JudikaturJustiz11Os115/02

11Os115/02 – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. November 2002

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. November 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weiser als Schriftführerin, in der Privatangeklagesache gegen Peter A***** wegen der Vergehen der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 StGB und der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB, AZ U 75/01w des Bezirksgerichtes Matrei in Osttirol, über die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluss der Ratskammer des Landesgerichtes Innsbruck vom 6. März 2002, AZ 20 Vr 55/02f (= ON 10 des Strafaktes), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Beim Bezirksgericht Matrei in Osttirol langte am 30. November 2001 eine Privatanklage des bei diesem Gericht als Gerichtsvollzieher tätigen Manfred L***** ein, die sich gegen Peter A***** richtet und wegen der Vergehen der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 StGB und der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB erhoben wurde (AZ U 75/01w). Die für sämtliche richterlichen Geschäfte beim Bezirksgericht Matrei zuständige Gerichtsvorsteherin Mag. Irene M***** und deren gemäß § 77 Abs 2 RDG bestellte Vertreterin Dr. Elisabeth T***** zeigten jeweils auf Grund enger dienstlicher Kontakte zum Privatankläger ihre Befangenheit an (ON 2, 4), welchen Anzeigen die Ratskammer des Landesgerichtes Innsbruck mit Beschlüssen vom 9. Jänner 2002, AZ 20 Ur 1129/01w (ON 3) und vom 6. Februar 2002, AZ 20 Ur 18/02i (ON 6) Berechtigung zuerkannte.

Mit Beschluss vom 6. März 2002, AZ 20 Ur 55/02f (ON 10) erachtete die Ratskammer auch die Befangenheitsanzeige des nach der Geschäftsverteilung für das Bezirksgericht Matrei gemäß § 77 Abs 2 RDG zum weiteren Vertreter der Vorsteherin dieses Gerichtes berufenen Richters des Bezirksgerichtes Lienz, Dr. H*****, für berechtigt und übertrug die Bearbeitung der Strafsache unter Berufung auf § 74 Abs 2 (zu ergänzen: und Abs 3) StPO "dem nach der Geschäftsverteilung weiteren Stellvertreter MMag. Johann F*****", der beim Landesgericht Innsbruck als Richter ernannt und laut Geschäftsverteilung für das Bezirksgericht Matrei für das Jahr 2002 als Vertretungsrichter gemäß § 77 Abs 3 RDG bestellt ist.

Diese letztgenannte Zuweisung des gegenständlichen Privatanklageverfahrens steht nach Auffassung des Generalprokurators mit dem Gesetz nicht in Einklang. In der deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes wird dazu ausgeführt:

Gemäß § 77 Abs 3 RDG hat die Geschäftsverteilung des Gerichtshofes erster Instanz Vertretungsrichter auszuweisen und festzulegen, für welche Bezirksgerichte die einzelnen Vertretungsrichter in welcher Reihenfolge vorgesehen sind, und zwar für jene Fälle, in denen

1. bei einem Bezirksgericht der Leiter einer Gerichtsabteilung aus anderen Gründen als wegen Erholungsurlaubes voraussichtlich oder tatsächlich länger als 44 Arbeitstage ohne Unterbrechung vom Dienst abwesend ist und die anderen Richter dieses Bezirksgerichtes durch die Vertretung erheblich stärker ausgelastet wären als es die Richter des übergeordneten Gerichtshofes sind und

2. weder eine richterliche Ersatzplanstelle nach dem Allgemeinen Teil des jährlichen Stellenplans besetzt noch ein Sprengelrichter zugeteilt werden kann.

Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, damit ein auf einer regulären Planstelle ernannter Richter als Vertretungsrichter eingesetzt werden kann bzw muss (Spehar/Jesionek/Fellner, RDG3 243). Die im Privatanklageverfahren AZ U 75/01w des Bezirksgerichtes Matrei in Osttirol gegebene Befangenheit der Richterin eines einspännigen Bezirksgerichtes und ihrer Stellvertreter gemäß § 77 Abs 2 RDG stellt mangels längerfristiger Abwesenheit keinen Vertretungsfall des § 77 Abs 3 RDG dar. Demgemäß ist die Übertragung der Bearbeitung dieser Privatanklagesache an MMag. F***** verfehlt und gereicht dem in seinem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf den gesetzlichen Richter beeinträchtigten Beschuldigten zum Nachteil.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Der Grundsatz der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung, dessen Sicherung Gegenstand des VII. Hauptstückes der Strafprozessordnung ist, erfordert, dass jeder Richter völlig unbefangen sein muss. Umstände, die daran Zweifel aufkommen lassen, sind zu berücksichtigen und führen dazu, dass ein von solchen Bedenken betroffener Richter von der Mitwirkung an einer Strafsache ferngehalten wird. Dementsprechend sieht § 72 Abs 2 StPO die Verpflichtung jedes einzelnen Richters vor, auf dem in § 22 GOG vorgesehenen Weg alle Gründe anzuzeigen, die geeignet sind, seine volle Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen.

Über die Berechtigung der Befangenheitsanzeige einer Gerichtsperson hat ebenso wie über die Zulässigkeit ihrer Ablehnung in der Regel der Vorsteher des Gerichtes, dem sie angehört, zu entscheiden (§ 74 Abs 1 StPO). Betreffen, soweit hier von Belang, Befangenheitsanzeige oder Ablehnung den Vorsteher eines Bezirksgerichtes, so entscheidet die Ratskammer des Gerichtshofes erster Instanz (§ 74 Abs 2 StPO). Der Vorsteher oder der Gerichtshof, der über die Ablehnung (oder die Befangenheitsanzeige) entscheidet, hat im Fall der Stattgebung zugleich den Richter oder das Gericht zu bezeichnen, dem die Sache zu übertragen ist (§ 74 Abs 3 StPO).

Gegen diese Entscheidung ist weder ein Rechtsmittel zulässig noch ist sie - als Akt der Rechtsprechung - einer Überprüfung durch den Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshof zugänglich. Hinweise, die darüber Aufschluss geben, welche Gesichtspunkte bei der Bestimmung dieses Richters (oder Gerichtes) zu beachten sind, enthält die Strafprozessordnung nicht. Wird ein Einzelrichter mit der Sache betraut, so muss er aber, wie sich aus dem Aufbau der Gerichtsorganisation ergibt, jedenfalls dann, wenn die Entscheidung einem Gerichtshof obliegt, bei diesem oder einem Gericht im Sprengel dieses Gerichtshofes ernannt sein.

Mangels einschränkender Verfahrensvorschriften ist der Entscheidungsträger des § 74 Abs 3 StPO in der Anordnung des Vertretungsrichters grundsätzlich frei, doch hat er bei Anwendung dieser einfachgesetzlichen Regelung, dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung folgend, das in Art 83 Abs 2 BVG verankerte und in Art 87 Abs 3 BVG näher umschriebene verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter zu beachten. Nach der letztgenannten Bestimmung sind die Geschäfte unter die Richter eines Gerichtes für die in der Gerichtsverfassung bestimmte Zeit, das ist vom 1. Februar bis zum 31. Jänner des Folgejahres (in Ansehung der Bezirksgerichte: § 26 Abs 1 GOG) im Voraus zu verteilen (Grundsatz der festen Geschäftsverteilung). Demnach muss für jede Rechtssache im Vornhinein nicht nur das zuständige Gericht, sondern auch der jeweils zuständige Richter (Senat) festgelegt sein.

Gemäß § 26 Abs 4 GOG hat die vom Personalsenat des Gerichtshofes erster Instanz zu beschließende Geschäftsabteilung der Bezirksgerichte (§ 27 Abs 3 GOG) auch Regelungen für die Vertretung der einzelnen Gerichtsabteilungen zu enthalten, wobei für jeden Leiter einer Gerichtsabteilung eine ausreichende Zahl von Vertretern und die Reihenfolge, in der sie einzutreten haben, zu bestimmen sind. Sind bei einem Bezirksgericht nicht so viele Richter ernannt, als Vertreter erforderlich sind, sind - vorbehaltlich des § 77 Abs 2 RDG - aus dem Kreis der nach § 77 Abs 3 RDG heranzuziehenden Richter Vertreter zu bestimmen.

§ 26 Abs 5 GOG sieht für Bezirksgerichte, bei denen nur eine Richterstelle systemisiert ist, für kürzere Vertretungen - abweichend vom Abs 4 - unter Bezugnahme auf § 77 Abs 2 RDG vor, Richter benachbarter Bezirksgerichte als Vertreter zu bestimmen. Nach der zitierten Bestimmung des RDG hat der Personalsenat des Gerichtshofes erster Instanz für Bezirksgerichte, bei denen nicht mehr als zwei volle Planstellen systemisiert sind, Richter benachbarter Bezirksgerichte mit der Vertretung zu betrauen, doch darf ein Richter ohne seine Zustimmung nicht mehr als 44 Arbeitstage je Kalenderjahr eingesetzt werden.

Für jene Fälle, in denen bei einem Bezirksgericht der Leiter einer Geschäftsabteilung aus anderen Gründen als wegen Erholungsurlaubes voraussichtlich oder tatsächlich länger als 44 Arbeitstage ohne Unterbrechung vom Dienst abwesend ist und die anderen Richter dieses Bezirksgerichtes durch die Vertretung erheblich stärker ausgelastet wären als es die Richter des übergeordneten Gerichtshofes sind (§ 77 Abs 3 Z 1 RDG) und weder eine richterliche Ersatzplanstelle nach dem Allgemeinen Teil des jährlichen Stellenplanes besetzt noch ein Sprengelrichter zugeteilt werden kann (§ 77 Abs 3 Z 2 RDG), hat die Geschäftsverteilung des Gerichtshofes erster Instanz Vertretungsrichter auszuweisen und festzulegen, für welche Bezirksgerichte die einzelnen Vertretungsrichter in welcher Reihenfolge vorgesehen sind. Vertretungsrichter sind, mit Ausnahme des Präsidenten und des/der Vizepräsidenten, die zuletzt beim Gerichtshof ernannten Richter (§ 77 Abs 3 RDG). Im Bedarfsfall ist dieser Vertretungsrichter vom Außensenat des Oberlandesgerichtes dem Bezirksgericht zuzuteilen und in der betreffenden Gerichtsabteilung einzusetzen (§ 28 Abs 2 GOG).

Der in Beschwerde gezogene Beschluss der Ratskammer des Landesgerichtes Innsbruck ist demnach dahin zu prüfen, ob bei der Anordnung des Vertretungsrichters nach § 74 Abs 3 StPO dem Erfordernis der Wahrung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter Rechnung getragen wurde. Unter Zugrundelegung der dargestellten Vertretungsrichtlinien und der Geschäftsverteilung für das Bezirksgericht Matrei in Osttirol ergibt sich folgendes:

Nach der für das Jahr 2002 maßgeblichen Geschäftsverteilung des Bezirksgerichtes Matrei ist Mag. Irene M***** Vorsteherin und einzige Richterin des Bezirksgerichtes Matrei und damit mit der Besorgung sämtlicher richterlichen Geschäfte betraut. Als Stellvertreter iSd § 77 Abs 3 RDG sind die Richter des benachbarten Bezirksgerichtes Lienz, Dr. Elisabeth T***** und, in dieser Reihenfolge, Dr. Armin H***** vorgesehen. Als Vertretungsrichter nach § 77 Abs 3 RDG (Ersatzrichter) ist der beim Landesgericht Innsbruck ernannte Richter MMag. F***** ausgewiesen.

Infolge Anerkennung der Befangenheitsanzeige der Gerichtsvorsteherin wurde zunächst folgerichtig die nach der Geschäftsverteilung gemäß § 77 Abs 2 RDG, welche Bestimmung auch solche Vertretungsfälle erfasst, bestimmte Vertreterin Dr. T***** und sodann aufgrund deren Befangenheit der nach der Geschäftsverteilung nächstfolgende Vertreter, Dr. H*****, mit der Übernahme der Strafsache betraut. Eine weitere Vertretung für den Fall, dass auch Dr. H***** als befangen von der Führung des Strafverfahrens auszuschließen ist, ist in der Geschäftsverteilung nicht verfügt. Denn die Vertretung nach § 77 Abs 3 RDG, für welche MMag. F***** ausgewiesen ist, ist, soweit hier von Bedeutung, nur für Fälle einer nicht in einem Erholungsurlaub begründeten, mehr als 44 Arbeitstage andauernden Dienstabwesenheit vorgesehen, in welchem zudem weder eine richterliche Ersatzplanstelle nach Punkt 4 Abs 1 des Allgemeinen Teils des Stellenplans noch die Zuteilung eines Sprengelrichters nach § 65 Abs 2 RDG möglich ist. Ein