JudikaturJustiz11Os78/20k

11Os78/20k – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. November 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. November 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen resp. Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Dr. Nordmeyer, Mag. Fürnkranz und Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen Mag. Günther S***** und weitere Angeklagte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1, Abs 3 zweiter Fall StGB, AZ 12 Hv 53/15t des Landesgerichts Klagenfurt, über den Antrag des Dr. Gerold H***** auf Erneuerung des Verfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Schöffengericht vom 19. April 2017, GZ 12 Hv 83/15t 1011, wurde Dr. Gerold H***** des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1, Abs 3 zweiter Fall StGB (in der Fassung BGBl I 2015/112, 154) schuldig erkannt und nach dem zweiten Strafsatz des § 153 Abs 3 StGB zu einer gemäß § 43 Abs 1 StGB für die Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 12. September 2019, GZ 12 Os 34/18v 9, zurückgewiesen.

Nach in Abwesenheit des Angeklagten am 23. Juni 2020 durchgeführter Berufungsverhandlung gab das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht zu AZ 10 Bs 319/19s mit Urteil vom selben Tag der Berufung des Angeklagten nicht Folge.

Unter Zugrundelegung der Berichte des Polizeibeamten Emil K***** vom 19. Juni 2020 und vom 23. Juni 2020, wonach er an diesen Tagen nach Verbindungsherstellung durch das Sekretariat der Kanzlei des Angeklagten mit diesem telefonisch kommuniziert und während dieser Telefonate keine Anzeichen oder Äußerungen einer Erkrankung wahrgenommen habe, ging das Berufungsgericht von einer uneingeschränkt ausgeführten Berufstätigkeit des Angeklagten in seinen Kanzleiräumlichkeiten aus und nahm in Verbindung mit den schlüssigen Ausführungen des medizinischen Sachverständigen an, dass der Angeklagte aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Teilnahme der Berufungsverhandlung am 23. Juni 2020 gehindert gewesen wäre (BS 2 f).

Bei der Strafzumessung nahm das Berufungsgericht an, dass vor allem angesichts der exorbitanten Schadenssumme eine dreijährige Freiheitsstrafe angemessen wäre, dem Angeklagten jedoch Verzögerungen während des Hauptverfahrens und bei der Urteilsausfertigung mildernd zu Gute zu halten seien, für welche ein Abzug von drei Monaten (hievon) zu gewähren wäre; im Ergebnis sah es daher keine Veranlassung zur Reduktion der vom Erstgericht verhängten Freiheitsstrafe von (ohnehin nur) zwei Jahren.

Rechtliche Beurteilung

Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Verfahrens.

Vora uszuschicken ist, dass für – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützte Erneuerungsanträge (RIS Justiz RS0122228), bei denen es sich um subsidiäre Rechtsbehelfe handelt, alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß gelten (RIS Justiz RS0122737, RS0128394). Dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; RIS Justiz RS0122737 [T13]).

Außerdem hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel, EMRK 6 § 13 Rz 16) – auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS Justiz RS0122737 [T17]).

D er Antragsteller rügt, das Oberlandesgericht habe keine Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK festgestellt, sondern lediglich auf § 34 Abs 2 StGB Bezug genommen. Er übersieht, dass die Sanktionsfrage betreffende Umstände, die nicht Gegenstand einer Sanktionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 11 StPO) sind, sondern ausschließlich in den Bereich der Berufung fallen (wie hier das Ausmaß der infolge unverhältnismäßig langer Verfahrensdauer vorgenommenen Strafenreduktion, vgl Ratz , WK StPO § 281 Rz 724), mit dem innerstaatlichen subsidiären Rechtsbehelf eines Erneuerungsantrags ohne vorherige Anrufung des EGMR nicht geltend gemacht werden können (RIS Justiz RS0125371). Durch den Bezug auf RIS Justiz RS0114926 ging das Berufungsgericht (US 4) überdies erkennbar ohnedies (auch) von einer Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK aus (11 Os 51/20i, EvBl LS 2020/143).

Dem vom Verurteilten im Erneuerungsantrag erstmals ins Treffen geführten Vorwurf unangemessen langer Dauer des Rechtsmittelverfahrens steht bereits die mangelnde (horizontale) Ausschöpfung des Rechtswegs entgegen (vgl das aus Sicht des Obersten Gerichtshofs unbedenkliche Protokoll über die Berufungsverhandlung vom 23. Juni 2020).

Soweit der Erneuerungswerber unter Vorlage eidesstattlicher Erklärungen und eines Auszugs aus dem Telefonverzeichnis seiner Rechtsanwaltskanzlei behauptet, am Tag der Berufungsverhandlung (23. Juni 2020) tatsächlich erkrankt und deswegen zu Hause gewesen zu sein, ist er darauf zu verweisen, dass die Beurteilung der Glaubhaftigkeit seiner durch den Verteidiger gemachten Angaben, krankheitsbedingt (auch) am 23. Juni 2020 am Erscheinen vor Gericht gehindert gewesen zu sein, dem Berufungsgericht zukommt. Dieses hat aufgrund der an zwei verschiedenen Tagen knapp vor der am 23. Juni 2020 durchgeführten Berufungsverhandlung (nach Verbindung durch das Kanzleisekretariat) geführten Telefonate des Polizeibeamten K***** mit dem Erneuerungswerber sowie der Ausführungen des dieser Verhandlung beigezogenen medizinischen Sachverständigen angenommen (US 2, 3), dass der Angeklagte nicht krankheitsbedingt am Erscheinen vor Gericht gehindert war.

Begründungsmängel (Z 5) in Bezug auf diese Tatsachengrundlage oder erhebliche Bedenken gegen deren Richtigkeit (Z 5a) macht der Antrag nicht geltend; nur dann aber wäre eine von den Tatsachenannahmen des Berufungsgerichts abweichende Argumentation statthaft (RIS Justiz RS0125393 [T1]). Dass auf der Grundlage dieser Tatsachenannahmen die Begründungspflicht verletzt worden wäre (vgl RIS Justiz RS0129981), wird ohnedies nicht behauptet.

Soweit der Erneuerungswerber ferner einen Verstoß gegen Art 6 Abs 1 MRK r ügt , weil das Berufungsgericht aufgrund (vor allem) des Erschwerungsgrundes des extrem hohen Schadens zu einer schuldadäquaten Strafe von drei Jahren – somit höher als die vom Erstgericht verhängte – gelangte (US 4) und die unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer mit einer Reduktion der Unrechtsfolge von (bloß) drei Monaten veranschlagte (RIS Justiz RS0114926), weshalb das Strafmaß keine Veränderung fand (§ 295 Abs 2 Satz 1 StPO), scheitert er ebenfalls.

Das Vorgehen des Oberlandesgerichts, dessen originäre Entscheidung in der Straffrage jene des Erstgerichts ersetzt ( Ratz , WK StPO Vor §§ 280–296a Rz 13 ff, § 295 Rz 2 f) und dem es daher zusteht, Strafzumessungstatsachen selbst zu beurteilen, begegnet keinen grundrechtlichen Bedenken (vgl 15 Os 28/10x). Denn die Grundrechtsverletzung wurde anerkannt und ausdrücklich, messbar und im Licht der Judikatur des EGMR ausreichend ausgeglichen. Dem Sinn des Art 6 MRK hinreichend Rechnung tragend durfte als Ausgangspunkt für den Ausgleich zutreffender Weise die als angemessen angesehene Strafe angenommen werden, während prozessuale Aspekte des Rechtsmittelverfahrens (hier: mangelnde Straferhöhungsbefugnis des Rechtsmittelgerichts) außer Betracht bleiben konnten, weswegen es dem Verurteilten an der fortdauernden Opfereigenschaft im Sinn des Art 34 MRK (RIS Justiz RS0125374 [T2]) fehlt.

Der Antrag war demnach zurückzuweisen.

Rechtssätze
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