinung der Annahme von Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO [ON 18 S 4]) fort (ON 17 S 3 und ON 18).

Der dagegen gerichteten Beschwerde des Beschuldigten (ON 19) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 5. Jänner 2018, AZ 131 Bs 378/17a, nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus dem Grund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO bis 5. März 2018 fort (ON 26).

In ihrem am 12. Jänner 2018 bei der Staatsanwaltschaft Wien eingelangten Gutachten führte die im Ermittlungsverfahren bestellte (ON 6 samt Ergänzungen ON 15 und ON 22) Sachverständige aus den Fachgebieten der Psychiatrie und Neurologie Dr. Elisabeth L***** aus, dass beim Beschuldigten eine psychiatrische Erkrankung im Sinne einer schizoaffektiven Störung bestehe, sich dieser zu allen im Verfahren relevanten Tatzeitpunkten in einem akut manisch-psychotischen Zustandsbild befunden habe, wodurch er weder in der Lage gewesen sei, das Unrecht seines Handelns zu erkennen noch sein Verhalten vernunftgemäß zu steuern, womit aus psychiatrischer Sicht die Voraussetzungen nach § 11 StGB vorgelegen seien. Ohne ausreichende Behandlung sei weiters davon auszugehen, dass der Beschuldigte in naher Zukunft Straftaten mit schweren Folgen – „wie zum Beispiel gefährliche Drohungen, schwere Nötigung oder Körperverletzung“ – begehen werde, weshalb aus fachärztlicher Sicht auch die „Voraussetzungen für § 21 Abs 1 StGB“ vorlägen (ON 28 S 27 f).

Mit am 15. Jänner 2018 bei Gericht eingelangtem Antrag begehrte die Staatsanwaltschaft Wien die Umwandlung der über den Beschuldigten verhängten Untersuchungshaft in eine vorläufige Anhaltung gemäß § 429 Abs 4 StPO (ON 1 S 27).

Mit – ohne vorangegangener mündlicher (Haft-)Verhandlung gefasstem – Beschluss vom 15. Jänner 2018 (ON 30) wandelte die Einzelrichterin „die mit 5. März 2018 befristete Untersuchungshaft des Beschuldigten“ – ohne diesen und seinen Verteidiger zu hören – in eine vorläufige Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 429 Abs 4 StPO iVm § 173 Abs 1 und 2 Z 3 lit b StPO um und verwies dazu auf das Gutachten der oben genannten Sachverständigen, welches „dem Beschuldigten die Voraussetzungen der §§ 11, 21 Abs 1 StGB“ bescheinige, sowie auf den genannten Beschluss des Oberlandesgerichts Wien, der bestätige, dass der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach wie vor vorliege (ON 30 S 2 f).

Nachdem die Staatsanwaltschaft Wien am 16. Jänner 2018 die Zustellung einer Ausfertigung des Gutachtens der oben genannten Sachverständigen an den Verteidiger verfügt (ON 1 S 29) und diese am 17. Jänner 2018 (telefonisch) ergänzend zu wahrscheinlichen Prognosetaten iSd § 21 Abs 1 StGB befragt (vgl den Amtsvermerk vom selben Tage ON 1 S 31) hatte, brachte die Anklagebehörde am 19. Jänner 2018 beim Landesgericht für Strafsachen Wien einen Antrag auf Unterbringung des Betroffenen in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB ein (ON 34).

Über den dagegen gerichteten Einspruch des Betroffenen (§ 212 StPO iVm § 429 Abs 1 StPO; ON 38) hat das Oberlandesgericht Wien (zu AZ 131 Bs 29/18d) noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht die Vorgangsweise des Landesgerichts für Strafsachen Wien im Verfahren AZ 354 HR 358/17x (nunmehr AZ 21 Hv 4/18m) mit dem Gesetz nicht in Einklang:

1./ Die Bestimmung des § 434 Abs 1 erster und dritter Satz StPO, welche den Übergang von einem Strafverfahren zu einem Unterbringungsverfahren und umgekehrt ermöglicht, ist auch dann sinngemäß anzuwenden, wenn sich die Zurechnungsunfähigkeit des dringend Tatverdächtigen auf Grund einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades erst nach vorangegangener Verhängung der Untersuchungshaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens (wie hier auf Grund des Gutachtens einer Sachverständigen aus den Fachgebieten der Psychiatrie und Neurologie) ergibt und die übrigen Voraussetzungen des § 21 StGB vorliegen (RIS-Justiz RS0122048).

Die Umwandlung der Untersuchungshaft in eine vorläufige Anhaltung nach § 429 Abs 4 und Abs 5 StPO erfordert (neben dem Vorliegen der materiellen Voraussetzungen der vorläufigen Maßnahme [vgl dazu Murschetz , WK-StPO § 429 Rz 19]), dass die im Interesse des Betroffenen und mit Rücksicht auf die Schwere und Dauer der Unterbringung geschaffenen, schon im Ermittlungsverfahren zu berücksichtigenden Besonderheiten, die neben den in § 429 Abs 2 StPO genannten Voraussetzungen auch die nach § 434 Abs 1 erster und dritter Satz StPO gebotene Anhörung der Parteien zu der in Betracht gezogenen Maßnahme umfassen (11 Os 50/07y), beachtet wurden.

Die Beschlussfassung über die Umwandlung der Untersuchungshaft in eine vorläufige Anhaltung ohne vorangehende Anhörung des Betroffenen verletzt dessen rechtliches Gehör (§ 6 Abs 2 erster Satz StPO).

2./ Die vorläufige Anhaltung des Betroffenen setzt – neben dem Vorliegen in § 429 Abs 4 StPO genannter Anhaltegründe – eine qualifizierte Verdachtslage für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs 1 StGB voraus. Daraus folgt, dass ein Beschluss, mit dem eine derartige Maßnahme angeordnet wird, entsprechende Verdachtsannahmen (nicht nur zu Anlasstaten, sondern auch) zu Prognosetaten iSd § 21 Abs 1 StGB zu enthalten hat (12 Os 116/14x; Murschetz , WK-StPO § 429 Rz 19; § 429 Abs 5 StPO iVm §§ 174 Abs 3 Z 2 und Z 4, 176 Abs 4 letzter Satz StPO).

Soweit der Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. Jänner 2018 (ON 30) lediglich darauf verweist, dass nach dem Gutachten der Sachverständigen aus den Fachgebieten der Psychiatrie und Neurologie vom 8. Jänner 2018 „die Voraussetzungen für § 21 Abs 1 StGB vorlägen“ (BS 2), mangelt es an hinreichenden konkreten Feststellungen zu einer qualifizierten Verdachtslage in Ansehung der Befürchtung, der Betroffene werde unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen (vgl RIS Justiz RS0118581), zumal auch diesem Gutachten bloß zu entnehmen ist, dass „Straftaten [wie] gefährliche Drohungen, [nicht näher spezifizierte] schwere Nötigung oder Körperverletzung“ zu befürchten seien (ON 28 S 27 f).

Bleibt in diesem Zusammenhang klarstellend anzumerken, dass gefährliche Drohungen mit dem Tod (iSd § 107 Abs 2 erster Fall StGB und § 106 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB), die beim Opfer die Besorgnis auslösen, es könnte tatsächlich getötet werden, geeignete Prognosetaten nach § 21 Abs 1 StGB darstellen (RIS-Justiz RS0116500; vgl im Übrigen auch ON 1 S 31).

3./ Die aufgezeigten Rechtsfehler gereichen dem Betroffenen zum Nachteil, weshalb der Oberste Gerichtshof sich veranlasst sah, der Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 292 letzter Satz StPO konkrete Wirkung zuzuerkennen und dem Erstgericht die unverzügliche Klärung der Voraussetzungen für die vorläufige Anhaltung des Betroffenen (vgl RIS-Justiz RS0119858) aufzutragen.

Dabei wird das Gericht im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zu klären haben, ob das in § 434 Abs 1 StPO eingeräumte rechtliche Gehör (§ 6 StPO) im Rahmen einer Haftverhandlung oder in einer sonst geeigneten Weise zu gewähren ist (aM Nimmervoll Strafverfahren² Kap III Rz 733 f [„zwingend abzuhaltende Haftverhandlung“]; ders Haftrecht² 320 mit Rekurs auf die – die gegenständliche Frage nicht ansprechende – E 11 Os 50/17y, SSt 2007/39).

Rechtssätze
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