JudikaturJustiz12Os106/00

12Os106/00 – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Oktober 2000

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Oktober 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler, Dr. Adamovic, Dr. Holzweber und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Krüger als Schriftführer, in der Strafsache gegen Ali Hidir S***** wegen des Verbrechens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 zweiter Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 7a EVr 5189/94 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse 1. des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 20. Dezember 1996, GZ 7a EVr 5189/94-102 sowie

2. des Oberlandesgerichtes Wien vom 29. April 1997, AZ 21 Bs 26/97 (= 7a EVr 5189/94-111), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Staatsanwalt Mag. Bauer, und des Dolmetschers Mag. Aytekin, jedoch in Abwesenheit des Freigesprochenen und seines Verteidigers zu Recht erkannt:

Spruch

Im Strafverfahren gegen Ali Hidir S***** des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, AZ 7a E Vr 5189/94, wurde durch die Unterlassung einer öffentlichen Verhandlung über die vom Genannten nach § 2 Abs 1 lit b StEG geltend gemachten Ersatzansprüche, durch die Unterlassung der öffentlichen Verkündung des von diesem Gericht am 20. Dezember 1996 gefassten Beschlusses (ON 102) sowie dadurch, dass diese Mängel vom Oberlandesgericht Wien anlässlich der Beschlussfassung vom 29. April 1997, AZ 21 Bs 26/97 (ON 111), über die Beschwerde des Ali Hidir S***** nicht wahrgenommen wurden, das Gesetz in den Bestimmungen des § 6 Abs 3 und Abs 4 StEG iVm Art 6 Abs 1 EMRK verletzt.

Die genannten Beschlüsse werden aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien die (an den dargelegten Verfahrensgrundsätzen orientierte) Verfahrenserneuerung aufgetragen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14. November 1994, GZ 7a E Vr 5189/94-68, wurde Ali Hidir S***** von dem gegen ihn wegen des Verbrechens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 zweiter Fall StGB und des Vergehens der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs 1 Z 5 StGB erhobenen Strafantrag (ON 50/I) gemäß § 259 Z 3 StPO "im Zweifel" (rechtskräftig) freigesprochen.

Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 20. Dezember 1996 (ON 102/II) wurde Ali Hidir S***** im zweiten Rechtsgang - ohne Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und ohne öffentliche Verkündung der Entscheidung - eine Entschädigung für die in diesem Verfahren in der Zeit vom 9. Oktober 1993, 12,40 Uhr, bis 11. Jänner 1994, 16,10 Uhr, erlittene Verwahrungs- und Untersuchungshaft (29 und 469/I) nicht zuerkannt. Der dagegen erhobenen Beschwerde des Ali Hidir S***** (ON 103) gab das Oberlandesgericht Wien gleichfalls in nichtöffentlicher Sitzung mit öffentlich nicht kundgemachtem Beschluss vom 29. April 1997, AZ 21 Bs 26/97 (ON 111/II), keine Folge. Dabei ging es davon aus, dass unter den fallspezifischen Gegebenheiten die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und Verkündung der Entscheidung nicht erforderlich gewesen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Diese Vorgänge stehen im Sinne der deshalb gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Beschwerde der Generalprokuratur mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Sowohl die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung als auch die öffentliche Verkündung der Entscheidung sind nach derzeitiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Obersten Gerichtshofs in jedem Fall unabdingbare Kriterien eines den Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK entsprechenden Entschädigungsverfahrens (13 Os 150/98; 13 Os 154/98; 13 Os 86/99 = EvBl 1999/217 und zuletzt 13 Os 54, 55/00; Urteile des EGMR vom 24. November 1997 im Fall Werner gegen Österreich - ÖJZ-MRK 1998/12, sowie vom 21. März 2000 im Fall Asan Rushiti gegen Österreich, NL 00/2/4).

Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zwingen (mit der spruchgemäßen Anordnung der Verfahrenserneuerung) zur Aufhebung der davon betroffenen Beschlüsse.