JudikaturJustiz10ObS68/12s

10ObS68/12s – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. Juni 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei K***** S*****, gegen die beklagte Partei Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, 4021 Linz, Gruberstraße 77, vertreten durch AnwaltGmbH Mag. Teuchtmann in Linz, wegen Wochengeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 21. Dezember 2011, GZ 7 Rs 141/11y 9, womit das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits und Sozialgericht vom 26. Mai 2011, GZ 27 Cgs 69/11z 6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung:

Die Klägerin bezog aus Anlass der Geburt ihres ersten Kindes am 8. 3. 2009 im Anschluss an das Wochengeld Kinderbetreuungsgeld vom 4. 5. 2009 bis 7. 11. 2010. Sie hatte mit ihrem Dienstgeber einen Karenzurlaub bis zum 7. 3. 2011 vereinbart.

Die Klägerin wurde wiederum schwanger. Der voraussichtliche Entbindungstermin war der 17. 7. 2011. Die Bezirkshauptmannschaft Amstetten bescheinigte ihr am 18. 1. 2011 ein individuelles Beschäftigungsverbot bis zum Beginn des absoluten Beschäftigungsverbots.

Mit Bescheid vom 18. 2. 2011 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Auszahlung eines vorzeitigen Wochengelds ab dem 18. 1. 2011 ab.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 18. 1. 2011 bis acht Wochen nach der Geburt bzw zwölf Wochen nach der Geburt im Falle einer Frühgeburt, Mehrlingsgeburt oder Kaiserschnittentbindung ein (vorzeitiges) Wochengeld von 26,15 EUR täglich, unter Berücksichtigung des § 6 Abs 1 KBGG zu gewähren.

Die beklagte Partei erhob dagegen Berufung mit dem Antrag, das Urteil des Erstgerichts dahin abzuändern, dass der Klägerin Wochengeld in Höhe von 26,15 EUR täglich ab 8. 3. 2009 (offenbar gemeint: 2011) bis 11. 9. 2011, unter Berücksichtigung des § 6 Abs 1 KBGG gewährt wird. Die Klägerin habe am 13. 7. 2011 entbunden. Eine Frühgeburt, Mehrlingsgeburt oder Kaiserschnittentbindung liege nicht vor. Der Klägerin werde daher vom 8. 3. 2011 bis 11. 9. 2011 Wochengeld in Höhe von 26,15 EUR täglich gewährt.

Das Berufungsgericht gab dieser Berufung nicht Folge. Es sprach aus, die ordentliche Revision sei zulässig, weil „die hier zu beurteilende Rechtsfrage“ in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe und hierzu oberstgerichtliche Rechtsprechung nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist zum Teil jedenfalls, im Übrigen mangels Vorliegens einer iSd § 502 Abs 1 ZPO erheblichen Rechtsfrage entgegen dem, den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts unzulässig.

1. Im Hinblick auf den Berufungsantrag der beklagten Partei ist das Urteil des Erstgerichts in Ansehung des Gewährungszeitraums vom 8. 3. 2011 bis 11. 9. 2011 in Rechtskraft erwachsen. Insoweit ist die Revision jedenfalls unzulässig.

2. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass ausgehend vom Beginn des generellen (absoluten) Beschäftigungsverbots (§ 3 Abs 1 MSchG) der neuerliche Versicherungsfall der Mutterschaft der Klägerin innerhalb des Beginns der 32. Woche nach dem Ende der Pflichtversicherung (nach § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG) liegen würde, sodass die Leistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft auch zu gewähren sind, wenn der Versicherungsfall nach dem Ende der Pflichtversicherung eintritt (§ 122 Abs 3 Satz 1 ASVG).

Nach dem zweiten Satz des § 122 Abs 3 ASVG besteht ein Leistungsanspruch jedoch nicht, wenn die Pflichtversicherung aufgrund einer einvernehmlichen Lösung des Dienstverhältnisses, einer Kündigung durch die Dienstnehmerin, eines unberechtigten vorzeitigen Austritts oder einer verschuldeten Entlassung der Dienstnehmerin geendet hat oder wenn die Dienstnehmerin aus einem dieser Gründe unmittelbar im Anschluss an einen Zeitraum des Bezugs eines Karenzgeldes nach dem KGG ihre vorherige Beschäftigung nicht wieder aufgenommen hat. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass kein Fall des § 122 Abs 3 Satz 2 zweiter Fall ASVG vorliegt, wenn wie im zu entscheidenden Fall die Arbeitnehmerin ihren gesetzlichen Karenzurlaubsanspruch nach § 15 MSchG in Anspruch genommen hat und aus diesem Grund nach Beendigung des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld bis zum Ende dieses Karenzurlaubszeitraums die vorherige Beschäftigung (noch) nicht wieder aufgenommen hat (10 ObS 136/10p, SSV NF 24/75; RIS Justiz RS0126441).

3. Die Revisionswerberin vertritt weiter die Auffassung, das individuelle Beschäftigungsverbot könne bei einer in Karenz befindlichen, keine Arbeitsleistung erbringenden und daher keiner Gesundheitsgefährdung ausgesetzten Arbeitnehmerin nur theoretische Wirkung haben und rechtfertige deshalb kein Wochengeld.

Zu dieser fallentscheidenden Rechtsfrage liegt bereits Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor (RIS Justiz RS0127197; vgl 10 ObS 165/11d), sodass die Revision, soweit sie sich gegen den noch nicht in Rechtskraft erwachsenen Teil des Klagebegehrens richtet, unzulässig ist. Der Oberste Gerichtshof hat im Urteil vom 30. 8. 2011, 10 ObS 77/11p, mit ausführlicher Begründung dargelegt, dass aufgrund systematischer und historischer Auslegung der §§ 120 Z 3 Satz 2, 157 und 162 Abs 1 Satz 3 ASVG auch einer (in Karenzurlaub befindlichen [§ 15 MSchG]) Bezieherin einer Leistung nach dem KBGG bei Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Freistellungszeugnisses nach § 3 Abs 3 MSchG ein vorgezogenes Wochengeld zusteht, weil sie in gleicher Weise wie eine von einem Beschäftigungsverbot betroffene erwerbstätige Dienstnehmerin nicht mehr in der Lage ist, ohne Gefährdung ihres Lebens und ihrer Gesundheit oder des Lebens und der Gesundheit ihres Kindes einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies ergibt sich daraus, dass im Fall eines individuellen Beschäftigungsverbots in § 120 Z 3 Satz 2 ASVG eine Vorverlegung des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft auf den Beginn des individuellen Beschäftigungsverbots normiert ist, § 157 ASVG, der den Umfang des Versicherungsschutzes bei Leistungen aus diesem Versicherungsfall regelt, den nach seinem Eintritt (§ 120 Z 3 ASVG) liegenden Zeitraum der Schwangerschaft, die Entbindung und die sich daraus ergebenden Folgen umfasst und für die Zeit des individuellen Beschäftigungsverbots § 162 Abs 1 Satz 3 ASVG einen Anspruch auf Wochengeld vorsieht. Die Revisionsausführungen geben keinen Anlass, von dieser Rechtsauffassung abzugehen, wurde doch schon auf die Argumente, wie sie die Revisionswerberin für ihre Meinung ins Treffen führt, in der Entscheidung 10 ObS 77/11p eingegangen.

Auch Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe beziehende Schwangere haben Anspruch auf Wochengeld, wenn die Aufnahme einer Beschäftigung mit einer Gefahr für Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind verbunden wäre (10 ObS 103/11m mwN). Nach § 162 Abs 1 ASVG gebührt allen weiblichen Versicherten Wochengeld, wenn sie nicht vom Anspruch ausgeschlossen sind (vgl § 162 Abs 5 ASVG). Auch aus der Formulierung des § 162 Abs 1 Satz 3 ASVG: „Über die vorstehenden Fristen vor und nach der Entbindung hinaus gebührt das Wochengeld ferner für jenen Zeitraum, während dessen Dienstnehmerinnen und Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG ... bei Dienstnehmerinnen ... aufgrund eines amtsärztlichen Zeugnisses nachgewiesen wird, dass das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung gefährdet wäre“, lässt sich schließen, dass der erweiterte Wochengeldanspruch für alle weiblichen Versicherten in Betracht kommt, die grundsätzlich Anspruch auf Wochengeld haben. Es haben daher auch Schwangere, die mangels einer Beschäftigung arbeitslos sind und eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung beziehen, einen Anspruch auf Wochengeld bereits vor Beginn der (nunmehr) achten Woche vor der voraussichtlichen Entbindung, wenn die Aufnahme einer Beschäftigung mit einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind verbunden wäre und ein entsprechendes ärztliches Zeugnis darüber vorliegt (vgl Spitaler , Einige Fragen zum Mutterschutz, DRdA 1966, 251 [252 f]).

In gleicher Weise haben daher auch Dienstnehmerinnen, die sich wie die Klägerin in Karenzurlaub befinden und für die ein Freistellungszeugnis nach § 3 Abs 3 MSchG ausgestellt wurde, ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf ein (vorgezogenes) Wochengeld, weil diese in gleicher Weise wie eine von einem Beschäftigungsverbot betroffene beruflich aktive Dienstnehmerin nicht mehr in der Lage sind, einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Für den Wochengeldanspruch ist daher nicht erst das tatsächliche Eingreifen eines arbeitsrechtlichen Beschäftigungsverbots maßgeblich, sondern es reicht das „potentielle Vorliegen“ einer mutterschutzrechtlichen Arbeitsunfähigkeit aus, die eine allfällige Beschäftigungsaufnahme verhindert (vgl 10 ObS 103/11m; Th. Radner , Entscheidungsbesprechung DRdA 2006/30, 313 [315]; Knöfler , MSchG und EKUG 110 [112]; aA Schober in Sonntag , ASVG² § 162 Rz 12c mwN).

Mit der 72. ASVG Novelle, BGBl I 2010/61, wurden § 120 Z 3 Satz 2 ASVG und § 162 Abs 1 ASVG dahin geändert, dass die Bezugnahmen auf das KGG entfallen. Die Rechtsänderungen sind ohne Übergangsbestimmungen am 1. 9. 2010 in Kraft getreten (§ 652 Abs 1 Z 1 ASVG). Der Entfall der Bezugnahmen auf das KGG hat auf die in der Entscheidung 10 ObS 77/11p vertretene Rechtsauffassung keinen Einfluss, trägt er doch nur dem Umstand Rechnung, dass das KGG keine praktische Anwendbarkeit mehr hat (10 ObS 103/11m).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 1 ASGG.

Rechtssätze
3
  • RS0127653OGH Rechtssatz

    19. Januar 2016·3 Entscheidungen

    Die Erweiterung von Leistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft nach § 122 Abs 3 ASVG auf Mütter, die (ungefähr) zu Beginn der Schwangerschaft krankenversichert waren, dient vor allem familienpolitischen Zwecken. Es soll dadurch der Anspruch auf Leistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft auch bei Ausscheiden der Arbeitnehmerin aus dem Arbeitsverhältnis während der Schwangerschaft (Probearbeitsverhältnis, befristetes Arbeitsverhältnis usw) aufrecht erhalten werden, sofern die Schwangerschaft während des Bestands der Pflichtversicherung eingetreten ist, und zwar unabhängig davon, wann die Pflichtversicherung endet. Nach dem dargelegten Regelungszweck ist mit dem in § 122 Abs 3 ASVG genannten Eintritt des Versicherungsfalls (der Mutterschaft) der in § 120 Z 3 Satz 1 ASVG geregelte Grundfall des Eintritts dieses Versicherungsfalls gemeint. Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass es zu der normierten Erweiterung des Wochengeldanspruchs bei einer Vorverlegung des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft auf den Beginn des individuellen Beschäftigungsverbots (§ 120 Z 3 Satz 2 ASVG) nicht kommen kann, sondern nur, dass auch in diesem Fall für die Bestimmung des „Beginns der 32. Woche vor dem Eintritt des Versicherungsfalls“ auf den Eintritt des Versicherungsfalls nach dem Grundfall abzustellen ist, nicht aber auf den Beginn des individuellen Beschäftigungsverbots.