IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Brigitte GSTREIN über die Beschwerde von XXXX , alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.06.2025, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Somalias, reiste am 21.04.2023 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 22.04.2023 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes eine Erstbefragung zu ihrem Antrag statt, bei der sie im Wesentlichen angab, ihre Familie, vor allem ihr Vater, habe sie gegen ihren Willen mit einem deutlich älteren Mann verheiraten wollen.
Die von der österreichischen Dublin-Unit gestellte Anfrage wurde von der griechischen Dublin-Unit mit Schreiben vom 07.06.2023 beantwortet und bekanntgegeben, dass der Asylantrag der Beschwerdeführerin in zweiter Instanz als unzulässig abgelehnt wurde.
Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) konkretisierte die Beschwerdeführerin bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme am 22.04.2024 ihre Fluchtgründe.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom XXXX wies das Bundesamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Der Beschwerdeführerin wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin eine individuelle Bedrohung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft machen habe können, ihr Vorbringen sei unsubstantiiert und unplausibel gewesen. Aus ihrem Vorbringen seien keine Ansätze für sonstige Verfolgungsszenarien erkennbar gewesen. Im Falle einer Rückkehr würde ihr mangels familiärer oder privater Anknüpfungspunkte als alleinstehende Frau mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Situation sowie der Sicherheitslage eine menschenunwürdige Behandlung drohen und wurde ihr aus diesem Grund der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dieser Bescheid wurde am 17.05.2024 rechtswirksam zugestellt.
Mit dem am 07.06.2024 beim Bundesamt eingebrachten Schriftsatz vom selben Tag erhob die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Rechtsvertretung gegen Spruchpunkt I. Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung und der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, die belangte Behörde habe die Situation von alleinstehenden Frauen in Somalia, welche zur Zwangsehe gezwungen werden und Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, anhand des Vorbringens der Beschwerdeführerin nicht ausreichend berücksichtigt. Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt vorgelegt und langten am 13.06.2024 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.06.2025 eine mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführerin, ihre Rechtsvertretung sowie eine Dolmetscherin für die Sprache Somalisch teilnahmen. Das Bundesamt blieb der Verhandlung fern.
Die teilaktualisierte Fassung der Länderinformationen der Staatendokumentation zu Somalia, Version 8, vom 07.08.2025, wurde den Parteien mit Schreiben vom 19.09.2025 zur Stellungnahme übermittelt, eine solche langte am 29.09.2025 ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist Staatsangehörige von Somalia. Ihre Identität steht nicht fest. Die Beschwerdeführerin bekennt sich zur Religionsgemeinschaft des sunnitischen Islam. Ihre Erstsprache ist Somalisch. Die Beschwerdeführerin hat in Somalia eine Schule besucht.
Die Beschwerdeführerin gehört dem Clan der Isaaq an.
Die Beschwerdeführerin stammt aus der Stadt XXXX (alternative Schreibweise im Akt: XXXX ) in der Region Togdheer, Somalialand. Sie lebte bis zu ihrer Ausreise aus Somalia im Familienverband mit ihren Eltern und Geschwistern, die Familie ist wirtschaftlich gut situiert. Im Fall ihrer Rückkehr würde sie Schutz durch ihre Familie, der auch männliche Familienangehörige angehören, erhalten. Im Herkunftsort besteht ein Familien- und Verwandtschaftsnetz.
Die Beschwerdeführerin ist ledig und kinderlos. In Österreich leben keine Familienangehörigen der Beschwerdeführerin.
Die Beschwerdeführerin wurde in Somalia beschnitten, sie hat deshalb Beschwerden bei der Menstruation. Die Beschwerdeführerin steht nicht in regelmäßiger ärztlicher Behandlung und benötigt keine Medikamente, sie ist gesund.
Die Beschwerdeführerin verließ Somalia im Juni 2022 und stellte am 22.04.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Sie ist in Österreich subsidiär schutzberechtigt und strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Der Beschwerdeführerin droht in Somalia keine geschlechtsspezifische Gewalt in Form einer Zwangsehe, ihr Vater möchte sie nicht zur Begleichung von Geldschulden mit einem älteren Mann verheiraten. Ihr Vater hat sie auch nicht über einige Tage in ihrem Zimmer eingesperrt und gemeinsam mit ihren Brüdern misshandelt.
Die Beschwerdeführerin gehört nicht der sozialen Gruppe alleinstehender Frauen in Somalia an, sie verfügt über ein tragfähiges familiäres und soziales Netzwerk in der Herkunftsregion.
Die Beschwerdeführerin ist im Fall ihrer hypothetischen Rückkehr nach Somalia keiner maßgeblich wahrscheinlichen Gefahr ausgesetzt, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass sie einer Zwangsheirat, als besondere Form der geschlechtsspezifischen Gewalt, ausgesetzt ist, liegt nicht vor, ebenso ist eine neuerliche Beschneidung der Beschwerdeführerin, sei es, weil sie bisher einer geringgradigeren Form der Beschneidung ausgesetzt war, im Kontext einer Geburt oder einer Defibulation, nicht wahrscheinlich.
Eine schwerwiegende Diskriminierung der Beschwerdeführerin bloß aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau ist, konnte nicht festgestellt werden.
Hinweise für das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit sind im Ermittlungsverfahren hervorgekommen.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:
Auszug aus den Länderinformationen zu Somalia vom 07.08.2025, Version 8:
„4 Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 10.1.2025). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert:
Somaliland kontrolliert die von ihm beanspruchten Kerngebiete, nicht aber alle offiziell beanspruchten Gebiete (in Sool und Sanaag), die teilweise von Clans, teilweise von Separatisten des SSC-Khatumo und in kleinen Teilen von Puntland kontrolliert werden;
In Puntland wird die Kontrolle geringer Teilgebiete von al Shabaab und vom sogenannten Islamischen Staat in Somalia beeinflusst, während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat;
In Süd-/Zentralsomalia wiederum ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 2.7.2025; vgl. PGN 19.6.2025).
Hargeysa, Berbera, Burco und Garoowe sind sichere Städte. Mit kleineren Einschränkungen gilt dies auch für Baidoa, Belet Weyne, Bossaso, Dhusamareb, Galkacyo, Jowhar und Kismayo (BMLV 2.7.2025; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).
Political Geography Now gibt die Lage mit Stand 19.6.2025 folgendermaßen wieder: [nicht abgebildet; Quelle: PGN 19.6.2025]
Critical Threats bietet einen Überblick über die spezifisch auf al Shabaab bezogene Situation für Somalia und Kenia (Karte vom Juni 2025): [nicht abgebildet; Quelle: CT/Tyson/AEI 10.6.2025]
EUAA hat Daten von ACLED ausgewertet und berichtet, dass im Zeitraum von zwei Jahren (April 2023-März 2025) in ganz Somalia 5.944 sicherheitsrelevante Zwischenfälle dokumentiert worden sind. Dabei handelte es sich bei 3.759 um Kampfhandlungen, bei 1.479 um Explosionen oder Angriffe aus der Ferne [remote Violence] und bei 706 um gezielte Gewalt gegen Zivilisten [Violence against Civilians]; insgesamt wird angemerkt, dass jeder einzelne Zwischenfall für Zivilisten ein potenzielles Risiko darstellt, auch wenn die Gewalt nicht direkt gegen Zivilisten gerichtet ist. Auf Basis dieser Daten beläuft sich im genannten Zeitraum die durchschnittliche Zahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen in ganz Somalia auf ca. 8,1 pro Tag (EUAA 5.2025).
Quellen: […]
[…]
4.2 Somaliland
Zum Konflikt um Laascaanood siehe Konflikt um Laascaanood / Khatumo-SSC
Somaliland weist im regionalen Vergleich ein erhöhtes Maß an Sicherheit, Stabilität und Demokratie auf (AA 25.4.2025; vgl. ÖB Nairobi 10.2024; HO 5.4.2025). Das Land ist ein [Zitat] 'Leuchtturm relativen Friedens am Horn von Afrika' (Cannon/Conversation 22.11.2024). Die Situation dort ist wesentlich besser als in Süd-/Zentralsomalia, die Sicherheitslage ist weitgehend stabil (ÖB Nairobi 10.2024). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt dazu, dass Somaliland viele Fortschritte gemacht hat, dass Peacebuilding, Versöhnung und Staatsaufbau zu den großen Erfolgen gehören, die das Land erzielt hat (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Bereits in den 1990er-Jahren wurde ein erfolgreicher Versöhnungsprozess abgeschlossen, der die Grundlage für die unabhängige und vergleichsweise erfolgreiche Staatsbildung geboten hat. Der Frieden in Somaliland bleibt jedoch laut einer Quelle fragil (BS 2024). Eine andere Quelle sieht in Somaliland - abseits des Konflikts um Laascaanood - ein Bollwerk gegen extremistische Bedrohungen, v. a. gegen al Shabaab (Sahan/SWT 14.2.2024). Eine andere Quelle erklärt, dass Somaliland stabil ist. Eine Fragilität ist demnach nicht zu erkennen, auch wenn politische Streitigkeiten mitunter zu Gewalt führen können (BMLV 7.8.2024). Stand Juni 2025 gab es in Somaliland keine gröberen politischen Spannungen (BMLV/STDOK 6.6.2025).
Laut einer Quelle kann die Regierung die meisten der eigenen Gebiete regieren und dort Vorhaben umsetzen (BS 2024). Nach anderen Angaben endet die Kontrolle durch Somaliland etwa in der Mitte der Region Sanaag (PGN 19.6.2025); auch eine weitere Quelle erklärt, dass Ceerigaabo in Sanaag die östlichste von Somaliland kontrollierte Stadt ist (BMLV/STDOK 6.6.2025). In der Region Sool endet die Kontrolle bei Oog; und auch das Gebiet Cayn in Togdheer (um Buuhoodle) wird demnach nicht von Somaliland kontrolliert, wiewohl sich der Großteil von Togdheer unter Kontrolle Somalilands befindet. Die Regionen Woqooyi Galbeed und auch die Region Awdal werden zur Gänze von Somaliland kontrolliert (PGN 19.6.2025). Anders ausgedrückt kontrolliert die Regierung den Westen des Landes zu 100 %; im Osten wird ihr Anspruch teilweise herausgefordert (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Die Sicherheitskräfte können außerhalb der Regionen Sool und Sanaag in einem vergleichsweise befriedeten Umfeld jedenfalls ein deutlich höheres Maß an Sicherheit im Hinblick auf terroristische Aktivitäten und allgemeine Kriminalität herstellen als in anderen Landesteilen. Dies gilt insbesondere für die Regionen Awdal und Woqooyi Galbeed mit den Städten Hargeysa und Berbera (AA 23.6.2025).
Laut Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 muss niemand aufgrund einer vorgeblich schlechten Sicherheitslage den Westen Somalilands verlassen, während im Osten des Landes Blutfehden einen Grund darstellen könnten. Die meisten Migranten verlassen das Land demnach aber auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Bei Frauen kann auch FGM oder eine bevorstehende Zwangs- oder Frühehe ein Grund sein (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Im Jahr 2025 sind in Somaliland bis inklusive Mai aufgrund von Konflikt und Unsicherheit nur wenige Menschen vertrieben worden (Vergleichszahlen in Klammer: Gesamtjahr 2024): 4.000 in Sanaag (5.000); 2.000 in Togdheer (29.000), 1.000 in Sool (1.000) und keine (keine) in der Hauptstadtregion Woqooyi Galbeed sowie in Awdal (UNHCR 2025; UNHCR 2024). Im Jahr 2023 waren es insgesamt noch 232.000 Vertriebene (UNHCR 2023). [Anm.: Nahezu alle Vertriebenen standen damals in Zusammenhang mit dem Konflikt um Laascaanood; siehe Konflikt um Laascaanood / Khatumo-SSC.]
Städte: Hinsichtlich Hargeysa gibt es keine Sicherheitsprobleme. Die Kriminalitätsrate ist relativ niedrig. Wenn es zu einem Mord kommt, dann handelt es sich üblicherweise um einen gezielten Rachemord auf der Basis eines Clankonflikts (BMLV 2.7.2025). Die Diaspora investiert in der Stadt (Economist/L. Taylor 29.8.2024). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass manche Menschen Hargeysa als deutlich sicherer erachten als Nairobi. Die Mitarbeiter der Quelle können sich in Hargeysa jedenfalls frei bewegen. Auch in Berbera ist die Sicherheitslage demnach gut, die Stadt unproblematisch (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Zwei weitere Quellen erklären, dass Hargeysa und Berbera sichere Städte bzw. ruhig sind (BMLV 2.7.2025; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Auch Burco ist ruhig (BMLV 2.7.2025), gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist diese Stadt sicher (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle ist die Sicherheit dort hingegen nicht gleich gut wie in Hargeysa (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass hinsichtlich der Städte Borama, Hargeysa, Berbera und Burco das größte Sicherheitsrisiko ein Verkehrsunfall ist (Omer/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle gibt an, dass in diesen vier Städten - und in den größeren Städten generell - Rechtsstaatlichkeit herrscht. Die Behörden gewährleisten dort demnach die Sicherheit der Bevölkerung, es gibt keine großen Probleme mit Raub oder Mord. Generell ist Kriminalität kein großes Problem im täglichen Leben (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Gemäß einer anderen Quelle stellen Jugendbanden in Hargeysa immer noch ein Problem dar, genauso wie Kleinkriminalität. Es gibt Arbeitslosigkeit und auch Drogenkonsum (SECEX/STDOK/SEM 4.2023).
Die somaliländische Polizei hat für das Jahr 2024 folgende Daten ihrer Kriminalstatistik veröffentlicht: 28.418 Delikte wurden registriert. 10.840 wurden in gegenseitigem Einverständnis gelöst, 11.876 an Gerichte weitergeleitet; 860 befinden sich noch in Untersuchung (Halqabsi 23.10.2024). Im Jahr 2022 gab es vergleichsweise 27.801 registrierte Delikte. Damals wurden 11.320 in gegenseitigem Einverständnis gelöst, 10.916 vor Gericht abgehandelt und entschieden (SD 4.11.2022). Während es im Jahr 2021 89 Morde gegeben hat und 84 Verdächtige diesbezüglich in Haft genommen worden sind (SD 4.11.2021), gab es 2022 60 Morde, und 49 Mörder wurden verhaftet (SD 4.11.2022). Im Jahr 2024 gab es wiederum 68 Morde mit 62 Verhaftungen. In diesem Jahr wurden außerdem 321 Vergewaltigungen angezeigt. Diesbezüglich wurden 270 Verdächtige verhaftet, 73 befinden sich auf der Flucht (Halqabsi 23.10.2024). Im Jahr 2022 wurden 266 Vergewaltigungen angezeigt, 240 der 280 Beschuldigten wurden gefasst (SD 4.11.2022).
Al Shabaab konnte in Somaliland nicht Fuß fassen (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. JF 18.6.2021). Die Gruppe kontrolliert dort keine Gebiete (AA 25.4.2025; vgl. BMLV 2.7.2025) und hebt auch keine "Abgaben" ein (BMLV 2.7.2025).
Mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 geben an, dass es seit 2008 keine relevanten terroristischen Angriffe gegeben hat (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAIO-G/STDOK/SEM 4.2023; INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Am 11.9.2022 ist es zu einem der äußerst seltenen Anschläge in Somaliland gekommen. Im Dorf Milxo (Sanaag, Bezirk Laasqoray) kamen fünf Menschen ums Leben, als ein Selbstmordattentäter in einem Teehaus einen Sprengsatz zündete. Niemand hat sich zu dem Anschlag bekannt, eine Täterschaft von al Shabaab wird lediglich vermutet (Weiss/FDD 12.9.2022).
Somaliland hat bemerkenswerte Kapazitäten aufgebaut. Durch die Glaubwürdigkeit der bestehenden Institutionen entstand Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung. Dies wiederum erschwert al Shabaab ihre Operationen (Schwartz/HO 12.9.2021; vgl. BMLV 2.7.2025). Neben formellen nachrichtendienstlichen Netzen gibt es ein informelles Netz an Nachbarschaftswachen (BMLV 9.2.2023). Die Regierung setzt auf Älteste, lokale Behördenvertreter und besorgte Bürger; und darauf, dass diese verdächtige Aktivitäten und Neuankömmlinge bei der Polizei oder beim Geheimdienst melden (JF 18.6.2021). Dementsprechend werden terroristische Pläne immer wieder durch Sicherheitskräfte vereitelt und Operateure der al Shabaab verhaftet (Weiss/FDD 11.8.2021; vgl. SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAIO-G/STDOK/SEM 4.2023; Halqabsi 29.1.2024).
Quellen der FFM Somalia 2023 erklären, dass man in Somaliland vor al Shabaab einigermaßen sicher ist. Auch wenn es ggf. zu Drohungen kommen kann, mangelt es der Gruppe dort an Kapazitäten und Personal, al Shabaab kann nicht agieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) bzw. wird dort nicht aktiv (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAEZA/STDOK/SEM 4.2023), stellt keine Regeln auf und errichtet keine Checkpoints (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle bestätigt dies. Demnach sind in von Somaliland kontrollierten Gebieten Verfolgungshandlungen von al Shabaab gegen Personen generell unbekannt (BMLV 2.7.2025). Es konnten in den konsultierten Quellen keine Informationen gefunden werden, wonach Deserteure von al Shabaab in Somaliland gefährdet wären.
Eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass Hargeysa von al Shabaab möglicherweise als sicherer Hafen genutzt wird (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe verfügt über eine verdeckte Präsenz in Somaliland (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab unterhält hier ein Netzwerk an Sympathisanten und Unterstützern. Unklar ist, ob dieses Netzwerk auch tatsächlich über operative Kräfte (Agenten) verfügt, die z. B. zu Anschlägen genutzt werden können (BMLV 2.7.2025). Die Grenzgebiete zu Puntland sind für eine Infiltration durch al Shabaab anfällig. Dort versucht die Gruppe, lokale Clans, die sich von der Regierung diskriminiert fühlen, für sich zu gewinnen (BMLV 7.8.2024). Dies gilt etwa für die in Sanaag vorherrschenden Warsangeli. Im nordwestlichen Puntland ist es al Shabaab teilweise gelungen. In Sanaag hingegen stellen sich lokale Milizen gegen al Shabaab (Weiss/FDD 12.9.2022). Nach anderen Angaben konnte al Shabaab in den letzten Jahren fast unmerklich in Somaliland - und insbesondere in der Region Sanaag - vordringen (ICG 10.11.2022). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 durchqueren Angehörige der Gruppe manchmal den Bezirk Ceerigaabo "in peaceful transit" - in Konvois, mit weißen Fahnen. Die lokalen Gemeinden akzeptieren al Shabaab, es kommt auch zu Eheschließungen (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Insgesamt verhält sich die Gruppe aufgrund der ihr sowohl durch den sogenannten Islamischen Staat als auch durch puntländische Operationen zugesetzten erheblichen Verluste und der Tatsache, dass sie kaum neu rekrutieren kann, derzeit relativ ruhig (STDOK/BMLV 10.4.2025). Allerdings versucht al Shabaab, den SSC-Khatumo zu unterwandern (BMLV 2.7.2025). Zu al Shabaab im Rahmen des Konflikts mit den Dhulbahante siehe Sicherheitslage / Khatumo-SSC, Dhulbahante.
Clans: Die Region Awdal wird von den Dir-Subclans Gadabursi und Issa bewohnt, wobei die Gadabursi die Mehrheit stellen. In der Hauptstadtregion Woqooyi Galbeed dominieren Subclans der Isaaq, namentlich die Habr Awal, Habr Yunis und Idagalle. In Hargeysa gibt es verschiedene Clans und Subclans, darunter Minderheitengruppen sowie die Habr Awal, Habr Yunis, Habr Jeclo und Idagalle. Die Region Togdheer wird hauptsächlich von den Isaaq-Subclans Habr Yunis und Habr Jeclo bewohnt. Zudem leben Isaaq / Idagalle in der Region westlich von Burco (EUAA 5.2025).
Clankonflikte bestehen wie überall in Somalia auch in Somaliland, und es kann zu Auseinandersetzungen und Racheakten kommen, die zivile Opfer fordern. Clankonflikte stellen aber kein Sicherheitsproblem dar, das die politische Stabilität der Region gefährdet (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. BMLV 7.8.2024). Den Behörden ist es gelungen, mittels einer effektiven Integration informeller Clanstrukturen in formale Kontexte einen vergleichsweise wirksamen Schutz gegen gewaltsame Ausschreitungen - etwa durch Milizen oder kriminelle Banden - zu gewährleisten (AA 25.4.2025).
Clankonflikte treten i.d.R. lokal auf - v. a. in entlegenen Gebieten (HO 5.4.2025) - und hier in erster Linie in den Regionen Sanaag und Sool (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HO 5.4.2025; Omer/STDOK/SEM 4.2023; SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023; INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). So bekämpfen sich beispielsweise die Isaaq-Clans der Habr Jeclo und Habr Yunis immer wieder in Ceel Afweyn (Sanaag) (Omer/STDOK/SEM 4.2023). In Sanaag kam es auch im März 2025 zu Kämpfen um Weiderechte, es gab zwölf Todesopfer (SLST 10.3.2025). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 können zwar Männer aus Ostsomaliland von anhaltenden Blutfehden betroffen sein; in Westsomaliland ist die Situation demnach aber anders (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
Üblicherweise werden Landstreitigkeiten auf traditionellem Wege geklärt - durch Älteste (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung greift auch in Clankonflikte ein, etwa im Bereich Balli Samatar (Togdheer), wo die Polizei gemeinsam mit Ältesten aufgrund gewalttätiger Auseinandersetzungen interveniert hat (SOCOM 24.9.2023). Sie kann auch vermitteln, etwa im März 2025 gemeinsam mit dem Suldan der Warsangeli in Sanaag (SLST 10.3.2025) oder durch den Vizepräsidenten zwischen den Habr Yunis und den Habr Jeclo im Mai 2025 in Ostsomaliland (ICG 5.2025). Bei einem anderen Beispiel, bei welchem im Umfeld von Burco fünf Menschen getötet und sechs verletzt worden sind, kam es zu einer Versöhnungskonferenz. Diese wurde von mehreren Ministern Somalilands geleitet (SLST 21.6.2023). I.d.R. folgt im Fall von Clankonflikten ein Aufruf der Regierung an die betroffenen Ältesten, eine Konfliktlösung herbeizuführen. Bei einer weiteren Eskalation schreiten Sicherheitskräfte ein, und die Regierung versucht, das Problem eigenständig zu lösen. Dieser Ansatz ist nicht immer erfolgreich (STDOK 8.2017). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 greift die Regierung in Konflikte hingegen nur dann ein, wenn sie selbst Interesse am Streitgegenstand hat (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle greift die Regierung erst nach einer Eskalation über die lokale Ebene hinweg ein. Ansonsten setzt sie auf eine Regelung von Konflikten durch Älteste (BMLV 7.8.2024). Als Normalbürger betroffen ist man durch Clankonflikte v. a. hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, weil man die Konfliktgebiete nicht bereisen kann. Grundsätzlich sind nur die involvierten Clans betroffen (Omer/STDOK/SEM 4.2023).
In der Region Awdal gibt es (wieder) Separatisten der Gadabursi, die entsprechenden Bestrebungen werden aber v. a. von der Diaspora betrieben (STDOK/BMLV 10.4.2025). Auch wenn sich die Gadabursi zum Teil von der Regierung in Hargeysa benachteiligt fühlen, gibt es für diese Diaspora-Separatisten vor Ort nur wenig Begeisterung (BMLV/STDOK 6.6.2025; vgl. AQ21 11.2023; Omer/STDOK/SEM 4.2023). Generell sind die Gadabursi seit Langem in das politische System Somalilands erfolgreich integriert (AQ21 11.2023). Älteste des Clans haben dem neuen somaliländischen Präsidenten ihre Unterstützung zugesagt (HT 21.2.2025). Nach anderen Angaben findet sich das sogenannte Awdal State Movement (ASM), eine kleine Gruppe von Gadabursi, auf beiden Seiten der Grenze zwischen Somaliland und Dschibuti. Die politischen Bündnisse der ASM schwanken demnach (Sahan/SWT 17.7.2024).
Östliches Grenzgebiet [siehe dazu auch Unterkapitel Sool und Sanaag / Khatumo-SSC / Dhulbahante, Warsangeli]: Die Zugehörigkeit der östlichen Teile der Regionen Sool und Sanaag sowie des Bezirks Buuhoodle (Togdheer) sind umstritten (BS 2024). Laut puntländischer Verfassung ist die gesamte Region Sool Teil Puntlands. Dies gilt auch für Sanaag (ohne den Bezirk Ceel Afweyn und den nordöstlichen Teil des Bezirks Ceerigaabo) sowie den Bezirk Buuhoodle in Togdheer (MBZ 6.2023). Als dritte Streitpartei ist der SSC-Khatumo hinzugekommen; dieser beansprucht Gebiete, die eigentlich schon zwischen Somaliland und Puntland umstritten sind (BMLV 2.7.2025).
Vorfallszahlen: In den somaliländischen Regionen Awdal (571.230), Sanaag (325.136), Sool (478.265), Togdheer (780.092) und Woqooyi Galbeed (1.313.146) leben nach Angaben einer Quelle 3,467.869 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2023 insgesamt 14 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "Violence against Civilians"). Bei elf dieser 14 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2024 waren es 21 derartige Vorfälle (17 davon mit je einem Toten) (ACLED 10.1.2025). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und Violence against Civilians ergeben sich für 2024 folgende Zahlen (Vorfälle von "Violence against Civilians" je 100.000 Einwohner): Awdal 0,00; Sanaag 3,38; Sool 1,05; Togdheer 0,51; Woqooyi Galbeed 0,08; [Anm.: Die Zahlen könnten noch um einiges niedriger sein, da manche Quellen für Somaliland eine viel höhere Bevölkerungszahl nennen. So geht BBC von 5,7 (BBC 2.1.2024) und al Jazeera oder der Economist von 6 Millionen Einwohnern aus (AJ 19.11.2024; vgl. Economist/L. Taylor 29.8.2024).]
In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2024 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie Violence against Civilians, in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt. [nicht abgebildet; Quelle: ACLED 10.1.2025 (und Vorgängerversionen)]
Quellen: […]
[…]
5 Rechtsschutz, Justizwesen
[…]
5.3 Somaliland
Grundsätzlich ist in der Verfassung der Islam als Staatsreligion festgeschrieben, alle Gesetze müssen mit den Prinzipien der Scharia übereinstimmen (USDOS 30.6.2024).
Rechtsstaatlichkeit: In den städtischen Gebieten herrscht ein Grundmaß an Rechtsstaatlichkeit, Polizei, Justiz und andere Institutionen funktionieren einigermaßen gut (BS 2024; vgl. INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Obwohl Somaliland in seinem Justizsystem mit Korruption, Voreingenommenheit und einem Mangel an Ressourcen konfrontiert ist, gilt es durchweg als effektiver als die Gerichte im Rest des Landes (Rollins/HIR 27.3.2023). Es besteht ein einigermaßen funktionierendes Behördennetz (ÖB Nairobi 10.2024). In entlegenen Gebieten vertreten lokale Behörden (meist Älteste) die Rechtsordnung. Dort sind Frauen- und Minderheitenrechte häufig nur unzureichend geschützt (BS 2024). Zudem mangelt es teils an der Durchsetzung von Gerichtsurteilen durch die Polizei (SDG 1.2.2019). In den Grenzregionen zu Puntland ist das staatliche Gewaltmonopol umstritten (BS 2024).
Im Strafrecht sind rechtsstaatliche Grundsätze ansatzweise zu beobachten. Dazu gehört das Bemühen, eine diskriminierende Strafverfolgung und Strafzumessung möglichst zu vermeiden (AA 23.8.2024). Vor somaliländischen Gerichten gilt generell die Unschuldsvermutung, das Recht auf ein öffentliches Verfahren und das Recht auf eine Rechtsvertretung. Verteidiger dürfen Zeugen befragen und einberufen sowie gegen Urteile Berufung einlegen. Für Angeklagte, die einer schweren Straftat bezichtigt werden, gibt es eine kostenlose Rechtsvertretung (USDOS 12.4.2022). Außerdem gibt es im Land eine funktionierende Legal Aid Clinic (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023; vgl. USDOS 12.4.2022). Diese ist an der Universität von Hargeysa angesiedelt und wird u. a. von der EU unterstützt. Menschen, die es sich sonst nicht leisten können, erhalten dort Rechtsberatung und Rechtsvertretung, z. B. Migranten oder Obdachlose. Das Projekt beschäftigt 16 Personen, die meisten davon Anwälte (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023; vgl. LAW-A/STDOK/SEM 4.2023).
Insgesamt werden die Verfahrensrechte in Somaliland eher eingehalten als in anderen Landesteilen (AA 23.8.2024). Allerdings kommt es oft zu langen Verzögerungen (FH 2024a; vgl. BS 2024). Das unabhängige Human Rights Centre berichtet außerdem von gröberen Mängeln. Verhaftungen erfolgen demnach oft ohne Haftbefehl. Angeklagte werden mitunter ohne Aussicht auf Kaution überlang und rechtswidrig in Untersuchungshaft gehalten, der Zugang zur Anklageschrift verweigert (HRCSL 3.2024).
Es gibt polizeiliche Kriminalstatistiken (SD 4.11.2021; SD 4.11.2022). Details siehe Sicherheitslage Somaliland
Gewaltenteilung: In Somaliland gibt es eine klarere Trennung der Staatsgewalten (BS 2024). Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung niedergeschrieben. Diese Gewaltenteilung wird auch weitgehend eingehalten, jedoch zunehmend ausgehöhlt (AA 23.8.2024). Die Exekutive versucht, sowohl die Legislative als auch die Judikative substanziell zu beeinflussen (BS 2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024).
Formelle Justiz - Aufbau, Verfügbarkeit, Qualität: In Somaliland wurde ein unabhängiges und auf vier Ebenen hierarchisch strukturiertes Gerichtssystem aufgebaut. Dieses besteht aus dem Supreme Court, regionalen Berufungsgerichten, Regional- und Bezirksgerichten. Die rechtliche Infrastruktur und das Gerichtssystem decken fast alle urbanen Zentren ab (BS 2024). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind die Bezirksgerichte (Maxkamadda Degmada) für Familien- und Erbrecht sowie für Zivilfälle unter drei Millionen Somaliland Shilling [ca. 330 US-Dollar] sowie für Strafrecht unter drei Jahren Haft zuständig. Alle Fälle, die über diesen Grenzen liegen, gehen an das Regionalgericht. In jeder Region gibt es ein regionales Berufungsgericht, das alle Berufungsfälle der ersten Instanz bearbeitet (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023).
Gerichte funktionieren, allerdings fehlt es an ausgebildeten Richtern sowie an einer nachvollziehbaren Rechtsdokumentation (USDOS 22.4.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024; SDG 1.2.2019). Nach anderen Angaben wird die Gerichtsbarkeit regelmäßig als nicht ordentlich funktionierend kritisiert (BS 2024), Richtern und anderem Personal mangelt es demnach an Kapazitäten und Qualifikation, dem System an finanziellen Ressourcen (BS 2024; vgl. FH 2024a; LAW-A/STDOK/SEM 4.2023). UNODC und andere UN-Agenturen unterstützen Verbesserungen im Justizsystem und bei Haftbedingungen (ÖB Nairobi 10.2024). Internationale Hilfe ist auch in Gerichte investiert worden. Dadurch hat sich die Zahl an Richtern und Richterinnen im Zeitraum 2011-2018 auf 186 mehr als verdoppelt. Es gibt auch immer mehr adäquat ausgebildete Anwälte, NGOs bieten Rechtshilfe an. In jeder Region gibt es sogenannte Mobile Courts (SDG 1.2.2019). Letztere wurden mit internationaler Hilfe 2008 etabliert (ÖB Nairobi 10.2024). Mit diesen wurde der Zugang zur formellen Justiz verbessert (BS 2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Bei der Reformierung des Justizsystems hat es zumindest einige Fortschritte gegeben (FH 2024a).
Formelle Justiz - Unabhängigkeit: Der Justiz mangelt es an Unabhängigkeit (BS 2024; vgl. FH 2024a; ÖB Nairobi 10.2024). Es kommt zu Einmischungen durch die Regierung (ÖB Nairobi 10.2024) und durch Clans (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. BS 2024). - So werden Richter oft auf Basis ihrer politischen oder Clanzugehörigkeit ernannt (BS 2024). Zudem bestehen Vorwürfe hinsichtlich Korruption im Justizsystem. Amtsträger nehmen häufig Einfluss auf Verfahren - v. a. gegen Journalisten (USDOS 22.4.2024). Das UNDP hat einige Probleme aufgezeigt. Verhaltensregeln und Fortbildung haben zu Verbesserungen geführt (LIFOS 9.4.2019).
Militärgerichte: Wie in Süd-/Zentralsomalia gibt es auch in Somaliland Militärgerichte, deren Verfahren unzureichend sind, und wo grundlegende Standards eines fairen zivilrechtlichen Strafverfahrens ignoriert werden (AA 23.8.2024). Dort wird entgegen der Verfassung auch über angeklagte Zivilisten verhandelt - v. a. wenn die Anklage in Zusammenhang mit Terrorismus steht (HRCSL 3.2024; vgl. AA 23.8.2024).
Scharia und Xeer: Neben dem formellen Recht kommen in Somaliland auch traditionelles Recht (Xeer) und die Scharia zum Einsatz (BS 2024; vgl. FH 2024a). Die drei Rechtsformen widersprechen sich manchmal gegenseitig (SDG 1.2.2019). Islamische Gerichte werden in erster Linie in Familienangelegenheiten herangezogen, sie werden aber aufgrund der schnellen Entscheidungen auch bei Wirtschaftstreibenden zunehmend populär. Eine Quelle erklärt, dass formelles Recht hinsichtlich Xeer als nachrangig erachtet wird. Zudem wirken sich religiöse Normen auf Xeer aus (BS 2024). Jedenfalls fühlen sich die Menschen laut einem lokalen Anwalt im informellen System, das nach dem traditionellen Gesetz Xeer geführt und von den Ältesten verwaltet wird, wohler. Dabei werden Älteste zu Richtern (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023).
In den meisten Fällen zwischen einzelnen Bürgern, zwischen den Clans, wird dieses System verwendet (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023). I.d.R. richtet sich der Bürger zuerst an seinen Clan. Selbst bei einem Mord wird vorerst im traditionellen Rechtssystem Blutgeld verhandelt; kommt es dort zu keiner Lösung, wendet man sich an Gerichte (STDOK 8.2017). Nach anderen Angaben wenden sie sich - wenn beide Seiten zustimmen - an ein Scharia-Gericht. Der Richter dort fungiert als Vermittler, es gibt keine verbindliche Entscheidung. Erst wenn beide diese traditionellen Instanzen einen Streit nicht lösen, werden sich Menschen an die formelle Justiz. Mitunter werden kleinere Straf- und Zivilsachen aber auch direkt auf der Polizeistation geschlichtet und abgeschlossen - auch hier durch Älteste und bei Einverständnis der beteiligten Parteien. Dabei rufen die Parteien die Ältesten herbei, nicht die Polizei (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023).
Traditionelle Konfliktlösungsmechanismen sind auch als Maslaxa bekannt (UNSOM 22.6.2022). Zur traditionellen Streitschlichtung entsenden beide Seiten zwei bis drei Repräsentanten. Auch ein formelles Gericht kann dorthin Repräsentanten entsenden (im Sinne einer Mediation) (LAW-A/STDOK/SEM 4.2023). Somaliland hat nämlich das Xeer und die damit verbundenen Kompensationszahlungen in sein Rechtssystem insofern integriert, um eine Eskalation bis hin zum Rachemord zu vermeiden. Clans beschließen weiterhin Xeer-Abkommen, der Staat übernimmt aber die Rolle der Bestrafung bei Nichteinhaltung der Vertragsbedingungen. Zum Beispiel werden Täter so lange eingesperrt, bis die Kompensationszahlung erfolgt ist. Bei zu lang andauernder Nichtzahlung kann es auch zur Vollstreckung von Exekutionen kommen (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Gerichte anerkennen Xeer-Entscheide (SEM 31.5.2017). In der - nach wie vor angewendeten - Strafprozessordnung aus dem Jahr 1960 wird klargestellt, welche Straftaten von der formellen Justiz behandelt werden müssen (z. B. Diebstahl) und welche der Vermittlung durch Älteste zugänglich sind (Mire/STDOK/SEM 4.2023). Damit ist es auch möglich, sich selbst bei schweren Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) und nach einer Verurteilung durch ein staatliches Gericht im Rahmen des traditionellen Rechts freizukaufen bzw. die Strafe durch Kompensation zu tilgen (FTL 8.9.2022). Eine Einigung durch Clan-Älteste kann zu Verfahrenseinstellungen und einer Strafverschonung führen. So wurde ein wegen Mordes zum Tode Verurteilter 2023 freigelassen, nachdem sich die beteiligten Clan-Ältesten auf eine Kompensation geeinigt hatten (AA 23.8.2024). Für all diese Vorgänge unter Involvierung Ältester liegt eine staatliche, vom Innenministerium geführte Liste der traditionellen Ältesten auf. Zudem verfügt jeder Gouverneur über eine separate Liste der Ältesten seiner Region. Verfügt eine Partei über keinen Clan und damit keinen Ältesten, dann beteiligt sich der Staat als Vermittler: Entweder die Generalstaatsanwaltschaft oder das Büro des Solicitor General wird diese Person bei der Mediation vertreten (Mire/STDOK/SEM 4.2023).
Zum Xeer siehe auch Rechtsschutz, Justizwesen - Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Nicht von der Regierung kontrollierte Gebiete: Dort werden Urteile häufig nach traditionellem Recht von Clanältesten gesprochen. Bei Sachverhalten, die mehrere Clans betreffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden ("Sippenhaft") spielen dabei eine wichtige Rolle (AA 23.8.2024).
Quellen: […]
6 Sicherheitsbehörden
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6.2 Somaliland
Staatlicher Schutz: In Somaliland stellt sich der staatliche Schutz besser dar als in Süd-/Zentralsomalia. Das Land verfügt über eine eigene Armee und über eigene Polizeikräfte (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Die Sicherheitsorgane haben eine besonders starke Stellung. Die zivile Kontrolle ist zwar lückenhaft, aber stärker als im Rest des Landes (AA 23.8.2024). Insgesamt arbeiten die Polizei und andere Regierungsinstitutionen ausreichend gut (BS 2024) bzw. werden Polizei und Armee als fähig beschrieben - abseits der Niederlage um Laascaanood (BMLV 7.8.2024). Im Gegensatz zu anderen Landesteilen ist Somaliland bis dato immer in der Lage gewesen, die eigenen Sicherheitskräfte auch zu entlohnen. Im Sicherheitsbereich herrscht vergleichsweise wenig Korruption, Täter werden hart bestraft (BMLV 4.7.2024).
Polizei: Die Stärke der somaliländischen Polizei beträgt ca. 10.000 Personen (BMLV 9.2.2023). 7,5 % des Staatsbudgets werden für die Polizei aufgewendet - das sind ca. 21 Millionen US-Dollar (MoFDSL o.D.a). In Hargeysa sowie entlang der Straße nach Berbera konnte die Delegation der FFM Somalia 2023 immer wieder Polizeistationen sehen (STDOK/SEM 5.2023b). Bei der Polizei gibt es auch Frauen im Offiziersrang (Sahan/Hargeisa Press 29.3.2021). Die Menschen nehmen die Dienste der Polizei in Anspruch, man kann sich bei Vergehen an die Polizei wenden. Sie verhaftet Verdächtige. In diesem Sinne gibt es auch eine Form von Rechtsstaatlichkeit (BMLV 7.8.2024). Drei Quellen der FFM Somalia 2023 erklären, dass die Polizei üblicherweise mit Untersuchungen auf Anzeigen reagiert (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023; vgl. Scholar/STDOK/SEM 5.2023; SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle fügt hinzu, dass die Polizei aber insgesamt an eingeschränkten Kapazitäten, schlechten Gehältern und manchmal auch an Treibstoffmangel leidet (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Zudem kann sich auch die Polizei der Clandynamik nicht entziehen. Im östlichen Somaliland ist die Polizei nicht mehr vertreten (BMLV 7.8.2024).
Laut somaliländischer Polizei kann jedermann Schadensfälle bei der nächstgelegenen Polizeistelle melden. Diese werden in ein Vorfallsbuch eingetragen. Ein Ermittler wird beauftragt, die konkrete Anzeige weiterzuverfolgen. Zudem gibt es eine Polizei-Hotline. In Hargeysa gibt es für solche Zwecke eine Bereitschaftseinheit. Hotlines gibt es in allen größeren Städten wie Borama, Berbera, Burco und Ceerigaabo. Die Menschen kennen die entsprechenden Nummern. In Hargeysa gibt es demnach 13 Polizeistationen und zusätzliche Posten, an welche sich Menschen wenden können. Zudem verfügt jeder Bezirk in Somaliland über mindestens eine Polizeistation sowie über eine Ermittlungseinheit, in jeder Region gibt es eine Station der Kriminalpolizei (Mire/STDOK/SEM 4.2023).
Spezialeinheiten der Polizei sind die von Großbritannien finanzierte und ausgebildete Rapid Reaction Unit (RRU) (Norman/AFRA 3.3.2023; vgl. BMLV 7.8.2024) sowie die Special Police Unit (SPU), die für den Schutz internationaler Organisationen und NGOs zuständig ist. Daneben gibt es die National Coast Guard (BMLV 7.8.2024) und die National Intelligence Agency als Nachrichtendienst (BMLV 7.8.2024; vgl. SMN 5.12.2023). Nach anderen Angaben ist die Einrichtung einer nachrichtendienstlich arbeitenden Innenbehörde rechtlich nicht geregelt, wiewohl es eine Einheit mit vergleichbaren Aufgaben gibt (AA 23.8.2024).
Armee: Für den Verteidigungsbereich wendet Somaliland rund 18,5 % des Staatshaushaltes auf - das sind ca. 54 Millionen US-Dollar (MoFDSL o.D.a). Die Streitkräfte umfassen schätzungsweise 15.000 Soldaten. Die somaliländische Armee wird von einem zentralen Kommando in Hargeysa geführt. Sie verfügt über Regionalkommanden und ist nach westlichem Vorbild in Groß- und Kleinverbänden organisiert. Die Mannschaften der Armee sind relativ diszipliniert, Vergehen werden i.d.R. verfolgt und bestraft (BMLV 7.8.2024). Teile der Spezialeinheiten der Armee wurden und werden von Äthiopien ausgebildet (SLST 29.9.2022); eine rezente Quelle berichtet, dass auch normale Soldaten - 4.000 Mann - in Äthiopien ausgebildet werden (AQSOM 3 8.2024).
Quellen: […]
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18 Minderheiten und Clans
Das westliche Verständnis der Zivilgesellschaft ist im somalischen Kontext irreführend, da kaum zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterschieden wird. In ganz Somalia gibt es starke Traditionen sozialer Organisation außerhalb des Staates, die vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Verwandtschaftsgruppen fußen. Seit Beginn des Bürgerkriegs haben sich die sozialen Netzwerkstrukturen neu organisiert und gestärkt, um das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern (BS 2024).
Clans [zu Clanschutz siehe auch Rechtsschutz, Justizwesen]: Der Clan ist die relevanteste soziopolitische und ökonomische Einheit in Somalia. Für den Somali stellt er die wichtigste Identität dar, für die es zu streiten und zu sterben gilt (NLM/Barnett 7.8.2023). Clans kämpfen für das einzelne Mitglied. Gleichzeitig werden alle Männer im Clan als Krieger erachtet (AQSOM 4 6.2024). Der Clan bildet aber eine volatile, vielschichtige Identität mit ständig wechselnden Allianzen (NLM/Barnett 7.8.2023). Er bestimmt das Leben des Individuums, seinen Zugang zu Sicherheit und Schutz, Ressourcen (z. B. Arbeit, Geschäfte, Land) und bildet das ultimative Sicherheitsnetz (AQSOM 4 6.2024; vgl. SPC 9.2.2022). Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessensvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des traditionellen Rechts (Xeer). Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler (Sahan/SWT 26.10.2022).
Clanwissen: Laut Experten gibt es bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, S. 2f/37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri/TEL 3.5.2021). Auch junge Menschen im urbanen Umfeld kennen ihren Clan, allerdings fehlen ihnen manchmal die Details - etwa zu Clanältesten. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 betrifft dies tendenziell eher junge Frauen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
Diskriminierung im Clanwesen: Diskriminierung steht in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke besitzen (AA 23.8.2024). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2024). Selbst relativ starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan/SWT 30.9.2022). Gleichzeitig mag auf einer Ebene innerhalb eines Clans oberflächlich betrachtet Einheit herrschen, doch wenn man näher heranzoomt, treten Konflikte zwischen den unteren Clanebenen zutage (NLM/Barnett 7.8.2023).
Ohnehin marginalisierte Gruppen werden diskriminiert und stoßen auf Schwierigkeiten, ihr Recht auf Teilhabe an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Prozessen wahrzunehmen (UNSOM 5.8.2023; vgl. BS 2024). Die Marginalisierung führt zu einer ungerechten und diskriminierenden Verteilung der Ressourcen (UNSOM 5.8.2023) - etwa beim Zugang zu humanitärer Hilfe (AA 23.8.2024). Menschen, die keinem der großen Clans angehören, sehen sich in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021b, S. 56); und auch von Politik und Wirtschaft werden sie mitunter ausgeschlossen. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2024). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UN OCHA 14.3.2022).
Recht [siehe hierzu auch Rechtsschutz, Justizwesen]: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Weder Xeer (SEM 31.5.2017, S. 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, S. 42; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020b, S. 21). Es kommt mitunter zu staatlicher Diskriminierung. So wurde beispielsweise in Mogadischu ein Strafprozess, bei welchem Rahanweyn und Bantu als Kläger gegen einen Polizeioffizier, der von einem großen Clan stammt, aufgetreten waren, vom Gericht ohne Weiteres eingestellt (Horn 6.5.2024).
Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, S. 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen (Gashanbuur) einem anderen Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen (AQSOM 4 6.2024; vgl. DI 6.2019, S. 11). Diese Resilienzmaßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, S. 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das System des Xeer eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, S. 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, S. 14).
Netzwerke abseits von Clans: Die Mitgliedschaft in islamischen Organisationen und Verbänden gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie bietet eine Möglichkeit zur sozialen Organisation über Clangrenzen hinweg. Mit einer Mitgliedschaft kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden. Zumindest in bestimmten Teilen Somalias entsteht auch eine Form von Sozialkapital unter Mitgliedern der jüngeren Generation, die biografische Erfahrungen und Interessen (Bildung oder Beruf) teilen und manchmal in Jugendorganisationen organisiert sind oder sich in informellen Diskussionsgruppen und online treffen (BS 2024).
Quellen: […]
18.1 Bevölkerungsstruktur
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021a). Die Landesbevölkerung ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings ist der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung demnach unklar (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine gemeinsame ethnische Herkunft (USDOS 22.4.2024). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UN OCHA 14.3.2022). Die UN gehen davon aus, dass ca. 30 % aller Somali Angehörige von Minderheiten sind (MBZ 6.2023). Abseits davon trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2024). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (Landinfo 4.4.2016).
Große Clanfamilien: Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:
Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
Hawiye leben v. a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet (SEM 31.5.2017). Sie selbst erachten sich nicht als Teil der Dir (AQSOM 4 6.2024).
Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017).
Territorien: Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017).
Minderheiten: Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017).
Quellen: […]
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18.3 Somaliland
[Zum Konflikt mit Teilen der Dhulbahante und dessen Auswirkungen auf Dhulbahante in Somaliland siehe Sicherheitslage / Somaliland / Ethnische Spannungen bzw. Diskriminierung aufgrund des Konflikts um Laascaanood]
Wie in den restlichen Landesteilen bekennt sich die Verfassung zum Gebot der Nichtdiskriminierung (AA 23.8.2024). In Somaliland sind Mitbestimmung und Schutz von Minderheiten vergleichsweise gut ausgeprägt (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018). Nach anderen Angaben besteht offiziell kein Minderheitenschutz (ÖB Nairobi 10.2024). Jedenfalls sind die Clanältesten der Minderheiten gleich wie jene der Mehrheitsclans offiziell anerkannt (SEM 31.5.2017). Große Clans dominieren Politik und Verwaltung, wodurch kleinere Gruppen marginalisiert, gesellschaftlich manchmal diskriminiert werden. Ihr Zugang zu öffentlichen Leistungen ist schlechter (FH 2023; vgl. HRCSL 3.2024). Generell spielt die Clanzugehörigkeit eine große Rolle (AA 23.8.2024).
Hauptclans in Somaliland: In der Region Awdal wohnen v. a. Angehörige der Dir / Gadabursi und Dir / Issa. In den Regionen Woqooyi Galbeed und Togdheer wohnen v. a. Angehörige der Isaaq-Subclans Habr Jeclo, Habr Yunis, Idagala und Habr Awal. In der Region Sool wohnen v. a. Angehörige der Darod / Dulbahante (Taleex, Xudun, Laascaanood), Isaaq / Habr Yunis (Xudun, Laascaanood) und Isaaq / Habr Jeclo (Caynabo). In der Region Sanaag wohnen v. a. Angehörige der Darod / Warsangeli (Las Qooray, Ceerigaabo), Isaaq / Habr Yunis (Ceerigaabo) und Isaaq / Habr Jeclo (Ceel Afweyn) (EASO 2.2016). Die einzelnen Clans der Minderheiten der Berufskasten in Somaliland werden unter dem Begriff "Gabooye" zusammengefasst (Muse Dheriyo, Tumal, Madhiban, Yibir) (UNHRC 28.10.2015; vgl. SEM 31.5.2017). Zusätzlich gibt es noch alteingesessene Familien mit arabischem Hintergrund (HRCSL 3.2024).
Minderheiten: Einige Älteste (Suldaan) der Gabooye sind im Oberhaus (Guurti) des Parlaments vertreten (SEM 31.5.2017). Bei den Wahlen im Mai 2021 wurden Minderheitenangehörige ins somaliländische Unterhaus gewählt (EEAS 8.6.2021) - darunter ein Abgeordneter der Gabooye (ICG 12.8.2021).
Eine systematische Verfolgung findet nicht statt (ÖB Nairobi 10.2024). Angehörige der Gabooye leiden allerdings unter sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung und werden am Arbeitsmarkt diskriminiert (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HRCSL 3.2024). Im Justizsystem treffen Minderheitenangehörige auf Vorurteile (FH 2024a) und Benachteiligung (HRCSL 3.2024). Es kann vorkommen, dass Vergehen gegenüber Angehörigen von Minderheiten seitens der Polizei nicht nachgegangen wird. Sie werden von den somaliländischen Gerichten in den letzten Jahren aber mehrheitlich fair behandelt, es kommt zu keiner systematischen Benachteiligung durch Polizei und Gerichte. Die offizielle Anerkennung von Gabooye-Suldaans hat zu einer Aufwertung der berufsständischen Gruppen geführt. Ihr gesellschaftlicher Ruf hat sich dadurch generell verbessert. Damit geht auch soziale Sicherheit einher. Im Xeer (traditionelles Recht) haben Gabooye zwar ihre Rechte (SEM 31.5.2017), es kann aber vorkommen, dass Mehrheitsclans aufgrund ihrer Machtstellung Kompensationszahlungen nicht tätigen (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018).
In Ceerigaabo leben alle Gabooye (ca. 500 Haushalte) außerhalb des Stadtzentrums. Der Besuch einer Grundschule ist in Sanaag möglich; doch hinsichtlich höherer Bildung stehen Gabooye oft vor finanziellen Hindernissen. In der Verwaltung der Region arbeitet nur ein Gabooye; zwei arbeiten bei Lokalräten (UNSOM 22.6.2022). Insgesamt hat sich die Situation laut zwei Quellen der FFM Somalia 2023 aber gebessert (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023; vgl. SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Während sich in den frühen 1990ern kaum Gabooye in den Schulen fanden, und die wenigen, die dies taten, dort belästigt wurden, hat sich dies geändert. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 gibt es kein Mobbing mehr, wenn auch weiterhin Vorurteile bestehen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Nach anderen Angaben sind die Gabooye weiterhin nicht gleichgestellt, sie verfügen nur über geringe Ressourcen und sind weniger gebildet und werden als "low status" erachtet (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023).
Es gibt einige NGOs, die sich explizit für Minderheiten einsetzen. Hinsichtlich berufsständischer Gruppen sind dies u. a.: Daami Youth Development Organization (DYDO), Somaliland National Youth Organization (SONYO Umbrella), Ubax Social and Welfare Organization (USWO), Voices of Somaliland Minority Women Organization (VOSOMWO) (SEM 31.5.2017).
Mischehen: Vorbehalte gegen Mischehen bestehen weiterhin (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023), diese werden stigmatisiert (FH 2024a), von den Clans Isaaq und Darod vehement abgelehnt, vom Clan der Dir eher akzeptiert (SEM 31.5.2017). Gleichzeitig kommen Mischehen im clanmäßig homogeneren Norden tendenziell seltener vor als im stärker durchmischten Süden (ÖB Nairobi 10.2024. Die Konsequenz einer Mischehe ist oftmals die Verstoßung des Eheteils, der von einem "noblen" Clan stammt durch ebendiesen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
[Zu Clanauseinandersetzungen siehe Sicherheitslage / Somaliland]
Blutrache: Davon können laut einer Quelle selbst Personen betroffen sein, die nach Jahren in der Diaspora nach Hause zurückkehren. Während Sicherheitskräfte in größere Clankonflikte eingreifen, tun sie dies bei Blutfehden nur selten bzw. ist ein Eingreifen nicht immer möglich. Gleichzeitig sind Polizisten selbst Angehörige eines Clans, was die Sache erschwert (STDOK 8.2017). Nach neueren Angaben der FFM Somalia 2023 können Rachemorde im Fall eines Mordes vorkommen (z. B. wenn der eigene Bruder einen Angehörigen eines anderen Clans getötet hat). Meist gibt es für solche Fälle Abkommen zwischen Subclans im Rahmen des Xeer. Dort ist festgelegt, ob ein Mord durch einen Mord gebüßt wird oder durch eine Zahlung. Ein normaler Bürger in Hargeysa muss sich laut einer Quelle diesbezüglich keine Sorgen machen. In größeren Städten sind im Fall eines Mordes Sicherheitskräfte eingebunden, Täter werden verhaftet. In den östlichen Landesteilen - insbesondere in Sanaag und Sool - wird die Polizei hingegen selten involviert, dort herrscht das traditionelle System vor (Omer/STDOK/SEM 4.2023).
Quellen: […]
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19 Relevante Bevölkerungsgruppen
19.1 Frauen - allgemein
Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden (USDOS 22.4.2024). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. In der Scharia gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland (AA 23.8.2024).
Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer (traditionelles Recht) haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten (SPC 9.2.2022; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist (AA 23.8.2024). Auch Vergewaltigungsfälle werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt (ÖB Nairobi 11.1.2024; vgl. AQ21 11.2023; SPC 9.2.2022). Diesbezüglich geschaffene Gesetze haben zwar Signalwirkung, diese wendet sich aber insbesondere nach Außen (ÖB Nairobi 11.1.2024). Viele Fälle werden auch gar nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt (SPC 9.2.2022). Im traditionellen System werden Vergewaltigungen oft mittels Blutgeld zwischen den betroffenen Clans ausverhandelt. Dabei darf das Opfer nach Angaben einer Quelle über die Höhe des Betrags mitentscheiden (ÖB Nairobi 11.1.2024). Andererseits werden Frauen im Falle von Clankonflikten oft als neutral erachtet, da es für sie leichter möglich ist, sich an unterschiedliche Clans zu wenden, um z. B. eine Waffenruhe zu erbitten. Folglich sind Frauen aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse beim Peace Building durchaus mächtig (AQ21 11.2023).
Während Frauen in Somalia zunehmend entscheidende wirtschaftliche Rollen übernehmen und häufig als Hauptverdiener ihrer Familien auftreten, stoßen sie bei der Suche nach politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten auf Hindernisse. Oft finden sie sich in schlecht bezahlten Positionen wieder (BS 2024). Gemäß einer Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (SOMSUN 6.4.2021). Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben (AA 23.8.2024). Auf allen politischen Ebenen herrscht dementsprechend eine Absenz von Frauen. Insgesamt ist dies auf die patriarchale, auf Clans basierende Gesellschaft zurückzuführen (Sahan/SWT 19.1.2024; vgl. AA 23.8.2024). Trotzdem finden sich bei Behörden, bei den Macawiisley, in der Bundesarmee, bei der NISA und den Darawish Frauen, bei der Polizei sind es ca. 10 % (AQ21 11.2023; vgl. Sahan/SWT 9.9.2022).
Quellen: […]
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19.1.2 Somaliland
Politik und Recht: Vom Guurti (House of Elders) sind Frauen ausgeschlossen; in der Regierung sind zwei von 24 Ministern weiblich. Die Somaliland Human Rights Commission hat eine Frau als Vorsitzende (USDOS 12.4.2022). Nach der Wahl vom Mai 2021 gab es im Unter- bzw. Repräsentantenhaus keine Abgeordnete (FH 2024a). Im Mai 2023 wurde als Nachfolgerin für einen verstorbenen Parlamentarier der UCID eine Frau angelobt (SD 14.5.2023; vgl. AA 23.8.2024). Nur drei von 220 Lokalräten landesweit sind weiblich (USDOS 12.4.2022).
Wie auch in Somalia finden sich in Somaliland aus der Scharia interpretierte Regeln des Zivil- und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen (AA 23.8.2024). Nicht nur bei der Anwendung der Scharia, sondern auch hinsichtlich des traditionellen Rechts werden Frauen benachteiligt (FH 2024a). Gleichwohl gibt es politische Ansätze, die mittel- bis langfristig eine Annäherung des Status von Mann und Frau anstreben (AA 23.8.2024).
Wirtschaft und Arbeit: Siehe dazu Grundversorgung/Wirtschaft / Somaliland / Wirtschaft und Arbeit
Die Zahl an Alleinerzieherinnen ist in Somaliland gestiegen. Mitverantwortlich dafür ist die ebenfalls gestiegene Zahl an Scheidungen, die sich auch in einem Anstieg an Wiederverheirateten und Patchwork-Familien niederschlagen (FIS 5.10.2018, S. 27f).
Häusliche Gewalt bleibt weiterhin ein Problem (FH 2024a). Prinzipiell können sich Frauen in solchen Fällen zwar an Behörden wenden, in der Praxis gestaltet sich dies allerdings schwierig (FIS 5.10.2018, S. 33).
Vergewaltigungen: Gruppenvergewaltigungen stellen in urbanen Gebieten weiterhin ein Problem dar. Täter sind oftmals Jugendliche oder Studenten. Diese Vergewaltigungen geschehen meist in ärmeren Stadtteilen, bei Migranten, zurückgekehrten Flüchtlingen oder IDPs im städtischen Raum (USDOS 22.4.2024). Im Gegensatz zum Süden Somalias gibt es aus Somaliland so gut wie keine Berichte über Vergewaltigungen durch Uniformierte (FIS 5.10.2018, S. 32).
Aufgrund sozialen Drucks werden Vergewaltigungen nur selten angezeigt (FH 2024a). Zudem ist das Gesetz gegen Sexualdelikte nach Einwänden des Religionsministeriums durch den Präsidenten wieder außer Kraft gesetzt. Ein neues Gesetz bezüglich Vergewaltigung und Sexualverbrechen wurde eingebracht und passierte im August 2020 das Repräsentantenhaus. Dieses Gesetz bricht einige internationale Menschenrechtsstandards. Es gestattet u. a. Kinder- und Zwangsehe und schließt eine Vergewaltigung in der Ehe aus. Das Gesetz lag zuletzt beim Guurti (MBZ 6.2023; vgl. ÖB Nairobi 10.2024) und ist noch nicht in Kraft getreten (ÖB Nairobi 10.2024).
Nach anderen Angaben wurde hingegen 2018 das erste Mal in der Geschichte Vergewaltigung per Gesetz zum Verbrechen erklärt, mit Haftandrohung von 4-7 Jahren, bei Gewalt und Drohungen 15-20 Jahren, im Falle von Minderjährigen unter 15 oder von Gruppenvergewaltigungen mit 20-25 Jahren, im Falle von Verletzungen oder HIV-Übertragung lebenslänglich. Schlussendlich werden Vergewaltigungen auch zur Anzeige gebracht: Von Jänner bis August 2022 wurden in Somaliland fast 300 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht, 2020 sind es 161 gewesen (Halbeeg 1.9.2022). Nach anderen Angaben sind im Jahr 2022 bis November 266 Vergewaltigungen angezeigt worden, es gab 280 Beschuldigte. 240 davon wurden gefasst (SD 4.11.2022). Auch auf Betreiben von Frauenhäusern werden Vergewaltigungen nachgewiesen und zur Anzeige gebracht, Verhaftungen folgen (UNICEF 26.2.2024). Im Juni 2024 hat Präsident Bihi ein Dekret unterzeichnet, das die Verhandlung von Vergewaltigungsfällen durch Clanälteste verbietet. Alle derartigen Fälle müssen künftig der staatlichen Justiz zugeführt werden (HO 25.6.2024c).
Hilfe: Die NGO WAAPO - ein Partner mehrerer UN-Organisationen - führt Frauenhäuser in Hargeysa, Borama und Burco. Das Angebot richtet sich an Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und von FGM und dient auch dem Kinderschutz. Die Einrichtungen bieten psychosoziale Beratung, medizinische Unterstützung, Rechtshilfe und Mediation (WAAPO o.D.a; vgl. UN OCHA 2022). Diese Dienste erfolgen kostenlos. Die Häuser arbeiten auch mit der Polizei zusammen. Den Frauen wird geholfen, nach Gewalttaten für Gerechtigkeit zu sorgen (UNICEF 26.2.2024). 2021 hat UNFPA gemeinsam mit dem somaliländischen Sozial- und Familienministerium eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, an welche sich Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt richten können. Bereits in den ersten Monaten konnte über hundert Opfern geholfen werden, u. a. durch Beratung und Vermittlung. Die Nummer der Hotline wird z. B. über das Radio verbreitet (UNFPA 28.10.2021).
Quellen: […]
19.1.3 Familie, Ehe, Zwangsehe, Scheidung, Ehrenmorde
Die Scharia ist gerade hinsichtlich des Familienrechts die wichtigste Rechtsquelle in Somalia und Somaliland. Sie findet etwa bei Ehe, Erbe, Adoption und Sorgerecht Anwendung. Zivilrecht kann zwar neben der Scharia angewendet werden, muss aber immer mit der Scharia vereinbar sein. Bei jeglicher Abweichung wird hier der Scharia Vorrang gegeben (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Ehe: Für die Eheschließung relevant sind die Vorgaben von Xeer (traditionelles Recht) und Scharia, die nahezu deckungsgleich sind (Omer2/ALRC 17.3.2023). Polygamie ist laut beiden Rechtsgrundlagen erlaubt und wird gesellschaftlich akzeptiert (UNHRCOM 6.5.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Es gibt keine Zivilehe (Landinfo 14.6.2018, S. 7). In weiten Teilen Süd-/Zentralsomalias spricht al Shabaab Recht - auch hinsichtlich Ehe, Scheidung und darauf basierenden Sorgerechtsregelungen (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38), wobei eine Überprüfung der Jungfräulichkeit laut einer Quelle nicht mehr weit verbreitet ist (Omer2/ALRC 17.3.2023). Nach anderen Angaben ist nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über 15 Jahren verheiratet; 37,9 % waren demnach noch nie verheiratet. Letztgenannte Personengruppe findet sich zunehmend in den Städten (42,1 %), weniger verbreitet auf dem Land (30 %) (GN 28.3.2023a) Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (Landinfo 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).
Eheschließung (Vorgang): Generell muss vor der Eheschließung beim Imam Klarheit über die Identität der Ehepartner herrschen. Zudem muss sich der Imam im persönlichen Einzelgespräch mit beiden Ehepartnern versichern, dass diese freiwillig heiraten. Dies muss auch von den anwesenden Zeugen bezeugt werden. Das Brautgeld wird von der Braut genannt und vom Bräutigam bestätigt. Alle Parteien (das Ehepaar, der Vormund, die Zeugen und der Imam) müssen den Ehevertrag/die Eheurkunde (Deed of Marriage) unterfertigen. Mit der Zunahme an Somali, die in der Diaspora leben, sind heute Eheschließungen über das Telefon keine Seltenheit mehr. Dabei bedarf es üblicherweise an beiden Enden eines Imams. Sobald eine Ehe vor einem Imam und gemäß den Vorgaben der Scharia (Reife, Freiwilligkeit, Zeugen) geschlossen wurde, ist diese nach somalischer Rechtsnorm rechtsgültig (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Kinderehe und Ehealter: Siehe Kinder
Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Zusätzlich ist es im Xeer sehr wohl möglich, dass Eltern oder ein Vormund auf Minderjährige einwirken, damit diese einer Eheschließung - wie in der Scharia verlangt - "freiwillig" zustimmen. Die in der Scharia verlangte Einwilligung wird im Xeer relativiert. Kinder- und arrangierte Ehen sehen oft keine ehrliche Freiwilligkeit vor. Eigentlich hätten solche Ehen nach islamischer Rechtsauffassung keine Gültigkeit (Omer2/ALRC 17.3.2023). Dementsprechend ist der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe fließend (MBZ 6.2023). Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (Landinfo 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 23.8.2024), Zwangsehen sind in Somalia normal bzw. weitverbreitet (SPA 1.2021; vgl. FH 2024b). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele davon waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen (USDOS 22.4.2024). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (Landinfo 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. Landinfo 14.6.2018, S. 10). Zu Unterstützung und Frauenhäusern siehe Frauen - Süd-/Zentralsomalia und Frauen - Somaliland.
Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition aber gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (Landinfo 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. Landinfo 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (Landinfo 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden (FIS 5.10.2018, S. 26f). Zusätzlich gibt es auch die Tradition des "Durchbrennens" (Elopement, Qubdo Sireed), wobei die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung kommt in allen Landesteilen vor und wird üblicherweise auch akzeptiert (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Ehe-Registrierung: Beim Imam werden die von allen Parteien unterfertigten Urkunden kopiert und an alle Teilnehmer ausgeteilt. Eine Urkunde wird im Register der Moschee hinterlegt. Dies ist nicht immer möglich, doch ist eine solche Registrierung für die Gültigkeit einer Ehe nicht zwingend erforderlich. Nach Möglichkeit wird die Eheschließung auch bei einem Standesamt oder Amtsgericht in der nächstgelegenen Gemeinde eingetragen, die dazu in der Lage ist. In Somaliland ist ein solcher Eintrag bei der Gemeinde oder dem Regionalgericht einfacher möglich. Die zivile Registrierung einer Ehe ist absolut freiwillig. Die Rechtsgültigkeit einer Ehe ergibt sich aus der Erfüllung der Anforderungen gemäß Scharia (Omer2/ALRC 17.3.2023). Zu Dokumenten siehe auch Dokumente / Süd-/Zentralsomalia und Dokumente / Somaliland.
Scheidung: Eine solche ist erlaubt (ÖB Nairobi 10.2024), es gibt eine hohe Scheidungsrate (AQ21 11.2023). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019a). Die Frau hat das Recht, den Mann aus dem gemeinsamen Haushalt zu verstoßen (AQ21 11.2023). Nach einer Scheidung ist eine Phase von drei bis sechs Monaten vorgesehen, bevor eine neue Ehe eingegangen werden darf (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (Landinfo 14.6.2018, S. 18). Laut Zahlen aus dem Jahr 2023 sind 9 % der Bevölkerung im Alter von 25-29 Jahren geschieden, bei den 30-34-Jährigen sind es 7,6 % (GN 28.3.2023a). Bezüglich einer Scheidung gibt es kein Stigma (Landinfo 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f; AQ21 11.2023). Während es früher die Norm war, dass Kinder beim Mann blieben, ist dies heute oft umgekehrt (AQ21 11.2023; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Viele Männer verschwinden auch einfach und bieten Frau und Kindern keinerlei Unterstützung (AQ21 11.2023). Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines neuen Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (Landinfo 14.6.2018, S. 19).
Annullierung: Eine Ehe kann nur dann annulliert oder angefochten werden, wenn stichhaltige Beweise dafür vorgelegt werden, dass bei einem Ehepartner keine freiwillige Einwilligung vorlag; dass einem Ehepartner die erforderliche Reife (psychisch und physisch) fehlt; wenn nachträglich Beweise dafür auftauchen, dass die Ehefrau bereits verheiratet war und die Scheidung noch nicht vollzogen wurde; wenn der vorgeschriebene Zeitraum zwischen Scheidung und neuerlicher Ehe von 3-6 Monaten noch nicht verstrichen war; oder wenn der Ehegatte bereits mit vier Ehefrauen verheiratet ist. Sterilität oder andere physische Einschränkungen stellen keinen Annullierungs-, wohl aber einen Scheidungsgrund dar (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Ehrenmorde: In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (Landinfo 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27; vgl. Love Does 20.10.2023). Laut einer Quelle ist außer- oder vorehelicher Geschlechtsverkehr eine Straftat (Omer2/ALRC 17.3.2023).
Quellen: […]
19.2 Mädchen / Frauen - Weibliche Genitalverstümmelung und -Beschneidung (FGM/C)
Arten bzw. Typen der Beschneidung: Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65f). Laut einer in Puntland gemachten Studie gibt es auch noch andere Namen für FGM/C, etwa Dhufaanid (Kastration) oder Tolid (Zunähen) (UNFPA 4.2022). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM/C vor:
a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (Gudniinka Fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 68).
b) Andererseits die Sunna (Gudniinka Sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29), laut einer dritten Quelle WHO Typ IV (MoHDSL/UNFPA 2021) und schließlich laut einer vierten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 41ff/66f). Demnach wird die Sunna nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (Sunna Kabir) und die kleine Sunna (Sunna Saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 41ff/66f). De facto kann laut Quellen unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern laut einer Quelle oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).
Bei einer Studie aus Somaliland wird die Sunna hingegen als WHO Typ IV bezeichnet ("... andere verletzende Prozeduren an den weiblichen Genitalien für nicht-medizinische Zwecke, z. B. einstechen, durchstechen, einritzen, ausschaben, verätzen."). Teilnehmer der Studie beschreiben zwei Arten der Sunna: Einerseits jene Form, bei welcher eine eingeschränkte Beschneidung ("Small Cut") sowie ein Vernähen mit ein oder zwei Stichen erfolgt; andererseits eine mildere Form, bei welcher die Klitoris mit einer Nadel eingestochen wird und keine weiteren Misshandlungen erfolgen - insbesondere kein Vernähen (MoHDSL/UNFPA 2021).
Dahingegen beschreiben Crawford und Ali für Somalia folgende Formen von FGM/C (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66ff): [nicht abgebildet; Quelle: HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 66ff]
Prävalenz [siehe auch Unterkapitel]: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024) und bleibt die Norm (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von "mehr als 90 %" (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022). Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017). [nicht abgebildet; Quelle: STC 9.2017]
Trend weg von der Infibulation und hin zu Sunna [siehe auch Unterkapitel]: Die Infibulation ist insgesamt zurückgedrängt worden, dies wird von zahlreichen Quellen bestätigt (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015; FGMCRI o.D.; Landinfo 14.9.2022; LIFOS 16.4.2019, S. 14f/39; DIS 1.2016, S. 7; FIS 5.10.2018, S. 30f; PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22ff; BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f). Der Trend geht in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022): [nicht abgebildet; Quelle: DNS/Gov Som 2020, S. 220]
Sowohl der finanzielle wie auch der Bildungshintergrund spielen bei der Entscheidung hinsichtlich der Form des Eingriffs eine Rolle: [nicht abgebildet; Quelle: DNS/Gov Som 2020, S. 214]
Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 69). Viele Menschen – v. a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022), der gesellschaftlich auf Akzeptanz trifft (Landinfo 14.9.2022). So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 70).
Eine Rolle spielen hierbei religiöse Überlegungen. Bei einer Studie in Somaliland haben religiöse Führer angegeben, dass alle Rechtsschulen des Islam die Infibulation bzw. die pharaonische Beschneidung verbieten. Demgegenüber ist die Sunna gemäß der in Somalia am meisten verbreiteten Shafi'i-Schule obligatorisch, während z. B. die Hanafiya eine Beschneidung zwar zulässt, diese aber nicht fordert (MoHDSL/UNFPA 2021).
Gesellschaft [siehe auch Unterkapitel]: Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus (AV 2017, S. 19). Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („Community“) FGM nicht durchgeführt wird (AV 2017, S. 25). Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab (CEDOCA 9.6.2016, S. 7). Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2). Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt (RE 15.2.2021). Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht so weit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als Sunna bezeichnet wird (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 70).
Wer eine Beschneidung veranlasst bzw. entscheidet: Nach Angaben mehrerer Quellen liegt üblicherweise die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; Landinfo 14.9.2022, S. 11; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85; MoHDSL/UNFPA 2021). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (Landinfo 14.9.2022, S. 11; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85) bzw. wird die Entscheidung "manchmal" gemeinsam getroffen (MoHDSL/UNFPA 2021). Laut einer Quelle geht es bei dieser Entscheidung aber weniger um das "ob" als vielmehr um das "wie und wann" (Landinfo 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022).
Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f) oder aber eine vermeintlich gemeinsame Entscheidung für eine mildere Sunna wird nachträglich von der Mutter - ohne Wissen des Vaters - zu einer Infibulation "korrigiert" (MoHDSL/UNFPA 2021). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter oft maßgeblich in die Entscheidung involviert (Landinfo 14.9.2022, S. 11; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 85) bzw. üben sie signifikanten Einfluss aus (UNFPA 8.10.2023). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). In einer somaliländischen Studie wird angegeben, dass Mütter die Schlüsselrolle spielen, an zweiter Stelle stehen die Großmütter. Manchmal fordern Mädchen auch selbst eine Beschneidung ein (MoHDSL/UNFPA 2021).
Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26).
Motivation: Der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, ist der Druck, sozialen Erwartungen und Normen gerecht zu werden (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 82). FGM gilt als Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die somalische Kultur gelten die "drei weiblichen Schmerzen" als integraler Bestandteil des Frauseins: Die Beschneidung, die Hochzeitsnacht und das Gebären. Nicht zuletzt glauben viele Frauen, dass die Beschneidung im Islam verpflichtend vorgesehen ist (MoHDSL/UNFPA 2021).
Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73). Es herrscht die Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung (MoHDSL/UNFPA 2021). Mitunter üben nicht-beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Die Beschneidung wird als Ehre für ein Mädchen erachtet, als Investition in die Zukunft. Das Mädchen wird dadurch von der Gesellschaft akzeptiert, gilt als züchtig und verheiratbar und gewährleistet voreheliche Jungfräulichkeit (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 38f; Landinfo 14.9.2022, S. 11). Außerdem gilt eine Infibulation als ästhetisch (Landinfo 14.9.2022, S. 10; vgl. UNFPA 4.2022).
Durchführung: Die Mehrheit der Beschneidungen wird von traditionellen Beschneiderinnen (Guddo) vorgenommen (MoHDSL/UNFPA 2021). Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (UNFPA 4.2022; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021; FGMCRI o.D.). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (Landinfo 14.9.2022, S. 11). Diese "Medizinisierung" von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021; vgl. MoHDSL/UNFPA 2021) und in erster Linie dann, wenn die Eltern nur eine Sunna durchführen lassen wollen (MoHDSL/UNFPA 2021). FGM/C erfolgt also zunehmend im medizinischen Bereich – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. In Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für "FGM Clinics". Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73f).
Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73f). Auch eine somaliländische Quelle berichtet, dass die Beschneidung mit einer Feier in der Nachbarschaft verbunden ist (MoHDSL/UNFPA 2021). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).
Alter bei der Beschneidung: Diesbezüglich gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos sowie UNFPA nennen ein Alter von 5-10 bzw. 5-9 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39; vgl. UNFPA 8.10.2023). Eine größere Studie aus dem Jahr 2020 nennt für Somalia folgende Zahlen: 71 % der Frauen im Alter von 15-49 Jahren ist im Alter von 5-9 Jahren beschnitten worden, 28 % im Alter von 10-14 Jahren und jeweils unter 1 % unter 5 und über 15 Jahren (DNS/Gov Som 2020). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (FGMCRI o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 23.8.2024). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt demnach auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (Landinfo 14.9.2022).
In Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). In einer Studie aus dem Jahr 2020 werden für Somaliland folgende Zahlen genannt: 57 % der Mädchen wurden im Alter von 5-9 Jahren beschnitten, 41 % zwischen 10 und 14 Jahren, 1 % noch danach (MoPNDSL 2021).
Eine Quelle erklärt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022). Auch in der Studie aus dem Jahr 2020 ist dieser Trend zu erkennen [siehe Grafik unten]. Unter den 40-49-jährigen Frauen wurden 67 % im Alter von 5-9 Jahren beschnitten, bei der Gruppe der 15-19-jährigen sind es hingegen 73 % (DNS/Gov Som 2020). Auch in Somaliland ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna laut Angaben einer Quelle auf 5-8 Jahre gesunken (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22). In den Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2020 ist ein derartiger Trend hingegen nicht ablesbar (MoPNDSL 2021). [nicht abgebildet; Quelle: DNS/Gov Som 2020]
Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6).
Abolition: In der Diaspora nimmt die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (Landinfo 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften z. B. in Borama, Garoowe oder Mogadischu, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich die Haushalte gemeinschaftlich gegen jegliche Art von FGM (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65). Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65; vgl. Landinfo 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41). So kann es auch vorkommen, dass in der Diaspora lebende Mädchen „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen werden, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Andererseits nimmt der Druck in der jüngeren Generation ab, manche junge Menschen sehen keinen Grund für die Stigmatisierung und Diskriminierung von Unbeschnittenen (MoHDSL/UNFPA 2021).
Eine andere Quelle erklärt, dass der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung darstellt, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen eine Beschneidung ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (Landinfo 14.9.2022). Jedenfalls gibt es trotz aller Widrigkeiten sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9) und auch Frauen, die sich offen dazu bekennen. So berichtet etwa eine Studienteilnehmerin, dass sie als Kind sehr an ihrer Verstümmelung gelitten hat. Deswegen hat sie ihre Töchter nicht beschneiden lassen und drängt auch andere Eltern zu diesem Schritt. Einige wenige Teilnehmerinnen an der besagten Studie haben offen erklärt, ihre Töchter nicht anrühren zu wollen (MoHDSL/UNFPA 2021). Manche Mütter in Gemeinden, wo Aufklärung hinsichtlich der negativen Folgen einer Genitalverstümmelung stattgefunden hat, bekennen sich offen dazu, dass an ihren Töchtern eine solche nicht vorgenommen worden ist (ÖB Nairobi 10.2024).
Mehrere Studien zeigen, dass 2-4 von 100 Frauen nicht beschnitten sind (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. DNS/Gov Som 2020). Beschneiderinnen berichten von einem geringeren Einkommen, weil Eltern ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen (MoHDSL/UNFPA 2021).
Leben ohne Beschneidung: Laut Quellen der finnischen FFM im Jahr 2018 ist es gerade in Städten kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen. Demnach steigt dort die Zahl unbeschnittener Mädchen (FIS 5.10.2018, S. 31). Nach anderen Angaben hängt die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). Eine weitere Quelle erklärt, dass es in der Stadt kein Problem ist, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das demnach anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach älteren Angaben "bekennen" nur wenige Mütter, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 65).
Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 11). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig" (Landinfo 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Folglich werden unbeschnittene Frauen mitunter als schmutzig oder un-somalisch (Landinfo 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden u. a. in der Schule gehänselt und drangsaliert, sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier Buurya Qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (Kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).
Eine andere Option ist es, dass eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, versucht, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Es kommt zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen (DIS 1.2016, S. 12f; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 41). Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist (DIS 1.2016, S. 12f). Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41).
Nach anderen Angaben ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht. Grund dafür ist, dass gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden (Landinfo 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 83).
Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f). Eine Mutter berichtet in einer somaliländischen Studie, dass sie von den eigenen Töchtern zu einer Beschneidung gedrängt worden ist. Sie hat diese in eine medizinische Einrichtung gebracht, wo u. a. unter Verwendung von Fake-Anästhetika und Kunstblut ein Eingriff vorgegaukelt worden ist. Seither gelten die Töchter als beschnitten (MoHDSL/UNFPA 2021).
Quellen: […]
[…]
19.2.2 Somaliland
Rechtliche Lage: Das somaliländische Parlament hat am 1.2.2022 ein richtungsweisendes Gesetz zum Schutz von Kindern vor allen Formen von Missbrauch und Vernachlässigung verabschiedet. Es handelt sich dabei um das erste Kindergesetz des Landes. Damit wird auch die Rechtslücke hinsichtlich FGM/C geschlossen (PLAN/Presseportal 3.2.2022). Nach anderen Angaben macht dieses Gesetz keine Angaben zu FGM. Es wurde im Oktober 2022 vom Präsidenten unterzeichnet und ist in Kraft getreten (CRR/Jama 1.6.2024).
Seit 2018 gibt es jedenfalls eine Fatwa des somaliländischen Religionsministeriums, welche sich gegen die schlimmsten Formen von FGM/C - namentlich gegen die Infibulation - richtet (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024). Die Sunna ist davon nicht erfasst (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. FH 2024a). Die Fatwa spricht Opfern von FGM/C Schadenersatz zu (USDOS 22.4.2024; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 29). Die Möglichkeiten für Mädchen und Frauen, im Fall einer drohenden Beschneidung rechtliche Unterstützung zu erhalten, sind aber eingeschränkt (LIFOS 16.4.2019, S. 42), und insgesamt hat die Fatwa laut einer Quelle zu keiner messbaren Änderung in der Praxis geführt (AA 23.8.2024).
Gesellschaft: Der Widerstand gegen FGM ist in Somaliland aber am weitesten fortgeschritten. Nahezu jede Woche findet irgendwo ein entsprechender Workshop statt (FIS 5.10.2018, S. 31). Beispielsweise reisen Mitarbeiter der Somaliland Family Health Association von Dorf zu Dorf, um die Menschen hinsichtlich der Nachteile von FGM zu sensibilisieren (USDOS 22.4.2024). In einem anderen Beispiel informiert CARE Frauen und Mädchen über ihre Rechte und bildet sie aus, damit sie sich gegenseitig unterstützen und sich gegen FGM/C einsetzen können (CARE 4.2.2022).
Im Zuge einer Studie im Jahr 2011 gaben in Somaliland nur 29 % der befragten Frauen an, dass die traditionelle Infibulation beibehalten werden soll (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 14); 2006 waren es noch 65 % gewesen (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2). Bei einer Studie aus dem Jahr 2020 gaben 53 % der Befragten an, dass es weiterhin Beschneidungen geben sollte. Allerdings wurde bei dieser Studie nicht nach spezifischen Typen gefragt (MoPNDSL 2021).
Prävalenz: Bei einer umfassenden Studie aus dem Jahr 2020 haben 98 % der befragten somaliländischen Frauen angegeben, einer Form von FGM/C unterzogen worden zu sein (MoPNDSL 2021). 2011 taten dies noch 99 % der Frauen (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 20). Gleichzeitig sinkt die Quote in den unterschiedlichen Altersgruppen: Bei den 45-49-Jährigen liegt die Beschnittenenquote bei fast 100 %, bei den 15-19-Jährigen hingegen bei 96 % (MoPNDSL 2021).
Typen: Aufklärungsmaßnahmen haben in Somaliland zu einem fundamentalen Wechsel bei der Praxis von FGM/C geführt – und zwar weg von der drastischen Verstümmelung in Form einer Infibulation und hin zur leichteren bzw. weniger invasiven Form einer Beschneidung – z. B. in Form der Sunna (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22ff; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Laut einer Quelle wird das als positive Entwicklung bewertet; demnach handelt es sich bei der Sunna um ein Einstechen oder Einritzen der Klitoris (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22f/24). 2020 gaben 61 % der befragten Frauen an, eine Infibulation erlitten zu haben, 29 % eine Sunna und 7 % eine Zwischenform (MoPNDSL 2021). Anfang der 1990er-Jahre hatten bei einer Studie nur 5,5 % der befragten Frauen eine Sunna angegeben (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22). Ein weiterer Vergleich verdeutlicht den raschen Wechsel noch besser: Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 in den somaliländischen Regionen Maroodi Jeex und Togdheer gaben nur 34 % der Mädchen im Alter von 12-14 Jahren an, eine Infibulation erlitten zu haben. Bei den Über-25-Jährigen waren es hingegen 96 % (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 23). Im Durchschnitt aller Altersgruppen bleibt freilich die Infibulation die vorherrschende Form (USDOS 22.4.2024). Auch nach staatlichen Angaben ist die Sunna bei jüngeren Frauen und Mädchen verbreiteter. Bei der Gruppe der 15-19-Jährigen sind es demnach 55 %, bei den 45-49-jährigen Frauen hingegen nur 5 %. Dafür erlitten in der Alterskohorte 45-49 90 % eine Infibulation. Neben dem Alter spielen auch die Lebensumstände eine Rolle: Bei Nomaden sind 100 % der Frauen beschnitten (69 % Infibulation), in Städten sind es 97 % (56 % Infibulation) (MoPNDSL 2021); Frauen mit höherer Bildung (Sekundärbildung) wurden eher einer Sunna unterzogen, jene mit niedriger oder keiner Bildung eher eine Infibulation. Eine ähnliche Situation gilt für reich vs. arm (MoPNDSL 2021; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 21f). Hinsichtlich der somaliländischen Regionen ist FGM in Sanaag am präsentesten (100 %), in der Hauptstadtregion am niedrigsten (96 %). Die Sunna wiederum ist in der Region Awdal am verbreitetsten (42 %), die Infibulation in Sool (70 %) (MoPNDSL 2021). [nicht abgebildet; Quelle: MoPNDSL 2021]
Laut einer Quelle ist es in Somaliland sehr unüblich, dass Großeltern über die Köpfe der Eltern hinweg über eine Beschneidung entscheiden. Wenn, dann kann dies eher noch in ländlichen Gebieten vorkommen. Gehen die Meinungen der Eltern allerdings auseinander, können weibliche Verwandte an Einfluss gewinnen (LIFOS 16.4.2019, S. 26f).
Quellen: […]
19.2.3 Reinfibulation, Deinfibulation
Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs (LIFOS 16.4.2019, S. 35/12; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 9/12) oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIFOS 16.4.2019, S. 32; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt zudem anekdotische Berichte, wonach eine neue Intervention durchgeführt wurde, weil die Familie eine umfassendere Intervention als die ursprüngliche gewünscht hat (Landinfo 14.9.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 74).
Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen (DIS 1.2016, S. 23). Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f), kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich einer Reinfibulation zu unterziehen (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/76; vgl. CEDOCA 13.6.2016, S. 9). Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht (HO 27.2.2019; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt anekdotische Berichte über Fälle, in denen unverheiratete Mädchen oder junge Frauen aus der Diaspora nach Somalia geschickt wurden, um eine Reinfibulation durchzuführen (Landinfo 14.9.2022).
Eine Quelle gibt an, dass es Folgen - bis hin zur Scheidung - haben kann, wenn ein Ehemann in der Hochzeitsnacht feststellt, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt. Eine Scheidung kann in diesem Fall zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z. B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S. 40f).
Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 76; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 11).
Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist (LIFOS 16.4.2019, S. 40). Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (CEDOCA 13.6.2016, S. 6).
Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i.d.R. der Entscheidung der betroffenen Frau (LIFOS 16.4.2019, S. 40; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 26). Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (CEDOCA 13.6.2016, S. 9f/26). Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/75f). Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten aber eher unüblich (FIS 5.10.2018, S. 29). Die Verbreitung variiert offenbar auch geographisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation (CEDOCA 9.6.2016, S. 13f). Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt. Eine Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit FGM in Somalia auseinandersetzt, sieht keine Grundlage dafür, dass nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Im somalischen Kontext wird demnach eine Infibulation durchgeführt, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu „beweisen“. Dementsprechend macht es keinen Sinn, eine verheiratete Frau nach der Geburt zu reinfibulieren (Landinfo 14.9.2022, S. 12f).
Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko einer Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 41).
Quellen: […]
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20 Bewegungsfreiheit und Relokation
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20.2 Somaliland
In gewissem Maß wird die Bewegungsfreiheit respektiert (FH 2024a). Mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 erklären, dass sich Bürger ohne Einschränkungen bewegen können, auch in Sanaag (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Scholar/STDOK/SEM 5.2023; INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). An Straßen gibt es mitunter Checkpoints der Polizei – v. a. an den Grenzen größerer Städte (STDOK/SEM 5.2023a). Auf den großen Überlandstraßen wird wenig kontrolliert. Es gibt Checkpoints, dort wird etwa Nachschau gehalten, ob sich illegale äthiopische Migranten an Bord befinden (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). An Straßensperren wird vermehrt nach einem Personalausweis verlangt. Es entsteht aber kein Nachteil, wenn kein Ausweis mitgeführt wird (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023). Kann ein solcher nicht vorgelegt werden, kann die Identität über Kontakte verifiziert werden (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023).
Mitunter kommt es auch zu Einschränkungen (USDOS 22.4.2024), etwa hinsichtlich der Region Sool (Scholar/STDOK/SEM 5.2023). Vormals wurde zwischen Hargeysa und Puntland viel Hin und Her gereist, dies ist nun nicht mehr der Fall (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Manche Gegenden von Sool und Laascaanood können nur von Puntland aus erreicht werden, dies gilt auch für humanitäre Hilfe. Nach Buuhoodle reisen viele Menschen über Äthiopien. Da die Straßen nach Garoowe und nach Buuhoodle blockiert sind, hat die Route von Bossaso nach Laas Qooraay an Bedeutung gewonnen. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist diese Route aber für Angehörige der Isaaq nicht sicher, weil die in Sanaag lebenden Warsangeli moralisch auf der Seite der Dhulbahante stehen. Generell können sich die Menschen in Sanaag aber frei bewegen (Scholar/STDOK/SEM 5.2023). Eine andere Quelle erläutert, dass der Clanfaktor ein Hindernis darstellen kann - etwa wenn eine Person innerhalb Somalilands umziehen möchte (FH 2024a).
Ein-/Ausreise: Eine effektive Ausreisekontrolle an den Grenzübergängen von Somaliland in die Nachbarländer findet nicht statt. Sowohl die Land- als auch die Seegrenze werden weitgehend nicht überwacht. Bei Flugreisen ab Hargeysa werden Kontrollen durchgeführt (AA 23.8.2024).
Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 gibt es für Menschen aus anderen Teilen Somalias keine Einschränkungen der Bewegungsfreiheit - v. a. wenn es sich um Wirtschaftstreibende handelt. Kann eine Person keinen Identitätsnachweis erbringen, könnte dies zu Problemen führen (Scholar/STDOK/SEM 5.2023). Dementsprechend ist es z. B. bei einem Umzug von Mogadischu nach Hargeysa wichtig - aber nicht zwingend erforderlich - am neuen Ort über einen Bürgen zu verfügen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).
Weitere Informationen zu Ein- und Ausreise - auch für Personen aus Somalia - finden sich hier: Rückkehr / Somaliland
Quellen: […]
20.2.1 Meldewesen und Staatsbürgerschaft
Zu den einzelnen Dokumenten siehe Dokumente / Somaliland
Personenregister: Es bestehen nur wenige bis rudimentäre staatliche Aufzeichnungen und Personenregister (ÖB Nairobi 10.2024). Nach anderen Angaben gibt es seit 2015 ein vom Innenministerium geführtes digitales Melderegister (UNHCR 22.12.2021a, S. 45). Vor einer Registrierung wird die betroffene Person interviewt, werden Älteste befragt und Daten von Familienangehörigen verglichen (LIFOS 9.4.2019, S. 24f). Auch biometrische Daten werden aufgenommen bzw. abgeglichen (LIFOS 9.4.2019, S. 24f; vgl. STDOK/SEM 2017), wodurch Doppeleinträge verhindert werden (STDOK/SEM 2017). Immer öfter wird der damit zusammenhängende Personalausweis gebraucht, um öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen zu können (UNHCR 22.12.2021a, S. 45). Das eGovernment verlinkt viele Aspekte, etwa die Telefonnummer mit der ID und diese wiederum mit dem Finanzministerium. So erhält man auch automatisch eine Notifizierung über fällige Steuern, und diese können dann über das Handy bezahlt werden. Auch die Zahlungsbestätigung erhält man auf sein Telefon (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023).
Geburten: UNICEF unterstützt die Registrierung von Geburten und von Kleinkindern sowie das Ausstellen von Geburtsurkunden (ÖB Nairobi 10.2024). Trotzdem wurden nur 7 % der Kinder unter zwei Jahren bei ihrer Geburt registriert (MoHDSL 2022; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Nach anderen Angaben sind etwas weniger als 20 % der Unter-Fünfjährigen registriert (UNHCR 22.12.2021a, S. 40). Eine Geburt kann beim Religionsministerium in Hargeysa eidesstattlich bekannt gegeben werden. Außerdem unternimmt Somaliland Anstrengungen, um Geburten auch bei Gesundheitszentren registrieren lassen zu können (UNHCR 22.12.2021a, S. 39f).
Staatsbürgerschaft: Das somaliländische Staatsbürgerschaftsrecht (2002) beruht auf patrilinearer Abstammung (UNHCR 22.12.2021a, S. 18; vgl. BS 2024). Demnach sind alle männlichen Personen, die zum 26.6.1960 aus Somaliland stammten und dort lebten sowie deren Nachfahren Staatsbürger Somalilands. Gemäß Staatsbürgerschaftsgesetz können auch Nachfahren somaliländischer Mütter die Staatsbürgerschaft erlangen, wenn der Vater unbekannt ist (UNHCR 22.12.2021a, S. 18ff). Generell muss ein Staatsbürgerschaftsnachweis ausgestellt werden, wenn ein (behördlich registrierter) Clanältester die Herkunft bestätigt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass eine derartige, durch einen Ältesten eingebrachte Meldung angefochten werden kann (UNHCR 22.12.2021a, S. 47).
Das somaliländische Staatsbürgerschaftsrecht gestattet ausdrücklich die Doppelstaatsbürgerschaft (Omer2/ALRC 17.3.2023). Eine Ausnahme bilden Frauen, die einen Ausländer heiraten und dessen Nationalität annehmen (UNHCR 22.12.2021a, S. 25f). Somalia hingegen erachtet natürlich auch alle in Somaliland lebenden Somali als somalische Staatsbürger, während Somaliland sie als somaliländische Staatsbürger erachtet (LIFOS 9.4.2019, S. 11f).
Quellen: […]
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25 Dokumente
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25.2 Somaliland
In Somaliland gibt es eine einigermaßen funktionierende Verwaltung (AA 23.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Die Behörden stellen auch Dokumente aus. Da die Republik Somaliland jedoch nicht anerkannt wird, besitzen diese Dokumente international keine Gültigkeit (AA 23.8.2024).
Verlässlichkeit: Laut einer Quelle gestaltet sich die Dokumentensicherheit in Somaliland grundsätzlich nicht sehr viel besser als im übrigen Somalia (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. UNHCR 22.12.2021a, S. 45/31).
Reisepässe: Somaliländische Reisepässe werden nur von Äthiopien als Reisedokument akzeptiert (UNHCR 22.12.2021a, S. 45). Nach anderen Angaben erkennen auch die Türkei und die VAE diese Pässe an (ÖB Nairobi 10.2024). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 tun dies Äthiopien, Dschibuti, Kenia und die VAE. Der Reisepass ist demnach in Somaliland nicht sehr verbreitet (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023).
ID-Karte (Personalausweis): Hinsichtlich der ID-Karte erhalten registrierte Personen eine zwölfstellige ID-Nummer, die sie ihr Leben lang behalten. Eine somaliländische ID-Karte kann in jeder Regionalhauptstadt Somalilands beantragt werden (LIFOS 9.4.2019, S. 14/26) - z. B. in Berbera. Bearbeitet werden Anträge zentral in Hargeysa, wo auch die ID-Karte ausgestellt wird. Während der Vorgang bei Antragstellung in der Hauptstadt binnen eines Tages mit der Ausstellung des Ausweises enden kann, dauert er außerhalb bis zu einem Monat (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023; vgl. YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023).
Die ID-Karte wird zunehmend relevanter, wenn es um die Inanspruchnahme öffentlicher Dienste geht (UNHCR 22.12.2021a, S. 45). Lokale Steuern und öffentliche Dienste auf kommunaler Ebene werden damit verknüpft. Aufgrund der Notwendigkeit in Zusammenhang mit Mobiltelefonie und mobilen Überweisungen werden Dokumente immer relevanter (Omer2/ALRC 17.3.2023). Die ID-Karte wird u. a. für folgende Leistungen benötigt: Kauf einer SIM-Karte; Registrierung bei den Bezahldiensten Zaad oder eDahab; Ausstellung von Dokumenten (z. B. Führerschein); Notariatsakte; Kontoeröffnung; Anmietung von Immobilien (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). Auch eine formelle Anstellung ist ohne ID-Karte nicht möglich (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023). Das e-Government verlinkt viele Aspekte, etwa die Telefonnummer mit der ID-Nummer und diese wiederum mit dem Finanzministerium. Wenn Eigentum oder Fahrzeuge eingetragen sind, erhält man automatisch eine Notifizierung über fällige Steuern. Diese können dann über das Handy bezahlt werden, und auch die Zahlungsbestätigung erhält man auf sein Telefon (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). An Checkpoints wird zwar vermehrt nach der ID-Karte gefragt, es ist aber (noch) nicht nachteilig, wenn keine mitgeführt wird (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023).
Personenstandsdokumente: Es gibt keine Zivilehe. Nach älteren Angaben erfolgen Eheschließungen v. a. in Städten bei religiös-staatlichen Stellen (regionale Schariagerichte in Laascaanood, Ceerigaabo, Borama, Hargeysa, Berbera, Burco). Dort werden auch Eheurkunden ausgestellt, und dort geschlossene Ehen werden dem Ministerium für Meldewesen (Ministry of Registration) in Hargeysa gemeldet (Landinfo 14.6.2018, S. 20).
Eine Eheschließung erfolgt zuerst in einer religiösen Zeremonie bei einem gerichtlich registrierten Sheikh. Dieser stellt eine Urkunde aus (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist das vom Sheikh ausgestellte Dokument eher informell gestaltet (handschriftlich und nicht standardisiert) (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). Danach wird die Ehe beim Bezirksgericht registriert und von dort eine offizielle (amtliche) Heiratsurkunde ausgestellt (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023; vgl. SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Notwendig dafür sind nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 die Bescheinigung vom Sheikh und zwei Zeugen, die vor dem Gericht schwören, dass der Antragsteller tatsächlich mit der angegebenen Person verheiratet ist. Das danach ausgestellte Zertifikat wird an das Justizministerium weitergeleitet, wo es bestätigt wird. Falls die Heiratsurkunde außerhalb des Landes verwendet wird, muss diese auch noch vom Außenministerium bestätigt werden (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023).
Geburtsurkunden werden in erster Linie bei Spitalsgeburten ausgestellt (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023; vgl. YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023; SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). In Berbera stammen die Urkunden von der Stadtverwaltung (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023). Für Geburten aus den 1990er- und frühen 2000er-Jahren gibt es kein staatliches Register (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
Verbreitung: Es ist immer noch üblich, dass Menschen ohne jegliche Dokumente leben, auch wenn sich dies ändert. Es gibt nach wie vor kein Gesetz, das den Besitz von Dokumenten vorschreibt (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Der Expertenrat der UN gibt an, dass es Somaliland gelungen ist, an den Großteil der Bevölkerung erfolgreich Personalausweise auszugeben. Diese Ausweise können mit Staatsleistungen verknüpft werden (UNSC 10.10.2022). Aufgrund dieser Notwendigkeiten sind laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 gerade in den Städten viele Menschen im Besitz einer ID-Karte. Auf dem Land ist diese weniger notwendig und daher auch weniger verbreitet (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). Laut einer anderen Quelle haben immer mehr Menschen eine ID-Karte, da diese für die Registrierung bei Bezahldiensten notwendig ist, und die Karte von der Regierung beworben wird (YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023).
Im Spital geborene Kinder werden registriert (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023) und erhalten eine Geburtsurkunde. Hausgeburten werden nach wie vor nicht registriert (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023; vgl. YOVENCO/STDOK/SEM 5.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 kennen in erster Linie Menschen aus urbanen und gebildeten Kreisen - und hier v. a. die jungen - ihr exaktes Geburtsdatum (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass zu Hause geborenen Kindern oft nur das Jahr ihrer Geburt bekannt ist (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023).
Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist es heute in Somaliland üblich, dass für ein frisches Ehepaar eine Heiratsurkunde vom Gericht ausgestellt wird (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). Nach Angaben einer anderen Quelle lassen sich nicht alle Ehepaare ihre Ehe vom Bezirksgericht bestätigen. Dies tun demnach nur diejenigen, die eine Heiratsurkunde benötigen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Die Urkunde spielt v. a. im Rahmen einer Erbschaft eine bedeutende Rolle. Auch bei Finanztransaktionen muss mitunter das Eheverhältnis durch eine Heiratsurkunde nachgewiesen werden (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023). Benötigt wird sie z. B. auch, um in den Flitterwochen ein Hotel buchen zu können (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
Ausstellung an Nicht-Somaliländer: Laut somaliländischem Innenministerium ist es für Angehörige von als nicht-somaliländisch definierten Clans unmöglich, einen Personalausweis zu erhalten. Lediglich hinsichtlich der Angehörigen von Clans, die auf beiden Seiten der somaliländisch-äthiopischen Grenze leben, könnte es hier zur Ausstellung somaliländischer Dokumente kommen (STDOK/SEM 2017).
Somalische Dokumente für Somaliländer: Da Somalia alle Somaliländer als somalische Staatsbürger erachtet, können diese auch einen somalischen Pass erhalten (UNHCR 22.12.2021a, S. 45). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 verfügen viele Somaliländer über den somalischen Reisepass. Laut dieser Quelle gibt es im Land mehrere Büros, die einen Pass organisieren können. Eine Privatfirma wurde von der somalischen Bundesregierung autorisiert, Anträge entgegenzunehmen und biometrische Daten abzunehmen. Diese werden nach Mogadischu weitergeleitet. Zur Verifizierung der Identität muss eine somaliländische ID-Karte oder eine Geburtsurkunde vorgelegt werden. Während der Pass in Mogadischu ca. 120 US-Dollar kostet, schlägt dieser Vorgang in Somaliland mit 300 US-Dollar zu Buche (SNST-T/STDOK/SEM 5.2023).
Quellen: […]
[…]“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis wurde erhoben durch die persönliche Einvernahme der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 24.06.2025 und die Einschau in das zentrale Fremdenregister, Strafregister, Melderegister, die Grundversorgungsdatenbank und die Datenbank des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger (OZ 2). Weiters wurde der gesamte verwaltungsbehördliche und gerichtliche Akt einschließlich der Stellungnahme vom 29.09.2025 der Entscheidung zugrunde gelegt. Als Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat wurden die Länderinformationen der Staatendokumentation, Somalia, Version 8, Fassung vom 07.08.2025; EUAA, Country Guidance Somalia, August 2023; Bericht des Schweizer Staatssekretariats für Migration, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, vom 31.05.2017; EUAA, Somalia: Country Focus, Mai 2025 und EUAA, Security Situation, Somalia, Mai 2025 herangezogen.
2.2. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:
Soweit in der gegenständlichen Entscheidung Feststellungen zum Namen und Geburtsdatum der Beschwerdeführerin getroffen werden, beruhen diese auf ihren Angaben bei der polizeilichen Erstbefragung, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung (EB, AS 3; EV, AS 62; VHS, 8). Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch das widersprüchliche Vorbringen in Zusammenhang mit dem Reisepass. Im behördlichen Verfahren gab sie an, ein Identitätsdokument besessen zu haben und mit einem gültigen Reisepass ausgereist zu sein (EB, AS 6; EV, AS 62), was vor dem Hintergrund der Länderinformationen zu Somalia, denen zufolge somaliländische Reisepässe in Äthiopien, wo sie zuerst hinreiste, anerkannt werden und der Tatsache, dass ID-Karten in Somaliland zunehmend verbreiteter werden (LI, Somaliland, 441), schlüssig erscheint. Dass sie auf Nachfrage vor dem Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung angab, den Reisepass habe ihr ein Mann bzw. der Schlepper ausgestellt (EV, AS 63; VHS, 9), würde darauf hindeuten, dass sie für ihre Ausreise einen gefälschten Reisepass benutzt habe. Auf Vorhalt dieses Widerspruchs antwortete sie: „Ja stimmt, das war ein gültiger Reisepass. Ich hatte Probleme dort gehabt. Dieser Mann hat das vermittelt für mich. Der Schlepper hat diese Reisedokumente für mich ausstellen lassen.“ (VHS, 9). Diese Widersprüchlichkeit in ihren Angaben schmälert ihre Glaubwürdigkeit enorm, da sie ja wissen muss, ob sie selber zwecks Ausstellung eines Reisepasses je bei einem Passamt war oder nicht. Mangels Identitätsdokumentes werden die Feststellungen zu Namen und Geburtsdatum ausschließlich für ihre Identifizierung im Asylverfahren getroffen, der Aliasname ergibt sich aus ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung (VHS, 8).
Die Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit waren aufgrund der diesbezüglich gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben im gesamten Verfahren festzustellen (EB, AS 3 f; EV, AS 63; VHS, 8), ebenso ihre Erstsprache Somalisch, die sich aus ihren Angaben im Verfahren (EB, AS 3; EV, AS 60) und der Kenntnis und Verwendung dieser Sprache ergibt. Die Beschwerdeführerin war hingegen nicht glaubwürdig, sofern sie behauptete, in Somalia nicht die Schule besucht und immer zu Hause gewesen zu sein (EV, AS 63; VHS, 16). Einerseits gab sie in der Erstbefragung an, Somalisch in Wort und Schrift auf einem guten Niveau zu beherrschen (EB, AS 3). Zwar gab sie an, Lesen und Schreiben zu Hause gelernt zu haben: „Somali lesen und schreiben ist sehr leicht. Man schreibt, wie man spricht.“ (VHS, 17), doch erscheint dies in Hinblick darauf, dass ihre Eltern nach ihren Angaben keinen Wert auf ihre Bildung gelegt hätten (VHS, 16 f), nicht stimmig. Andererseits widersprach sie sich, sofern sie vor dem Bundesamt verneinte, gleichaltrige Freunde gehabt zu haben, da sie immer Zuhause geblieben sei (EV, AS 64), wohingegen sie in der mündlichen Verhandlung davon berichtete, dass sie andere Mädchen aus der Nachbarschaft gekannt habe, die ihr von deren Beschneidungen und den Problemen erzählt hätten (VHS, 7). Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerin keinem Minderheitenclan angehört (siehe folgende Ausführungen zur Clanzugehörigkeit), ihre Familie wirtschaftlich dem Mittelstand angehörte (EV, AS 63) und auch ihre Brüder die Schule besuchten (VHS, 17), sodass ihr nicht geglaubt wird, dass sie in Somalia nie die Schule besucht hat.
Die Beschwerdeführerin gab gleichbleibend an, dem noblen Clan der Isaaq anzugehören (EB, AS 4; EV, AS 63; VHS, 10). Obwohl die Beschwerdeführerin zum Clan der Isaaq keine weiteren Angaben machen konnte oder wollte (EV, AS 66; VHS, 10), erscheint dies in Hinblick auf die angegebene Clanzugehörigkeit ihres Vaters zu den Isaaq (VHS, 15) und der Abstammung aus Somaliland, wo die Isaaq die wichtigste Clanfamilie stellen (LI, 221), plausibel.
Ebenso gleichbleibend und daher glaubwürdig waren ihre Angaben, aus XXXX in der Region Togdheer, Somaliland zu stammen, sie sei dort geboren und habe bis zur Ausreise in dem Ort gelebt (EB, AS 3 und 5; EV, AS 63; VHS, 11). Aus ihren Angaben ergibt sich auch, dass sie gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Haus lebte (EV, AS 63; VHS, 11) und diese unverändert dort leben (EV, AS 63; VHS, 11 ff). Die Beschwerdeführerin war in ihren Antworten auf Fragen zu Herkunft und Familie stets kurz angebunden bzw. waren die Antworten von Gegenfragen und Wiederholungen geprägt (vgl. VHS, 10 ff; als Beispiel angeführt Auszug aus der Verhandlungsschrift, S 10 f).
„R: Woher stammen Sie?
BP: Woher ich stamme?
R: Ja.
BP: Aus Somalia.
R: Wo siedelt Ihr Stamm und aus welcher Stadt sind Sie?
BP: Mein Stamm ist Isaaq und sie leben in Somaliland.
R: Das heißt, Sie lebten auch in Somalialand.
BP: Ja, das stimmt, ich komme auch aus Somaliland.
[…]
R: Woher kommen Ihre Eltern?
BP: Aus Somaliland.
R: Gibt es einen Ort, in dem Sie hauptsächlich gelebt haben?
BP: Ja, XXXX , dort habe ich gelebt und ich bin dort auch geboren.
R: Woher kommen Ihre Großeltern?
BP: Meine Großeltern? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass meine Mutter aus XXXX stammt.“
Auch zur ihrer angeblich behinderten Schwester erzählte sie nicht mehr, als dass beide Beine gelähmt seien (VHS, 12). Trotz Nachfragen gab sie keine konkrete Antwort, ob die Schwester z. B. von Geburt an behindert wäre. Es erscheint merkwürdig, dass sie sich an keinen Grund oder Zeitpunkt erinnern kann, an dem ihr die angebliche Behinderung der Schwester ins Bewusstsein gelangt ist, obwohl sie diese nach ihren Angaben pflegen musste (VHS, 16), stattdessen blieb sie vage und ausweichend: „Sehr lange, jahrelang.“ (VHS, 12). Ob ihre Schwester tatsächlich eine Behinderung hat, kann daher nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die Beschwerdeführerin erweckte in der mündlichen Verhandlung durch ihre kurzen und zurückhaltenden Antworten den Eindruck, dass sie nicht von sich aus von ihrem Leben in Somalia erzählen und keine Details zu ihrem Alltag preisgeben wollte. Trotz mehrmaliger Aufforderung und Nachfragen durch die Richterin blieb sie bei vagen und oberflächlichen Angaben, wodurch letztlich erhebliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit in Hinblick auf ihr bisheriges Leben entstanden.
In Berücksichtigung der Zugehörigkeit zu einem noblen Clan, vorwiegend jedoch aufgrund der Angaben der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt war festzustellen, dass ihre Familie wirtschaftlich gut situiert war (EV, AS 63), auch in der mündlichen Verhandlung gab sie an, dass ihre Eltern ein Geschäft geführt hätten und damit den Lebensunterhalt für die Familie verdient hätten (VHS, 17 f). Auf Nachfragen zum Geschäft der Eltern hielt sich die Beschwerdeführerin jedoch erneut bedeckt, obwohl sie dazu etwas wissen müsste, wenn dieses ihren Angaben zufolge neben dem Wohnhaus gelegen wäre (VHS, 17). Auch zu ihrem weiteren Verwandtschaftsnetzwerk hielt sich die Beschwerdeführerin bedeckt. Noch vor dem Bundesamt verneinte sie, weitere Verwandte außerhalb der Kernfamilie in Somalia zu haben (EV, AS 63), in der mündlichen Verhandlung gab sie hingegen an, noch eine Tante mütterlicherseits zu haben, sonst habe sie keine Onkel oder Tanten. Ihr Vater habe zwar Geschwister, die sie aber nicht kenne. Einen nachvollziehbaren Grund dafür brachte sie nicht vor, obwohl sie angab, dass sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter aus XXXX und somit aus ihrem eigenen Herkunftsort stammen würden (VHS, 14 f). Ihre Mutter habe auch nur eine Schwester, diese sei nicht verheiratet und kinderlos, sie habe auch in XXXX gelebt (VHS, 15). Die Tante habe sie oft besucht, sie habe einen sehr guten Kontakt mit ihr gehabt. Es sei auch „ganz normal“, als Frau alleine zu leben, die Tante habe ganztags als Reinigungskraft in einem Restaurant gearbeitet und auch sonst keine Probleme gehabt (VHS, 16). Abgesehen davon, dass es nicht nachvollziehbar ist, dass die Beschwerdeführerin bis auf eine Tante niemanden aus der erweiterten Familie (Großeltern, Onkel, Tanten) gekannt haben will, obwohl alle aus demselben Ort stammen, ist ergänzend auf die Länderinformationen zu Somalia hinzuweisen, vor deren Hintergrund das Vorbringen der Beschwerdeführerin plausibel sein muss. Im Zusammenhang mit der geschilderten Verwandtschaftssituation fällt auf, dass diese vor dem Hintergrund der Fertilitätsrate in Somalia, die pro Frau 6,9 Kinder beträgt (LI, 390), zumindest sehr ungewöhnlich erscheint, wobei es sich hierbei selbstverständlich nur um eine Durchschnittszahl handelt, die statistische Ausreißer sowohl nach oben als auch nach unten beinhaltet und daher nicht als Norm herangezogen werden kann. Nichtsdestotrotz weist die hohe Fertilitätsrate auf überwiegend kinderreiche Familien hin, sodass eine Familie, die über Generationen hinweg nur ein oder zwei Kinder bekommt, zumindest als ungewöhnlich bezeichnet werden muss und die Gründe dafür in der Familie dafür entweder bekannt sind oder zumindest Spekulationen darüber existieren. Die Beschwerdeführerin hat diesbezüglich nichts berichtet. Es erscheint daher naheliegend, dass die Beschwerdeführerin nicht alles über ihr familiäres Netz in Somalia preisgeben wollte. Den Länderberichten zufolge besteht in der Regel ein „ganz beachtlicher Verwandtschaftskosmos“, der sich aus drei Linien, konkret der patrilinearen Abstammungsgemeinschaft, der väterlichen Linie der Mutter und möglicherweise noch angeheirateten Verwandten zusammensetzt und daher ein großes Schutz- und Solidaritätsnetzwerk bildet (LI, 323). Mangels weiterer glaubwürdiger Angaben gelangte die erkennende Richterin daher zur Überzeugung, dass die familiäre Situation der Beschwerdeführerin nicht so war, wie sie diese darzustellen versuchte und war, nicht zuletzt auf Basis der allgemein zugänglichen Länderinformationen zu Somalia, insbesondere zur Bedeutung des familiären und des Clannetzwerks, festzustellen, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsort eine erweiterte Familie hat und diese für sie im Fall ihrer hypothetischen Rückkehr gemeinsam mit der Kernfamilie ein familiäres Netz bildet.
Die Beschwerdeführerin konnte auch einen Kontaktabbruch zur Familie nicht glaubwürdig darlegen. Den letzten Kontakt zu ihrer Familie habe sie vor ihrer Ausreise gehabt (EV, AS 63; VHS, 12). Auf Nachfrage gab sie an, die Nummer, die sie auswendig gekannt habe, vergessen zu haben. Außerdem habe sie erstmals in Europa ein Handy gehabt und den Umgang damit gelernt (VHS, 12). Letzteres ist in Hinblick darauf, dass nur wenige Menschen Bargeld verwenden, sondern mobile Zahlungsservices mit dem Handy die Banknoten zunehmend ersetzen, nicht nachvollziehbar. Den Länderinformationen ist zu entnehmen, dass in Somalialand einer Schätzung zufolge 90 % der Transaktionen über mobile Dienste erfolgen; dafür braucht es kein Internet, es reicht die Wahl einer Telefonnummer. Die Nummern sind bei Marktständen und Geschäften z. B. auf Plakaten, Tischständern oder am Geschäftseingang angebracht (LI, 336). Es ist auch nicht nachvollziehbar, weshalb sie eine Telefonnummer auswendigen können sollte, wenn sie nie ein Telefon benutzt haben will. Die Beschwerdeführerin gab auf Nachfragen dazu Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift, S 13 f):
„R: Was wurde damals besprochen? Was wissen Sie noch zu dieser Situation?
BP: Die letzte Person, mit der ich gesprochen habe, war meine Mutter. Sie hat mir gesagt, ich soll das Land verlassen, weil mein Leben hier nicht sicher ist, weil mein Vater wird mich nicht in Ruhe lassen.
R: Was haben Sie über das Kontakthalten gesprochen? Was haben Sie besprochen, wie Sie in Kontakt bleiben könne?
BP: Können Sie das bitte für mich wiederholen?
R: Was haben Sie mit Ihrer Mutter besprochen, wie Sie in Kontakt bleiben können?
BP: Meine Mutter drückte mir einen Zettel in die Hand. Da stand eine Telefonnummer. Sie meinte, ich soll sie unter dieser Telefonnummer kontaktieren. Diesen Zettel hatte ich, aber ich habe ihn verloren.
R: Haben Sie diese Nummer jemals angerufen?
BF: Die Telefonnummer habe ich nicht mehr gespeichert und habe ich nicht mehr in Erinnerung und den Zettel habe ich verloren.
R: Wann haben Sie diesen Zettel verloren?
BP: Wann genau, weiß ich nicht. Ich glaube, als ich in das Auto eingestiegen bin.
R: Welches Auto?
BP: Das Auto, das mich geschleppt hat.
R: In Somalia oder in Serbien?
BP: In Somalia noch.
R: Wann sind Sie draufgekommen, dass Sie den Zettel verloren haben?
BP: Sehr spät erinnerte ich mich, dass ich den Zettel nicht mehr habe.
R: Was haben Sie dann gemacht?
BP: Dass ich keinen Zettel mehr habe? Nichts, so habe ich die Sache vergessen.“
Die Beschwerdeführerin beteuerte auch mehrmals, sie habe keine Lösung, wie sie mit ihrer Familie in Kontakt treten könne, sie habe niemanden, der ihre Familie für sie finden könne und habe sie von niemandem eine Telefonnummer (VHS, 12 f). Konkrete Schritte, um ihre Familie zu finden, hat die Beschwerdeführerin demnach nicht gesetzt, obwohl sie Social Media benutzt und einen Facebook-Account hat (VHS, 14), weshalb durchaus Möglichkeiten bestünden, Kontakt zu ihrer Familie herzustellen. Auch bei diesem Thema kamen von der Beschwerdeführerin oft Nachfragen selbst bei einfachen Fragen, so als wolle sie sich Zeit für eine „richtige“ Antwort verschaffen, oder nur unkonkrete Antworten, sodass der Eindruck entstand, dass sie entgegen ihren Behauptungen sehr wohl seit ihrer Ausreise ununterbrochen Kontakt zu ihrer Familie hat, dies aber nicht offenbaren wollte.
Die Feststellung zum Familienstand und dass die Beschwerdeführerin keine Kinder hat, beruht auf ihren glaubwürdigen Angaben im Verfahren (EB, AS 3 und 5; EV, AS 63; VHS, 14), auch auf konkrete Nachfrage der Richterin gab sie an, nicht verheiratet zu sein (VHS, 14). Diesbezüglich wird auch auf die Ausführungen zu den Fluchtgründen unter Punkt II.2.3.2. verwiesen. Die Feststellung, dass in Österreich keine Familienangehörigen der Beschwerdeführerin leben, war aufgrund ihrer Angabe bei der Erstbefragung und vor dem Bundesamt zu treffen (EB, AS 5; EV, AS 67), auch sind keine anderweitigen Informationen diesbezüglich hervorgekommen.
An der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin in Somalia beschnitten wurde, besteht aufgrund der Angaben der Beschwerdeführerin (VHS, 7) und der Länderinformationen, in denen von einer nach wie vor hohen Beschneidungsrate von mindestens 90 % die Rede ist, kein Zweifel. Unstimmig und letztlich nicht glaubwürdig waren jedoch die Umstände der Beschneidung, wie die Beschwerdeführerin sie im Verfahren schilderte. Die Beschwerdeführerin gab an, sie sei im Alter von XXXX Jahren beschnitten worden. „Meine Mutter und mein Vater haben das durchgeführt.“ Auf Nachfrage erklärte sie: „Meine Eltern haben mir gesagt, dass sie vorhaben mich zu beschneiden. Ich habe nein gesagt. Dann haben sie eine Beschneiderin geholt. Ich wurde gefesselt und dann wurde ich beschnitten. Ich war damals noch ein kleines Mädchen.“ (VHS, 7). Nicht nur, dass die Einschätzung der Beschwerdeführerin, sie sei zum Zeitpunkt der Beschneidung „noch ein kleines Mädchen“ gewesen, mit dem von ihr angegebenen Alter von XXXX Jahren nur bedingt vereinbar ist, werden Mädchen in Somaliland noch überwiegend (57 %) im Alter von 5 bis 9 Jahren beschnitten, auch wenn nicht verkannt wird, dass der Prozentsatz für die Alterskohorte 10 bis 14 Jahre mit 41 % ebenfalls relativ hoch ist (LI, 256). Zum Grund, weshalb ihre Eltern bzw. die Mutter sich relativ spät zur Durchführung der Beschneidung entschieden hätten, brachte die Beschwerdeführerin nichts vor. Den vorliegenden Länderberichten zufolge liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, üblicherweise bei der Mutter, der Vater wird hingegen wenig eingebunden, bzw. wird die Entscheidung „manchmal“ gemeinsam getroffen. Laut einer Quelle geht es bei dieser Entscheidung aber weniger um das „ob“ als vielmehr um das „wie und wann“. Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (LI, 254). Eine wichtigere Rolle spielt der Vater jedoch dann, wenn die Familie eine Beschneidung der Töchter ablehnt, da es dann leichter ist, dem allenfalls vorhandenen gesellschaftlichen Druck Stand zu halten (LI, 254). Den Länderberichten zufolge erfolgt die Beschneidung vor allem in städtischen Bereichen zunehmend durch medizinische Fachkräfte, mitunter auch in Kliniken oder Spitälern (LI, 255). In Somalialand wächst zudem seit vielen Jahren der Widerstand gegen weibliche Genitalverstümmelung. Einer Studie aus dem Jahr 2011 zufolge gaben nur 29 % der befragten Frauen an, die traditionelle Infibulation beibehalten zu wollen, wohingegen es fünf Jahre zuvor noch 65 % gewesen waren, der „Trend“ geht daher weg von der Form der Infibulation hin zu einer leichteren bzw. weniger invasiven Form, wie z. B. einer Sunna; Berichten zufolge handelt es sich dabei um ein Einstechen oder Einritzen der Klitoris und wird dies einer Quelle zufolge als positive Entwicklung bewertet (LI, 264 f). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu den Umständen ihrer Beschneidung steht daher nicht mit den unter Punkt I.1.3. festgestellten und zitierten Länderberichten zu weiblicher Genitalverstümmelung in Einklang. Da die Beschwerdeführerin selbst auch keine weiteren Angaben dazu machte, kann keine Feststellung zum Schweregrad der durchgeführten Beschneidung getroffen werden, auch wenn aufgrund ihrer glaubwürdigen Angaben, Probleme und Schmerzen bei der Menstruation zu haben (VHS, 7), zumindest WHO Typ II angenommen werden kann.
Da die Beschwerdeführerin angab, nicht regelmäßig in ärztlicher Behandlung zu stehen oder Medikamente einzunehmen (VHS, 6) und keine aktuellen medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, die Anhaltspunkte für eine chronische oder akute Erkrankung enthalten würden, konnte festgestellt werden, dass sie Beschwerdeführerin gesund ist.
Das Datum ihrer Ausreise und der Antragstellung auf internationalen Schutz in Österreich ergibt sich aus dem Verwaltungsakt (EB, AS 6 und 4). Ihre Ausreise im Juni 2022 schilderte sie darüber hinaus gleichbleibend bei ihren Einvernahmen (EB, AS 6; EV, AS 64), wodurch sich auch eine schlüssige Reiseroute und Zeitangaben der Aufenthalte ergeben. Widersprüchlich dazu gab sie in der mündlichen Verhandlung abweichend an, bereits im Mai 2022 Somalia verlassen zu haben (VHS, 19), und wird dies als nicht glaubwürdig erachtet. Zu den weiteren Umständen der Ausreise wird auch auf die Ausführungen zum Fluchtvorbringen unter Pkt. II.2.3.2. verwiesen.
Ihr subsidiärer Schutzstatus ergibt sich aus den Spruchpunkten II. und III. des verfahrensgegenständlichen Bescheides und der Einschau in das zentrale Fremdenregister, in dem die aktuelle Verlängerung des subsidiären Schutzstatus per XXXX eingetragen ist (OZ 2). Die Feststellung zur Unbescholtenheit im Bundesgebiet ergibt sich aus dem Strafregisterauszug vom 03.06.2025 (OZ 2).
2.3. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin:
2.3.1. Bei der Erstbefragung gab die Beschwerdeführerin an, sie hätte mit einem deutlich älteren Mann zwangsverheiratet werden sollen. Ihre Familie habe sie gegen ihren Willen mit diesem Mann verehelichen wollen. Ihr Vater habe von diesem Mann Geld genommen und es nicht mehr zurückgeben können, deshalb habe er sie verheiraten wollen. Sie habe daher Angst vor ihrem Vater (EB, AS 8).
Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt wiederholte sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen und führte konkreter aus, dass das Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern abgebrannt sei, sie hätten alles verloren. Ihr Vater habe von einem alten Bekannten Geld geliehen und das Geschäft wiedereröffnet. Der Bekannt habe dann sein Geld zurückverlangt, der Vater habe es nicht bezahlen können. Ohne dass ihr Vater sie gefragt habe, habe er sie mit dem älteren Mann zwangsverheiratet, es sei sozusagen ein Tausch gewesen. Es sei ein Imam nach Hause geholt worden, um die Ehe zu bestätigen. Sie habe ihrem Vater gesagt, dass sie den Mann nicht heiraten wolle, weil er alt sei und eine Familie mit Kindern in ihrem Alter habe. Der Vater habe sie daraufhin im Zimmer eingesperrt und sie geschlagen. Auch ihre Brüder hätten sie gefoltert. Man habe sie fünf Tage lang eingesperrt, sie habe nichts zu essen oder trinken bekommen. Dann habe ihre Mutter sie befreit und zu einer Freundin gebracht, von dort habe sie der Schlepper nach Äthiopien gebracht (EV, AS 65).
Das Bundesamt begründete die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der fehlenden Substanz und Plausibilität ihrer Angaben. Anhaltspunkte für Gründe, die zu einer Verfolgung führen könnten, seien nicht ansatzweise hervorgekommen. Aufgrund der prekären Sicherheitslage und mangelnder familiärer oder privater Anknüpfungspunkte in einem anderen Teil ihres Heimatlandes würde ihr als alleinstehende Frau mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine menschenunwürdige Behandlung drohen, weshalb ihr subsidiärer Schutz zuerkannt werde (Bescheid, S 42 f).
In der Beschwerde wurde nochmals ausgeführt, dass der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr zu ihrer Familie die Zwangsverheiratung durch ihren Vater oder auch Vergeltungsmaßnahmen drohen, weil sie der Familie Schande zugefügt habe. Als alleinstehende Frau ohne familiäres Netzwerk und männlichen Schutz müsste sie in einem IDP-Lager unterkommen, wo sie der realen Gefahr geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt wäre.
In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde die Beschwerdeführerin neuerlich zu ihren Fluchtgründen befragt und wiederholte sie die im erstinstanzlichen Verfahren vorgebrachte Fluchterzählung.
2.3.2. Der Grund für das Verlassen ihres Herkunftsstaates, eine (drohende) Zwangsehe mit einem älteren Mann, ist jedoch nicht glaubhaft, da ihre ungenaue Erzählung zu Widersprüchen in ihrem Vorbringen führte.
Bereits zum Brand des Geschäftes ihrer Eltern, weshalb sich der Vater danach Geld geborgt habe, waren ihre Angaben nicht nachvollziehbar. Auf die konkrete Frage, wann der Brand gewesen sei, antwortete sie zwar immer, dass es im April bzw. Anfang April 2022 gewesen sei (EV, AS 66; VHS, 21), in der freien Erzählung gab sie jedoch an, dass ihr Vater dem Mann, mit dem er sie zwangsverheiraten habe wollen, Geld schulde, weil: „Es war schon einmal, dass das Geschäft meines Vaters abgebrannt war und hat er sich damals Geld von ihm geliehen.“ (VHS, 20). Wenn sich der Brand kurz vor ihrer Ausreise ereignet hätte, ist es nicht nachvollziehbar, das die Beschwerdeführerin von „schon einmal“ und „damals“ sprach. Zudem erscheint es unlogisch, dass jemand Geld für einen Wiederaufbau eines Geschäftes verborgt, dann aber nur einen Monat später den vollen Betrag zurückverlangt, eine Erwirtschaftung des Betrages binnen so kurzer Zeit kann wohl auch in Somalia der allgemeinen Lebenserfahrung nach nicht erwartet werden. Ebenso merkwürdig war in der Erzählung der Beschwerdeführerin, dass sie sich an nahezu nichts erinnern konnte, das mit dem Brand in Zusammenhang stand, obwohl sie vorbrachte, dass Geschäft habe sich direkt neben dem Wohnhaus befunden: „Es war genau neben unserem Haus.“ (VHS, 17), und es sei „alles zerstört“ worden (VHS, 21). Von der Richterin zum Brand befragt, erzählte sie nur wenige Erinnerungen, die jedenfalls nicht den Eindruck vermitteln, als hätte sie tatsächlich einen Brand neben dem Wohnhaus im Geschäft ihrer Eltern erlebt (Auszug aus der Verhandlungsschrift, S 21 f):
„R: Woran können Sie sich im Zusammenhang mit dem Brand des Lebensmittelgeschäfts noch erinnern?
BP: Es war ein ganz normales Geschäft. Dort wurden Lebensmittel, Obst und Gemüse verkauft.
R: Woran können Sie sich im Zusammenhang mit dem Brand des Lebensmittelgeschäfts noch erinnern? Was haben Sie davon noch in Erinnerung?
BP: Ja, im April 2022 wurde unser Geschäft/Lokal verbrannt. Alles war total zerstört.
R: Können Sie sich noch an etwas Anderes erinnern?
BP: Nein.
R: Kommen solche Brände häufig vor?
BP: Ja, manchmal.
R: Wie groß war dieses Geschäft?
BP: Es war nicht so groß und auch nicht so klein. Es war mittel.
R: Würden Sie sagen, es wäre so groß wie dieser Saal (Verhandlungssaal 3) oder die Hälfte dieses Saales?
BP: Von der Richterbank, auf Höhe der Parteien bis nach hinten, hinter die Richterbank. Es war hochgebaut.
R: Wann war dieser Brand? Wie lange hat es gebrannt? Warum hat es gebrannt?
BP: Warum das Geschäft verbrannt wurde oder wie, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber wir sagen, dass unser Geschäft verbrannte.
R: War es das erste Mal, dass das Geschäft brannte?
BP: Ja, das war das erste Mal.
R: Wie lange hatten Ihre Eltern dieses Geschäft gehabt?
BP: Sehr lange.“
Die Beschwerdeführerin war in ihren Angaben zum Brand des Geschäftes bereits nicht glaubwürdig, es ist nicht nachvollziehbar, dass sie dazu keine Erinnerungen schildern konnte, auch keine Gefühle, wie z. B. Ängste, was zu erwarten wäre, wenn das Geschäft direkt an das Wohnhaus angrenzen würde, zumal sie vorbrachte, immer zu Hause gewesen zu sein, da sie nicht hinausgehen habe dürfen. Folglich zieht dies auch das weitere Fluchtvorbringen stark in Zweifel, die von weiteren Widersprüchen und Unstimmigkeiten bestärkt werden.
Befragt, wie sie von der geplanten Zwangsheirat erfahren habe, gab die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung zunächst an, sie habe gerade das Mittagessen gekocht, als ihr Vater nach Hause gekommen sei und ihr gesagt habe, sie solle sich vorbereiten, da er sie bei Sonnenuntergang dem Mann übergeben werde (VHS, 20). Später beschrieb sie die Situation abweichend wie folgt: „Alle waren dort, haben gerade Mittagessen gegessen. Der Vater kam zu uns und sagte: „Heute hat deine Meher stattgefunden. Du bist schon vergeben. Bereite dich vor. Später bringe ich dich zu dem Mann.“ Wir alle waren im Schock und haben gefragt, wer er ist und er hat mir gesagt, wer er ist. Dann habe ich sofort nein gesagt.“ (VHS, 25). Auf Vorhalt eines Berichts aus der Landinfo, Somalia, antwortete die Beschwerdeführerin nur ausweichend (Auszug aus der Verhandlungsschrift, S 25):
„R: Wann hat die Meher/Trauung stattgefunden?
BP: Der Meher hat am 15., weil am selben Tag, war auch der 15. Ich kann mich genau erinnern.
R: Ich zitiere aus einem Bericht der Länderinfo, Landinfo, Somalia: Ehe und Scheidung in der Fassung des Übersetzungsdienstes der Europäischen Kommission. Punkt 5.2. Mitgift (Meher). „Neben dem Brautpreis, den die Familie der Braut erhält, hat die Frau nach islamischen Recht Anspruch auf Mitgift (Meher) des Ehegatten. Die Mitgift wird im Ehevertrag festgelegt und ist Voraussetzung für eine gültige Ehe.“ Was sagen Sie dazu?
BP: Ja mein Vater sagt, du bist schon vergeben und das bedeutet, dass eine Nikaah schon stattgefunden hat.“
Ihr ungenaues Vorbringen zum Ablauf der Eheschließung und den Erfordernissen steht mit den vorliegenden Länderinformationen zur Ehe nicht in Einklang. Die Nikaah ist der rechtsverbindliche Vertrag, der zwischen den Parteien (Eheleuten) gegenüber dem Imam und in Anwesenheit zweier Zeugen geschlossen wird und in dem die Mitgift (Meher) festgelegt wird. Bei der eigentlichen Zeremonie wird die Frau der Tradition entsprechend von einem männlichen Vormund vertreten, der der Ehe zustimmen muss (vgl. Landinfo, Pkt. 5 und 5.2). Der Ehevertrag selbst muss vom Ehepaar, dem Vormund, den Zeugen und dem Imam unterfertigt werden (LI, 246). Anhand dieser Länderberichte ist nicht nachvollziehbar, was die Beschwerdeführerin meinte, wenn sie angab „Heute hat deine Meher stattgefunden.“, da die Mitgift nur vereinbart und übergeben wird, jedoch nicht „stattfindet“. Die Beschwerdeführerin gab auch widersprüchlich an, dass ihr Vater sie auch „zweifellos“ ohne ihre Erlaubnis verheiraten könne (VHS, 21). Kurz zuvor antwortete sie auf die Frage, weshalb sie nicht einfach zu dem Mann gebracht, sondern im Zimmer eingesperrt worden sei hingegen noch: „Er wollte, dass ich zu ihm ja sage, damit er mich zu diesem Mann bringt und deshalb hat er mich dort einsperren lassen, weil er brauchte auch meine Erlaubnis.“ (VHS, 21). Vor dem Bundesamt brachte die Beschwerdeführerin vor, dass die Hochzeit am 15.05.2022 stattgefunden habe (EV, AS 66). Bereits an dem Tag, an dem ihr Vater ihr von der angeblichen Zwangsverheiratung erzählt habe, sei ein Imam nach Hause geholt worden, der die Verheiratung bestätigt habe (EV, AS 65). Dieses Vorbringen steht in Widerspruch zu ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung, wo sie einerseits mit keinem Wort einen Imam erwähnte, und andererseits davon sprach, dass der Vater sie bei Sonnenuntergang zu dem Mann bringen habe wollen (VHS, 20 f) und gab sie auch an, zwar „vergeben“, aber noch vor der Heirat geflüchtet zu sein (VHS, 14).
Die Beschwerdeführerin brachte weiter vor, dass ihr Vater sie dann in einem Zimmer eingesperrt habe, nachdem sie gesagt habe, dass sie den Mann nicht heiraten wolle. Vor dem Bundesamt gab sie dazu an (Auszug aus der Niederschrift der Einvernahme, AS 65): „Mein Vater sperrte mich in ein Zimmer ein, fesselte mich mit Ketten an beiden Füßen und Händen und hat mich niedergeschlagen mit einem Holzstück […]. […] Die Familie sperrte mich im Zimmer für 5 Tage lang ein und meine zwei Brüder haben mich ebenfalls gefoltert. Sie haben kaltes Wasser über mich geschüttet. Sie haben mich geschlagen, mich am Kopf mit einem Glas geschlagen. Dadurch habe ich eine offene Wunde bekommen und habe geblutet. Ich habe mir meinen Ellbogen dadurch gebrochen. In diesen 5 Tagen haben mich mein Vater und meine Brüder mich gefoltert, gequält und haben mir kein Essen und Trinken gegeben, nur geschlagen und beschimpft. Meine Mutter konnte mir nicht helfen. Eines Tages hat meine Mutter den Mut zu sich genommen, hat mich befreit und zu einer Freundin gebracht.“ Obwohl die Beschwerdeführerin angab, dass damals ihr Ellbogen gebrochen sei, schilderte sie nichts von den Schmerzen, die sie dadurch erlitten haben müsste, wie sie damit die (Aus-)Reise bewerkstelligte oder ob die Verletzung behandelt worden wäre. Es wird nicht übersehen, dass die Beschwerdeführerin im Verfahren medizinische Unterlagen vom März 2024 vorlegte, durch die ein verheilter Bruch bestätigt wird (vgl. AS 71 f), jedoch lassen sich daraus keine Schlüsse auf die Ursache oder den Zeitpunkt ableiten, wann diese Verletzung entstanden ist. In der mündlichen Verhandlung wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, sich an diese fünf Tage des Eingesperrtseins zu erinnern und davon zu erzählen und erwähnte sie einen Bruch des Ellbogens, der der allgemeinen Lebenserfahrung nach schmerzhaft ist, mit keinem Wort (vgl. VHS, 19 ff). Abweichend von ihrem Vorbringen vor dem Bundesamt beschrieb sie auch nicht mit einem Glas, sondern mit einem Gürtel geschlagen worden zu sein (VHS, 20). Erstmals gab sie auch an, dass es im Zimmer „immer“ dunkel gewesen sei, weil der Strom abgedreht worden sei, zumindest in der Nacht sei es immer dunkel gewesen, das Zimmer habe ein Fenster gehabt (VHS, 23). Abweichend von ihrem Vorbringen, fünf Tage lang nichts zu essen und zu trinken bekommen zu haben (EV, AS 65), gab sie in der mündlichen Verhandlung auch an, ihre Mutter habe ihr heimlich Essen und Wasser durch das Fenster gegeben (VHS, 24).
Schließlich waren auch die Angaben der Beschwerdeführerin, wie ihr die Flucht aus dem Zimmer gelungen sei und wie sie dann Somalia verlassen habe, unstimmig und widersprüchlich. Vor dem Bundesamt brachte die Beschwerdeführerin zunächst vor, ihre Mutter habe ihr nicht helfen können (EV, AS 65); unmittelbar danach sagte sie aber: „Eines Tages hat meine Mutter den Mut zu sich genommen und hat mich befreit und mich zu einer Freundin gebracht.“ (EV, AS 65). In der mündlichen Verhandlung wurde die Beschwerdeführerin nochmals genauer befragt, wie sie aus dem Zimmer entkommen konnte, und gab sie dazu Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift, S 24):
„R: Wie konnte Ihre Mutter das bewerkstelligen, ohne entdeckt zu werden oder wurde sie entdeckt?
BP: Ich weiß nichts. Ich weiß nur, dass es fast dunkel draußen war, man sah gerade noch den Sonnenuntergang, als sie mich vom Zimmer rausbrachte. Sie sagte, dass sie den Schlüssel vom Vater geklaut hat und hat alles schnell, schnell, die Türe aufgesperrt und mich entfesselt und wir sind schnell rausgerannt und sie brachte mich zu ihrer Freundin.
R: Hat das irgendjemand beobachtet?
BP: Nein, ich hätte nichts bemerkt. Es war fast dunkel. […]“
Aufgrund der Beschreibung des Wohnhauses, wonach das Haus aus zwei Zimmern, Küche und Bad bestanden habe und die zwei Zimmer „ganz eng“ beieinanderlagen (VHS, 11), ist es nicht nachvollziehbar, dass ihre Befreiung so abgelaufen ist, ohne dass ihr Vater oder die Brüder dies mitbekommen hätten, wie die Beschwerdeführerin dies darstellte. Sie erwähnte auch nicht, dass ihr Vater und die Brüder nicht zu Hause gewesen wären oder weshalb diese nichts davon mitbekommen hätten können. Zuletzt ist noch darauf hinzuweisen, dass auch das Vorbringen zur Art der Ausreise unstimmig war, da sie in der Erstbefragung angab, Somalia im Juni 2022 über den Luftweg verlassen zu haben (EB, AS 6) und als erstes Land nach der Ausreise die Türkei angab (EB, AS 7). Vor dem Bundesamt gab sie lediglich an, von Somalia nach Äthiopien gebracht worden zu sein, von dort sei sie 20 Tage später in die Türkei gereist (EV, AS 64 f). In der mündlichen Verhandlung gab sie zu ihrer Ausreise befragt an, dass ihre Mutter sie zu der Freundin gebracht habe, die ihr dann den Mann vermittelt habe, der sie bis zum Flughafen gebracht habe (VHS, 19), in Somalia sei sie auch in einem Auto mitgefahren (VHS, 14). Einen Aufenthalt in Äthiopien erwähnte sie nicht mehr.
Das Erinnerungsvermögen ist sehr persönlich und variiert von Mensch zu Mensch und kann aufgrund bestimmter Faktoren auch unterschiedlich ausfallen, darunter Alter oder traumatische Erfahrungen. Erinnerungen verändern sich auch, sodass Einzelheiten in Vergessenheit geraten oder Erlebnisse durch das Erinnern verzerrt oder anders dargestellt werden können oder der Kontext, in dem die Erzählung stattfindet, die Erinnerung beeinflusst. Auch durch Zeitablauf geraten Erinnerungen in Vergessenheit, gleichzeitig kann aber das gemeinsame Sprechen über Erinnerungen auch dazu führen, dass man sich wieder an mehr Details erinnert („Reminiszenz“ - EASO, Richterliche Analyse, Beweiswürdigung und Glaubhaftigkeitsprüfung im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, 2018, S 190). Bei der Beschwerdeführerin war besonders auffällig, dass sie keine spontanen Erinnerungen, die ihr bei der inneren Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung oder bei der, mit ihrer Rechtsvertretung erfolgten, Besprechung der Verhandlung wieder eingefallen wären, preisgeben konnte. Auch wies ihre Aussage keine sogenannten Realitätsmerkmale auf, die das Wesen eines gehabten Erlebnisses kennzeichnen, auf (vgl. dazu Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5. Auflage, 100-121). In der Erzählung fehlte die Beschreibung von Gesprächen oder Interaktionen oder berichtete Komplikationen im Handlungsablauf oder auch scheinbare Nebensächlichkeiten. Neben den fehlenden Details brachte die Beschwerdeführerin auch wenig Emotion zum Ausdruck. Das Aussageverhalten der Beschwerdeführerin erweckte den Eindruck, dass die von ihr zur Begründung ihres Antrags auf internationalen Schutz dargelegten Erlebnisse so nicht stattgefunden haben.
Zusammengefasst war die Beschwerdeführerin weder in Bezug auf ihre allgemeinen Lebensumstände, noch die vorgebrachte drohende Zwangsehe mit einem älteren Mann glaubwürdig. Es wird nicht verkannt, dass arrangierte Ehen in Somalia üblich sind und die Grenze zur Zwangsehe fließend ist bzw. diese bei unverheirateten Mädchen und Frauen auch denkbar ist (vgl. LI, 246 f). Die Erzählungen der Beschwerdeführerin waren jedoch sehr vage und unstimmig, auf Nachfragen wich sie oftmals aus bzw. fragte selbst bei einfach zu beantwortenden Fragen zu ihrem bisherigen Leben in Somalia nochmals nach und stimmt das Vorbringen auch in einigen wesentlichen Punkten nicht mit den vorliegenden Länderberichten überein, sodass ihr das Vorbringen zur vom Vater arrangierten Zwangsehe, mit der er seine angeblichen Geldschulden begleichen wollte, nicht geglaubt wird.
Die Feststellungen zum Risiko, als Frau geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt zu sein, ergeben sich maßgeblich aus den einschlägigen Länderinformationen (LI, 237 ff). Daraus geht hervor, dass Gewalt gegen Frauen sowohl in der Form von häuslicher und sexueller Gewalt weiterhin ein großes Problem in Somalia darstellt. In den letzten zwei Berichtszeiträumen (2021 und 2022) kam es zu einem Anstieg an Fällen, ebenso im Jahr 2023 (EUAA, Country Focus, 31), wobei sich mehr als die Hälfte der Vorfälle im Wohnbereich der Opfer ereignete. Der überwiegende Teil der Vergewaltigungsopfer betrifft interne Vertriebene in Lagern (IDPs) mit 74 %, danach folgen Angehörige von Minderheiten. Auch wenn Vergewaltigung gesetzlich verboten ist, bleiben Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen in der Regel straffrei, wenn auch kleinere Fortschritte im Bereich der Strafverfolgung, z. B. durch den Einsatz von Staatsanwältinnen und Sensibilisierungsmaßnahmen, erzielt werden. In diesem Zusammenhang sind auch Fälle konfliktbezogener Gewalt gegen Frauen, bei denen die Täter in der Regel unbekannt und straffrei bleiben, zu erwähnen. Auch in Somaliland bleibt häusliche Gewalt ein Problem (LI, 243). Eine NGO führt Frauenhäuser in Hargeysa, Borama und Burco, deren Angebot sich an Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und von FGM richten, sie dienen auch dem Kinderschutz. Die Dienste erfolgen kostenlos und arbeiten die Häuser auch mit der Polizei zusammen. Im Jahr 2021 wurde auch eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, an die sich Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt wenden können. Die Hotline wurde bereits von Beginn an gut angenommen (LI, 244).
Das Risiko, als Frau Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt in Somalia zu werden, stellt sich für Frauen, die durch ihre Lebenssituation besonders vulnerabel sind, noch um ein Vielfaches höher dar. Die Vulnerabilität entsteht aufgrund von Umsiedelungen und schwierigen Lebensbedingungen, oft in Kombination mit der Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan oder dem Fehlen von männlichen Bezugspersonen, die Frauen in Vertriebenenlager zwingt. Der Berichtslage ist daher einheitlich ein großes Ausmaß an geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Frauen zu entnehmen, gleichzeitig wird aber auch übereinstimmend berichtet, dass das hohe Risiko, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden, vor allem für die Gruppe von alleinstehenden Frauen, die einem Minderheitenclan angehören, besteht. Eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass jede Frau in Somalia Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt wird, ist den Länderinformationen nicht zu entnehmen. Auch in den Länderinformationen, die in Auszügen in der Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 29.09.2025 abgedruckt sind, wird explizit auf die besondere Gefährdung von binnenvertriebenen, alleinstehenden, geschiedenen und / oder verwitweten Frauen Bezug genommen, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden.
Wie zuvor festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt geht vom Vater der Beschwerdeführerin keine Gefahr für diese aus. Die Beschwerdeführerin kann und würde daher im Fall ihrer Rückkehr in ein familiäres Netz zurückkehren und ist zudem keine Angehörige eines Minderheitenclans, sodass diese Konstellation, in der das Risiko, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden, um ein Vielfaches höher wäre, auf sie nicht zutrifft. Die Beschwerdeführerin kann sich auf den Schutz der Familie, wie dieser auch in den Länderinformationen beschrieben ist, verlassen. Frauen, die einem Mehrheitsclan angehören, können mit einem gewissen Schutz rechnen (LI, 240).
Zur Feststellung, dass keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Beschwerdeführerin Opfer einer Zwangsehe wird, wird auf die vorigen Ausführungen zum Fluchtvorbringen verwiesen.
Die Praxis der Beschneidung ist nach wie vor beherrschend in Somalia, die Prävalenz liegt bei über 90 %. Die Beschwerdeführerin wurde in Somalia beschnitten, sie hat deshalb Beschwerden bei der Menstruation (VHS, 7). Eine wiederholte Beschneidung, sei es nach einer Defibulation, einer Geburt oder weil die Beschwerdeführerin einer geringradigeren Klassifikation der Verstümmelung ausgesetzt war, wäre in erster Linie vom Willen der betroffenen Frau abhängig. Die Länderinformationen zu Somalia führen hierzu aus, dass die Entscheidung über eine Reinfibulation nach der Geburt in erster Linie bei der Frau liege, auch gibt es keine Berichte darüber, dass eine defibulierte Rückkehrerin aus Somalia dort zwangsweise reinfibuliert wäre, was auf die Bedeutung des Willens der erwachsenen Frau hindeutet (LI, 267 ff). Dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr der Gefahr einer erneuten Beschneidung ausgesetzt ist, erscheint demnach nicht maßgeblich wahrscheinlich und wurde auch nicht konkret vorgebracht.
Es wird auch nicht übersehen, dass Frauen in Somalia in der Realität kaum politische Rechte haben, in Entscheidungsprozesse nicht eingebunden sind und entgegen dem gesetzlichen Verbot der Diskriminierung von Frauen, diese nach wie vor bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung Diskriminierung erfahren (LI, 235 f). Im Parlament ist eine verpflichtende Frauenquote von 30 % weiblicher Abgeordneter vorgesehen. Frauen gelingt es immer besser, ihre sozialen und politischen Rechte wahrzunehmen, die Zahl an Mädchen, die die Schule besuchen steigt ebenso wie die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst (LI, 237). Auch in Somaliland stellt sich die Lage nicht wesentlich anders dar, als in Süd-/Zentralsomalia (LI, 243).
Zusammengefasst stellt sich daher die Lage für Frauen in Somalia als problematisch, gewaltbetroffen und diskriminierend dar. Die Intensität der Diskriminierung und das Ausmaß der Gewaltbetroffenheit hängen jedoch maßgeblich von der individuellen Situation der Frauen, insbesondere von ihrer Herkunft, Clanzugehörigkeit und ihrem familiären und ökonomischen Umfeld ab. Auch wenn nach wie vor in ganz Somalia eine systematische Unterordnung der Frauen unter die Männer besteht, ist eine allgemeine und jede Frau in Somalia gleichermaßen betreffende schwerwiegende Diskriminierung oder geschlechtsspezifische Gewalt nicht feststellbar und war eine solche auch gegenüber der Beschwerdeführerin nicht glaubwürdig.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen, insbesondere auf die Länderinformationen der Staatendokumentation zu Somalia in der Fassung vom 07.08.2025. Da dieser aktuelle Länderbericht auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruht und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbietet, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A):
3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).
Eine soziale Gruppe wird anhand von zwei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen, definiert. Erstens müssen die Personen, die ihr angehören, mindestens eines der folgenden drei Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich „angeborene Merkmale“, „einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine „deutlich abgegrenzte Identität“ haben, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 RL 2011/95). Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. VwGH 12.12.2023, Ro 2023/14/0005 mwN). Allein die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, stellt ein angeborenes Merkmal dar und kann ausreichen, um die erste Voraussetzung für die Definition der sozialen Gruppe, das „angeborene Merkmal“, zu erfüllen (EuGH, 16.01.2024, WS, C-621/21, Rn 40; UNHCR-Richtlinien zum internationalen Schutz: Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 07.Mai 2002, Pkt. 30).
Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen. (Vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0472.) Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 12.03.2020, Ra 2019/0170472).
3.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der Beschwerdeführerin, in ihrem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist.
Die Beschwerdeführerin stammt aus der Stadt XXXX in der Region Togdheer, Somaliland, und hat bis zur Ausreise aus Somalia dort gelebt.
Wie beweiswürdigend ausgeführt wurde, war ihr Vorbringen zur Zwangsehe und der damit einhergehenden Verfolgung unstimmig, widersprüchlich und oftmals detailarm. Es ist der Beschwerdeführerin in einer Gesamtbetrachtung nicht gelungen, eine Gefährdung durch ihren Vater in Zusammenhang mit der von ihm angestrebten Zwangsverheiratung zur Begleichung seiner Schulden sowie ihrer Weigerung, und damit eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Auch die Tatsache, dass sie in Somalia eine alleinstehende Frau ohne Familie wäre, war auf Basis ihres Vorbringens in Kombination mit den Länderberichten, vor deren Hintergrund das Vorbringen plausibel sein muss, objektiv nicht nachvollziehbar und daher nicht glaubhaft. Die Beschwerdeführerin erweckte durch ihr zögerliches und unstimmiges Aussageverhalten den Eindruck, nicht von ihrem alltäglichen Leben in Somalia erzählen zu wollen, um mögliche Widersprüche in ihrem Vorbringen zu vermeiden und das Fluchtvorbringen aufrecht zu erhalten, was letztlich aber aufgrund zahlreicher Widersprüche und des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung dazu führte, dass sie persönlich nicht glaubwürdig war.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung, die in einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte oder in einer Kumulierung von Maßnahmen mit erheblicher Eingriffsintensität besteht, konnte von der Beschwerdeführerin nicht glaubhaft gemacht werden; dies insbesondere auch nicht wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. Diese allein führt den Feststellungen zufolge in Somalia nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung. Die Situation von Frauen ist wesentlich bestimmt von der familiären und wirtschaftlichen Situation und von ihrer Clanzugehörigkeit. Es ist auch nicht jede Frau von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen, das individuelle Risiko hängt von der Lebenssituation der Frauen ab und unterliegt die Beschwerdeführerin keinem Risiko, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden.
Die Beschwerdeführerin gehört nicht zur Gruppe jener Frauen, die alleinstehend in Somalia sind, da sie ihre dargestellte familiäre Situation nicht glaubhaft machen konnte. Auf Basis der Länderinformationen und ihres vagen Vorbringens war die Feststellung zu treffen, dass die Beschwerdeführerin in Somalia über ein familiäres Netz, dem auch männliche Bezugspersonen angehören, verfügt. Sie war bisher keiner maßgeblichen Diskriminierung und, abgesehen von der erlittenen Beschneidung, keiner sexuellen oder geschlechtsspezifischen Gewalt ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin würde im Falle einer Rückkehr entsprechend den getroffenen Feststellungen und den Ausführungen zwar als unverheiratete, jedoch nicht als alleinstehende, erwachsene Frau zurückkehren. Sie verfügt in Somalia über ein familiäres Netz, dem erwachsene, männliche Familienangehörige angehören.
Die Beschwerdeführerin gehört auch nicht zur Gruppe der unbeschnittenen Frauen. An der Beschwerdeführerin wurde bereits im Kindesalter eine Beschneidung durchgeführt. Nach Einschätzung von UNCHR kann auch eine bereits vorgenommene weibliche Genitalverstümmelung eine asylrelevante Verfolgung begründen, sei es wegen schweren, oft lebenslang schädigenden Konsequenzen physischer und psychischer Art des ursprünglichen Eingriffs oder der Gefahr einer Vornahme weiterer Genitalverstümmelungen (anderer Form, etwa anlässlich einer Eheschließung oder Geburt eines Kindes (vgl. VfGH 09.06.2017, E2687/2016). Die Beschwerdeführerin war aufgrund der im Kindesalter durchgeführten Verstümmelung ihrer Genitale, die deutlich über 90 % der somalischen Frauen erleiden, bereits geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wurde jedoch bezogen auf die Beschwerdeführerin festgestellt, dass daraus eine solcherart wiederholte Gewaltausübung nicht ableitbar ist, da insbesondere eine Reinfibulation nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht.
Die Beschwerdeführerin weist, abgesehen von ihrer Geschlechtszugehörigkeit, keine zusätzlichen unveränderlichen Merkmale oder verinnerlichten Haltungen auf, die sie mit anderen Frauen gemein hat und die zur Wahrnehmung dieser Gruppe mit abgegrenzter Identität führen und Ursache einer schwerwiegenden Verfolgung dieser Gruppe sein können.
Die Beschwerdeführerin ist daher im Fall einer hypothetischen Rückkehr nach Somalia nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus Gründen von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, politischer Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ausgesetzt, weil sie kein diesbezügliches glaubwürdiges Vorbringen erstattete und auch amtswegig keine Verfolgungsgefahr aus einem dieser Gründe festgestellt wurde.
Entsprechend den oben getätigten Ausführungen droht der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat Somalia keine asylrelevante Verfolgung, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen war.
3.2. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
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