JudikaturJustiz10ObS144/23h

10ObS144/23h – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Januar 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. N*, vertreten durch Dr. Heinz-Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Oktober 2023, GZ 9 Rs 67/22x 17, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Durch ihre Tätigkeit ab dem 1. Juli 1987 hat die Klägerin bis zum Stichtag 1. Mai 2021 nach dem ASVG 93 Beitragsmonate der Pflichtversicherung (Erwerbstätigkeit), 22 Ersatzmonate und 10 Beitragsmonate der Pflichtversicherung (Teilversicherung), somit insgesamt 125 Versicherungsmonate, erworben, wovon 10 Versicherungsmonate auf den Zeitraum vom 1. Juli 2004 bis 30. April 2021 entfallen.

[2] Die Vorinstanzen wiesen das auf Gewährung von Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß, in eventu in bestimmter, näher bezeichneter (geringerer) Höhe gerichtete Klagebegehren mangels Erfüllung der Wartezeit ab. Aufgrund der Nichteinbeziehung der in der anwaltlichen Versorgungseinrichtung erworbenen Versicherungsmonate in die Wanderversicherung nach § 251a ASVG könnten die im anwaltlichen System erworbenen Beitragszeiten nicht (gleichwertig) wie erworbene GSVG-Beitragszeiten für die Anwartschaft und/oder die Leistung auf eine ASVG-Pension „mitberücksichtigt“ werden. Diese Rechtslage sei weder verfassungs- noch unionsrechtswidrig.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[4] 1. Die in der Revision geltend gemachten Rechtsfragen sind in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, von der die Beurteilung der Vorinstanzen nicht abweicht, geklärt:

[5] 2.1. Nach § 223 Abs 2 ASVG ist der Stichtag bei Anträgen auf eine Leistung aufgrund der geminderten Arbeitsfähigkeit der Tag der Antragstellung, wenn dieser auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Tag der Antragstellung folgende Monatserste. Der Stichtag ist nach der Rechtsprechung (auch) für die Beurteilung der sekundären Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich (RS0111054 [T1]; RS0110083 [T3]), wozu die Erfüllung der Wartezeit zählt (RS0106536 [T2]). Auch eine wegen Unkenntnis des Gesetzes verspätete Antragstellung kann nicht auf einen früheren Zeitpunkt zurückwirken (RS0085841).

[6] 2.2. Selbst wenn – wie in der außerordentlichen Revision vorgebracht wird – bei der Klägerin der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bereits vor dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag (dem 1. Mai 2021) eingetreten und durchgehend gegeben gewesen sein sollte, wäre die Erfüllung der Wartezeit demnach nach den Verhältnissen zum Stichtag zu beurteilen. Weder die Beantragung einer Berufsunfähigkeitsrente nach dem Pensionsstatut der Rechtsanwälte bei der für die Klägerin zuständigen Rechtsanwaltskammer noch die Annahme des Eintritts der Berufsunfähigkeit in dem dadurch ausgelösten Verfahren löst einen Stichtag iSd § 223 ASVG aus. Die hier gegenständliche Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach dem ASVG beantragte die Klägerin (erst) am 30. April 2021. Die Heranziehung des Stichtags 1. Mai 2021 durch die Vorinstanzen ist somit nicht zu beanstanden.

[7] 2.3. Die grundsätzlich allen Versicherten eingeräumte Stichtagswahl samt damit ausgelöstem grundsätzlich unverrückbaren Stichtag ist verfassungsrechtlich unbedenklich (RS0084543 [T2, T3]). Das gilt auch für die Tatsache, dass bei früherer Antragstellung allenfalls eine Leistung gebührt hätte, jedoch an dem durch die spätere Antragstellung ausgelösten Stichtag die Wartezeit nicht mehr erfüllt ist (RS0084543 [T1]).

[8] 3.1. Die Klägerin bestreitet in der außerordentlichen Revision nicht, dass die – für den geltend gemachten Pensionsanspruch unstrittig erforderliche (§ 235 ASVG) – Wartezeit nach § 236 ASVG unter Berücksichtigung nur der nach dem ASVG erworbenen Versicherungszeiten zum Stichtag 1. Mai 2021 nicht erfüllt ist.

[9] 3.2. Der Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung der Rechtsanwälte (§§ 49 bis 54 RAO) kommt eine außerhalb der staatlichen Sozialversicherung liegende Stellung zu. Mangels einer in diesem Bereich gegebenen Koordination zwischen dem ASVG-System und dem anwaltlichen Versorgungswerk bzw aufgrund der Nichteinbeziehung der in der anwaltlichen Versorgungseinrichtung erworbenen Versicherungsmonate in die Wanderversicherung nach § 251a ASVG können die im anwaltlichen System erworbenen Beitragszeiten nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht (gleichwertig) wie erworbene GSVG-Beitragszeiten für die Anwartschaft und/oder die Leistung auf eine ASVG-Pension „mitberücksichtigt“ werden (10 ObS 69/16v ErwGr 3.5; 10 ObS 34/99v). Dieser Rechtsprechung entsprechen die Entscheidungen der Vorinstanzen.

[10] 3.3. Das von der Klägerin angeregte Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union würde voraussetzen, dass die Entscheidung von der Auslegung des Unionsrechts abhinge. Dies ist jedoch mangels Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts nicht der Fall:

[11] Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, auf die sich die Klägerin diesbezüglich stützt, gilt nach ihrem Art 51 Abs 1 ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Revision führt nicht aus, aus welchen Gründen diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt sein könnte. Die Anwendung der Koordinierungsverordnung 883/2004/EG, auf die die Klägerin in diesem Zusammenhang Bezug nimmt, erfordert das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (10 ObS 61/19x ErwGr 3.1.; vgl RS0117828 [T5]), der hier – wie bereits das Berufungsgericht zutreffend hervorhob – nicht vorliegt (idS bereits 10 ObS 69/16v ErwGr 5.1 f). Das gleiche gilt für die von der Klägerin ebenfalls ins Treffen geführte Niederlassungsfreiheit des Art 49 AEUV (4 Ob 218/14h ErwGr 4.1. ff).

[12] 3.4. Den gegen die geschilderte Rechtslage erhobenen (und ihrer Ansicht nach zu einer verfassungskonformen Interpretation Anlass gebenden) verfassungsrechtlichen Bedenken der Klägerin hielt bereit das Berufungsgericht entgegen, dass der Verfassungsgerichtshof die Behandlung des in diesem Verfahren gestellten Antrags der Klägerin gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B VG mit Beschluss vom 13. Juni 2023, G 216/2022 11, abgelehnt hat.

[13] Auch aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rs Klein (Bsw 57028/00) kann die Klägerin nichts für ihren Rechtsstandpunkt ableiten. Anders als in dem der genannten Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wurden erworbene Anwartschaften der Klägerin nicht aufgrund des Ausscheidens aus dem Berufsstand für erloschen erklärt, sondern die bis zum Berufswechsel aus dem ASVG-System in die Anwaltschaft erworbenen Versicherungszeiten ohnedies und unabhängig von ihrem Berufswechsel berücksichtigt (vgl bereits 10 ObS 69/16v ErwGr 7.2). Eine Verpflichtung, nach einem Berufswechsel aus dem ASVG-System in die Anwaltschaft auch die im anderen Versorgungssystem erworbenen (und dort auch tatsächlich zu einer Leistung geführt habenden) Zeiten für die Erfüllung der Wartezeit nach § 236 ASVG zu berücksichtigen, lässt sich der genannten Entscheidung des EGMR nicht entnehmen.

Rechtssätze
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