JudikaturJustiz11Os134/02

11Os134/02 – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. November 2002

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. November 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weiser als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Patrick W***** wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluss über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis vom 29. April 2002, GZ 1 U 8/02d-7, und weitere Vorgänge in diesem Strafverfahren nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Plöchl, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Patrick W***** wegen § 136 Abs 1 StGB, AZ 1 U 8/02d des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis, wurde das Gesetz verletzt:

1. in der Durchführung der Hauptverhandlung gegen den jungen Erwachsenen Patrick W***** am 29. April 2002 ohne Verständigung der im Verfahren AZ 1 U 12/00i des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis bestellten Bewährungshelferin in den Bestimmungen der §§ 46a Abs 2, 40 JGG;

2. infolge Unterbleibens der Einsichtnahme in den Akt über die frühere Verurteilung des Patrick W*****, AZ 1 U 12/00i des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis, in der Bestimmung des § 494a Abs 3 erster Satz StPO;

3. durch den Beschluss vom 29. April 2002, GZ 1 U 8/02d-7, mit dem die Patrick W***** mit Urteil des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis vom 26. September 2000, GZ 1 U 12/00i-11, gewährte bedingte Strafnachsicht ohne Anhörung der bestellten Bewährungshelferin widerrufen wurde, in der Bestimmung des § 494a Abs 3 erster Satz StPO.

Das Urteil vom 29. April 2002, GZ 1 U 8/02d-7, wird in seinem Strafausspruch einschließlich des Beschlusses über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht aufgehoben und dem Bezirksgericht Ried im Innkreis aufgetragen, in diesem Umfang neuerlich zu entscheiden.

Text

Gründe:

Mit dem (in gekürzter Form ausgefertigten) Urteil des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis vom 26. September 2000, GZ 1 U 12/00i-11, wurde über den am 1. Jänner 1983 geborenen Patrick W***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB unter Anwendung des § 5 (zu ergänzen: Z 4) JGG eine für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehene Geldstrafe verhängt und zugleich gemäß § 50 Abs 1 StGB die Bewährungshilfe angeordnet. In der Folge wurde Patrick W***** mit dem - im Strafausspruch durch die Berufungsentscheidung des Oberlandesgerichtes Linz vom 4. Februar 2002, AZ 10 Bs 204/01, abgeänderten - Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 6. September 2001, GZ 9 aEVr 406/01-10, des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Er wurde hiefür und mit nachträglicher Festsetzung der Strafe auch für das ihm gemäß dem Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 17. April 2001, GZ 9 aEVr 218/01-9 (= einbezogener Akt ON 5), zur Last liegende Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB unter Anwendung der §§ 5 JGG, 28 StGB zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht im Verfahren AZ 1 U 12/00i des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis, zu dem das Landesgericht Ried im Innskreis bereits im Verfahren AZ 9 aEVr 218/01 die Probezeit auf fünf Jahre verlängert hatte (S 46 in ON 5), sah das Oberlandesgericht Linz ab (S 104). Wegen des am 4. November 2001 begangenen Vergehens des unbefugten Gebrauches von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB wurde Patrick W***** mit dem (in gekürzter Form ausgefertigten) Urteil des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis vom 29. April 2002, GZ 1 U 8/02d-7, zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt. Gleichzeitig widerrief die Bezirksrichterin gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO die zu AZ 1 U 12/00i des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis gewährte bedingte Strafnachsicht (S 38).

Im zuletzt genannten Verfahren wurde für die Hauptverhandlung am 29. April 2002 nur der Akt AZ 9 aEVr 406/01 des Landesgerichtes Ried im Innkreis beigeschafft (vgl Verfügung vom 14. März 2002 im unjournalisierten Antrags- und Verfügungsbogen sowie Aktenübersendungsersuchen S 117a im genannten Vorakt). Obwohl aus dem bezeichneten Akt die Bestellung einer Bewährungshelferin für den jungen Erwachsenen Patrick W***** hervorging (zB S 43 unten, 57, 59 unten, 61 Mitte, 99 Mitte), unterließ das Gericht die gemäß §§ 46a Abs 2, 40 JGG gebotene Verständigung der zu AZ 1 U 12/00i des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis bestellten Bewährungshelferin von der Hauptverhandlung am 29. April 2002.

Ferner unterblieb die bei Widerruf einer bedingten Strafnachsicht gemäß § 494a Abs 3 erster (und auch letzter) Satz StPO vorgeschriebene Einsicht in den in derselben Strafabteilung geführten Akt über die frühere Verurteilung, AZ 1 U 12/00i, (bzw allenfalls in dieses Urteil) ebenso wie die Anhörung der dort bestellten Bewährungshelferin.

Rechtliche Beurteilung

Diese Vorgänge stehen - wie der Generalprokurator in seiner deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Auf Grund der gemäß § 46a Abs 2 JGG auch in Verfahren gegen einen jungen Erwachsenen anzuwendenden Bestimmung des § 40 JGG hat der für den Beschuldigten bestellte Bewährungshelfer das Recht, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und dort gehört zu werden. Dadurch soll der Bewährungshelfer, der in der Regel Kenntnis über die Lebensbedingungen und Familienverhältnisse sowie über den sonstigen persönlichen und sozialen Hintergrund des (hier) jungen Erwachsenen hat, von sich aus die erforderlichen Informationen einbringen können, um die Entscheidungsgrundlage des Gerichtes zu erweitern (Jesionek JGG3 § 40 Anm 8). In der Durchführung der Hauptverhandlung am 29. April 2002 ohne Verständigung der für den jungen Erwachsenen Patrick W***** bestellten Bewährungshelferin ist demnach das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 46a Abs 2, 40 JGG verletzt worden. Gemäß § 494a Abs 3 erster Satz StPO hat das Gericht vor einer Widerrufsentscheidung ua Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung zu nehmen. Diese gesetzlich vorgeschriebene Einsichtnahme in den in derselben Strafabteilung geführten Vorakt AZ 1 U 12/00i (oder zumindest in diese Entscheidung) ist gleichfalls unterblieben.

Für den Fall des Widerrufes einer bedingten Strafnachsicht hat nach § 494a Abs 3 erster Satz StPO ua zwingend die Anhörung (auch) des Bewährungshelfers des Angeklagten zu erfolgen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die sachverständige Bewertung der Lebensführung des Angeklagten durch den mit seiner Betreuung befassten Sozialarbeiter in die im Rahmen der Widerrufsentscheidung zu erstellende Prognose über das künftige Verhalten des Angeklagten miteinfließt (12 Os 134/96). Diese Bestimmung wurde durch die Unterlassung der Anhörung der Bewährungshelferin vor Entscheidung über den Widerruf der im Verfahren AZ 1 U 12/00i des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis gewährten bedingten Strafnachsicht ebenfalls verletzt.

Eine nachteilige Wirkung der aufgezeigten Gesetzesverletzungen kann sowohl beim Strafausspruch des Urteils als auch bei der Beschlussfassung nach § 494a StPO nicht ausgeschlossen werden, hat doch die Bewährungshelferin in den zu AZ 9 aEVr 406/01 des Landesgerichtes Ried im Innkreis erstatteten Berichten von einem positiven Betreuungsverlauf gesprochen.

Das Bezirksgericht Ried im Innkreis wird daher im Verfahren AZ 1 U 8/02d im Umfang der Aufhebung neuerlich zu entscheiden haben.

Rechtssätze
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