JudikaturVfGH

E2687/2016 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
09. Juni 2017

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Im Jahr 2013 reiste die Beschwerdeführerin, eine zum damaligen Zeitpunkt minderjährige somalische Staatsangehörige, in das Bundesgebiet ein und beantragte internationalen Schutz. Den maßgeblichen Antrag begründete sie im Kern mit ihrer besonderen Situation auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit (zum Minderheitenclan der Ashraf) und mit ihrer Furcht vor der Rache ihres zur Al Shabaab gehörenden Onkels – der sie zwangsverheiraten habe wollen und dessen Geld ihre Mutter heimlich zur Finanzierung der Flucht genommen habe. Aus im Verwaltungsverfahren eingeholten medizinischen und jugendpsychiatrischen Gutachten aus 2014 ergaben sich ein Mindestalter der Beschwerdeführerin im Untersuchungszeitpunkt von ungefähr 16 Jahren und eine ängstlich-depressive Anpassungsstörung.

2. Mit Bescheid vom 17. Juni 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) den Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß §8 Abs4 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.). Die Abweisung des Asylantrages ist im Wesentlichen damit begründet, dass das – für detailarm und konstruiert wirkend befundene – Fluchtvorbringen nicht glaubwürdig sei; selbst bei Wahrunterstellung liege allenfalls eine nicht dem Staat zurechenbare Verfolgung durch eine Privatperson vor, die als familiäre Streitigkeit nicht asylrelevant sei. Die Zuerkennung subsidiären Schutzes stützt das BFA im Kern auf die diagnostizierte ängstlich-depressive Anpassungsstörung der Beschwerdeführerin.

3. Die nur gegen Spruchpunkt I. des Bescheides gerichtete Beschwerde macht – gestützt auf diverse (UNHCR-)Dokumente – im Kern sowohl eine kindes-, als auch eine geschlechtsspezifische Verfolgung der Beschwerdeführerin infolge Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen und Mädchen im Zusammenhang mit ihrer Volksgruppenzugehörigkeit geltend. Dabei wendet sie sich sowohl gegen die Beweiswürdigung als auch die rechtliche Beurteilung der belangten Behörde, die den Grundsatz der Offizialmaxime und der materiellen Wahrheit sowie die erhöhte Ermittlungspflicht bei unbegleiteten Minderjährigen verletzt und zudem die Minderjährigkeit und den psychischen Zustand der Beschwerdeführerin außer Acht gelassen habe.

4. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im August 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht diese Beschwerde ab. In der Begründung weist das Bundesverwaltungsgericht explizit darauf hin, dass psychischer Zustand und Minderjährigkeit der Beschwerdeführerin in die Glaubwürdigkeitsprüfung miteinzubeziehen seien. Daraus resultierende Erinnerungslücken könnten jedoch die erst in der mündlichen Verhandlung dargelegten "massiven Details" nicht restlos erklären, deren Darlegung "schon früher im Verfahren" zu erwarten gewesen wäre. Auch auf Grund des im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks sei das zur Begründung des Asylantrags erstattete Vorbringen (hinsichtlich der Volksgruppenzugehörigkeit und drohenden Zwangsverheiratung auf Geheiß des Onkels als fluchtauslösendes Ereignis sowie der Diebstahl von Geldmitteln der Al Shabaab) letztlich nicht für glaubwürdig zu befinden.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973), auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art20 GRC), auf Asyl (Art18 GRC) sowie auf einen effektiven Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art47 GRC) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Im Kern moniert die Beschwerde dabei eine qualifiziert rechtswidrige Glaubwürdigkeitsprüfung und Ermittlungsmängel hinsichtlich der Volksgruppenzugehörigkeit und des Fluchtweges. Das vom Bundesverwaltungsgericht für die Unglaubwürdigkeit ins Treffen geführte detaillierte Vorbringen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erkläre sich zum einen durch die monatelange psychologische Aufarbeitung der fluchtauslösenden Ereignisse; zum anderen durch die dahingehend intensive Befragung durch das Bundesverwaltungsgericht. Der Beschwerdeführerin ihre Mitwirkung in Form einer detailreichen Schilderung ihrer Fluchtgeschichte zum Vorwurf zu machen, sei willkürlich – zumal sie der Sache nach gleichbleibende Fluchtgründe vorgebracht habe. Aus der diesbezüglich widersprüchlichen Begründung sei überdies nicht ersichtlich, ob bzw. wie das Bundesverwaltungsgericht Minderjährigkeit und psychischen Zustand der Beschwerdeführerin in die Glaubwürdigkeitsprüfung tatsächlich miteinbezogen habe.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und – ebenso wie das BFA – von der Erstattung eine Äußerung abgesehen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungs-sphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechts-lage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. In der Schilderung des Verfahrensganges führt das BFA in Punkt "A)" seiner Bescheidbegründung aus, dass am 10. April 2015 ein medizinischer Befund einlangte, der auch im Teil "B) Beweismittel" unter den dort angeführten – von der Beschwerdeführerin selbst in Vorlage gebrachten – Beweismitteln aufscheint. Aus dem Verwaltungsakt ergibt sich, dass dieser – auf Ersuchen des BFA als Beweismittel für die in einer Stellungnahme vorgebrachte Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin vorgelegte – Befundbericht der Beschwerdeführerin eine "St post Genitalverstümmelung (Infibulation)" diagnostiziert.

Die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht moniert u.a., dass das BFA diesen Befundbericht lediglich erwähnt, ohne die dadurch nachgewiesene Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin einer asylrechtlichen Würdigung zu unterziehen, obgleich näher bezeichnete UNHCR-Dokumente untermauern würden, dass nicht nur eine bevorstehende, sondern auch eine bereits vorgenommene Genitalverstümmelung asylrelevant sein könne.

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht schildert in Punkt I. seiner Entscheidungsgründe den bisherigen Verfahrensgang und hält insbesondere fest, dass die Beschwerdeführerin an einer psychoreaktiven Störung mit Krankheitswert leide; in diesem Kontext weist das Bundesverwaltungsgericht auch darauf hin, dass "ein ärztlicher Befundbericht mit der Diagnose 'St post Genitalverstümmelung (Infibulation)' vorgelegt" wurde. Dieser Befundbericht und seine Diagnose finden anschließend weder im Rahmen der Feststellungen, der Beweiswürdigung noch der rechtlichen Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht weitere Erwähnung. Das Bundesverwaltungsgericht gibt im Zuge der Feststellungen zwar Länderberichte zur in Somalia weit verbreiteten Praxis der Genitalverstümmelung wieder, ohne diese allgemeinen Feststellungen in der Folge allerdings zum konkreten Vorbringen im Verfahren in Beziehung zu setzen.

Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich damit – wie das BFA – in keiner Weise mit der aktenkundigen Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin auseinander, obgleich sich die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen das entsprechende Vorgehen des BFA und den folgenlosen Verweis auf den einschlägigen Befund im Bescheid des BFA wendet.

2.3. Es gibt Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, derzufolge eine drohende Reinfibulation in Somalia nach dortigen Geburten als ein berücksichtigungswürdiger Umstand in einer Gesamtbetrachtung der individuellen Situation einer Asylsuchenden anerkannt wird, wenn das Bundesverwaltungsgericht auch betont, dass es sich dabei um eine Zusatzbegründung für eine Asylzuerkennung handelt (vgl. zB BVwG 27.6.2016, W211 1428843-1/23E; 19.8.2016, W211 1434000-2/22E ua.; 26.8.2016, W211 2116722-1/10E – jeweils mit Verweis auf die Rechtsprechung des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts 6.8.2014, E-1425/2014). In dieser Rechtsprechung wird auch angemerkt, dass Reinfibulationen in Somalia insbesondere für alleinstehende Frauen asylrelevant sein können auf Grund der Notwendigkeit der Beschneidung, um in Somalia einen Ehemann finden zu können (siehe BVwG 27.6.2016, W211 1428843-1/23E).

Nach Einschätzung von UNHCR (vgl. die – auch in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht abgedruckten Passagen der – Guidance Note on Refugee Claims relating to Female Genital Mutilation, Mai 2009, S. 8 f.) kann auch eine bereits vorgenommene weibliche Genitalverstümmelung eine asylrelevante Verfolgung begründen, sei es wegen schweren, oft lebenslang schädigenden Konsequenzen physischer und psychischer Art des ursprünglichen Eingriffs oder der Gefahr einer Vornahme weiterer Genitalverstümmelungen (anderer Form), etwa anlässlich einer Eheschließung oder Geburt eines Kindes (so auch End FGM European Network, FGM in EU Asylum Directives on Qualification, Procedures and Reception Conditions, End FGM Network Guidelines for Civil Society, März 2016, S. 9).

2.4. Dass das Bundesverwaltungsgericht auf die aktenkundige (schwere Form der) Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin nicht eingeht, kann daher nicht damit gerechtfertigt werden, dass eine bereits vorgenommene Genitalverstümmelung (zur Ermittlungs- und Auseinandersetzungspflicht hinsichtlich einer drohenden Genitalverstümmelung vgl. zB VfSlg 18.590/2008, 19.273/2010 und – betreffend Somalia – zur von den Umständen des Einzelfalles abhängigen Asylrelevanz zB VwGH 24.6.2010, 2007/01/1199; 27.6.2016, Ra 2016/18/0045) keinesfalls bzw. in der individuellen Situation der Beschwerdeführerin von vornherein nicht asylrechtlich relevant wäre.

Eine nähere Auseinandersetzung mit der Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin und deren Konsequenzen wäre auch deshalb geboten gewesen, als sowohl der Akteninhalt als auch die Beschwerde darauf schließen lassen, dass es der Beschwerdeführerin aus Gründen der Scham schwer fällt, über dieses sensible, tabubehaftete Thema zu sprechen (vgl. auch die Dokumente End FGM Network Guidelines for Civil Society, S. 8 f., wonach gerade hinsichtlich Genitalverstümmelung ein Bedarf nach einer aktiven Kooperation zwischen mitgliedstaatlichen Behörden und Antragstellerinnen besteht und UNHCR, Too Much Pain, Female Genital Mutilation Asylum in the European Union, A Statistical Overview, Februar 2013, S. 32 und 34, wonach eine erhöhte Sensibilität und Bewusstseinsschaffung in Fällen von Frauen, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben, geboten sein kann).

2.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Genitalverstümmelung jede nähere Auseinandersetzung mit dem durch einen medizinischen Befund substantiierten Parteivorbringen und der Aktenlage vermissen lässt, hat es in einem möglicherweise entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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