JudikaturJustiz11Os9/12a

11Os9/12a – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Februar 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Februar 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari, in Gegenwart des Richteramtsanwärters MMag. Krasa als Schriftführer, in der Strafsache gegen Sanel G***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, AZ 5 U 149/11y des Bezirksgerichts Steyr, über die von der Generalprokuratur gegen diverse Vorgänge im Verfahren und das Urteil dieses Gerichts vom 16. September 2011, ON 8 der U Akten, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Strafverfahren AZ 5 U 149/11y des Bezirksgerichts Steyr verletzen:

1./ die Verlesung der durch die Verkehrsinspektion Steyr mit den Zeugen Berk A*****, Beyhan Ay***** und Valon D***** aufgenommenen Protokolle in der Hauptverhandlung vom 16. September 2011 § 252 Abs 1 StPO;

2./ der Strafausspruch im Abwesenheitsurteil vom 16. September 2011, GZ 5 U 149/11y 8, § 88 Abs 1 StGB;

3./ der in diesem Urteil ohne Anhörung des Angeklagten ergangene Zuspruch von je 100 Euro an die Privatbeteiligten Berk A***** und Beyhan Ay***** § 245 Abs 1a iVm § 447 und § 366 Abs 2 zweiter Satz StPO.

Das Abwesenheitsurteil und der gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 4 StPO gefasste Beschluss vom 16. September 2011, GZ 5 U 149/11y 8, werden aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Steyr verwiesen.

Text

Gründe:

Im Strafverfahren gegen Sanel G***** wegen der Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, AZ 5 U 149/11y des Bezirksgerichts Steyr, wurde die Hauptverhandlung am 16. September 2011 gemäß § 427 Abs 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt. Dieser hatte nämlich die eigenhändig übernommene Ladung (ON 1 S 4) nicht befolgt. Die Privatbeteiligten Berk A***** und Beyhan Ay***** begehrten je den Zuspruch eines Teilschmerzengeldbetrags in der Höhe von 100 Euro (ON 7 S 2). Nach „einverständlicher“ Verlesung des Akts „nach § 252 Abs 1 Z 4 und Abs 2 StPO“, welche der Richter durch eine „allseits“ akzeptierte resümierende Darstellung ersetzte (ON 7 S 2), wurde Sanel G***** mit Abwesenheitsurteil vom selben Tage (ON 8) der Vergehen der [erg: fahrlässigen] Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten sowie zur Zahlung eines Teilschmerzengeldbetrags von je 100 Euro an die Privatbeteiligten Berk A***** und Beyhan Ay***** verurteilt. Zugleich fasste das Bezirksgericht Steyr den Beschluss (US 2), vom Widerruf einer Sanel G***** zu AZ 15 Hv 138/07i des Landesgerichts Steyr gewährten bedingten Strafnachsicht abzusehen.

Die zum Schuldspruch führenden Feststellungen gründete das Bezirksgericht Steyr auf die Verantwortung des Angeklagten sowie insbesondere in Ansehung der subjektiven Tatseite auf den von Berk A*****, Beyhan Ay***** und Valon D***** vor der Polizei geschilderten Geschehensablauf (US 4 f), den Strafausspruch auf § 88 Abs 1 StGB (US 2) und die Privatbeteiligtenzusprüche auf die von den Geschädigten erlittenen Verletzungen (US 6).

Eine dagegen erhobene Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit und Strafe (ON 9) wies das Landesgericht Steyr als verspätet zurück (AZ 17 Bl 16/11k).

Rechtliche Beurteilung

Im Strafverfahren AZ 5 U 149/11y des Bezirksgerichts Steyr wurde wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

Die in der Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der durch die Verkehrsinspektion Steyr aufgenommenen Protokolle über die Vernehmungen von Berk A***** (ON 2 S 27 ff), Beyhan Ay***** (ON 2 S 33 ff) und Valon D***** (ON 2 S 37 ff) widersprach § 252 Abs 1 StPO. Amtliche Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen gehören nicht zu den im Abs 2 des § 252 StPO bezeichneten Urkunden und dürfen bei sonstiger Nichtigkeit (§ 252 Abs 4 StPO) nur in den im Gesetz genannten Fällen verlesen werden. Einer der eine Verlesung gestattenden Ausnahmefälle des § 252 Abs 1 StPO lag nicht vor; insbesondere kann aus dem Fernbleiben des ordnungsgemäß geladenen Angeklagten zur Hauptverhandlung keine Verlesungszustimmung abgeleitet werden ( Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 103; RIS Justiz RS0117012).

Nach der (gemäß § 447 StPO) auch im bezirksgerichtlichen Strafverfahren geltenden Bestimmung des § 245 Abs 1a StPO ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Dieses Gebot trägt dem Grundsatz des beiderseitigen Gehörs Rechnung; seine Einhaltung ist essentielle Voraussetzung für einen Privatbeteiligtenzuspruch (vgl Spenling , WK StPO, Vor §§ 366 379 Rz 11). Da der in der Hauptverhandlung nicht anwesende Sanel G***** zu den von Berk A***** und Beyhan Ay***** erhobenen Ansprüchen nicht gehört wurde, verletzt der dennoch erfolgte Zuspruch an die Privatbeteiligten das Gesetz (RIS Justiz RS0101178, RS0101197); diese wären vielmehr auf den Zivilrechtsweg zu verweisen gewesen (§ 366 Abs 2 zweiter Satz StPO).

Schließlich überschreitet die über Sanel G***** verhängte Freiheitsstrafe von vier Monaten die gesetzliche Strafobergrenze des § 88 Abs 1 StGB (Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen).

Da die unzulässig verlesenen Aussagen der Zeugen nach der Beweiswürdigung des Bezirksgerichts Steyr auch Grundlage des Schuldspruchs war, gereichte bereits diese Formverletzung dem Angeklagten zum Nachteil. Es war daher das bezeichnete Urteil aufzuheben und die Verfahrenserneuerung anzuordnen (§ 292 letzter Satz StPO).

Hinsichtlich des Beschlusses nach § 494a Abs 1 Z 2 StPO wird dabei das Verbot der reformatio in peius zu beachten sein.

Bleibt anzumerken, dass das Landesgericht Steyr als Berufungsgericht aus Anlass der (wenn auch verspäteten) Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit gemäß § 290 Abs 1 StPO den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO wahrnehmen hätte können ( Ratz , WK StPO § 290 Rz 18).