JudikaturBVwG

W231 2306648-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
13. August 2025

Spruch

W231 2306648-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.11.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in Folge „BF“), ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 25.09.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er vor ungefähr einem Monat zu Fuß aus Afghanistan ausgereist sei. Zu seinem Alter gab der BF zu Protokoll, am 01.01.2007 geboren und somit minderjährig zu sein.

Zu seinem Fluchtgrund ist protokolliert, dass der BF arm gewesen sei, keine Familie gehabt habe und in Afghanistan keine Frau finden würde und dass er in Europa eine Frau finden wolle. Befragt zu seinen Rückkehrbefürchtungen gab er an, dass er die Taliban fürchte.

I.2. Das Asylverfahren wurde mit 06.10.2023 aufgrund unbekannten Aufenthaltes gemäß § 24 AslyG eingestellt. Am 01.12.2023 wurde ein Konsultationsverfahren mit der Schweiz geführt. Der BF wurde am 13.03.2024 nach Österreich rücküberstellt und das Asylverfahren fortgesetzt. Aufgrund einer am 15.12.2023 in der Schweiz durchgeführten Altersfeststellung wurde das spätmöglichste fiktive Geburtsdatum des BF mit XXXX festgestellt. Mit 13.03.2024 wurde das Verfahren zugelassen.

I.3. Am 09.10.2024 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „BFA“). Dabei gab der BF an, dass er 2008 geboren sei und das auf seinem Impfdokument so stehe und auch seine Mutter gesagt habe, dass er 2008 geboren sei. In Afghanistan habe er fünf Jahre die Schule besucht und danach nichts gemacht. Zu seinem Fluchtgrund gab der BF im Wesentlichen an, dass die Taliban seine Eltern und seinen Bruder getötet hätten. Sein Vater und sein Halbbruder seien Dorfpolizisten gewesen. Die Taliban hätten den BF auch geschlagen, ihm den Arm gebrochen und einmal einen wilden Hund auf in losgelassen, der ihn am rechten Unterschenkel gebissen habe.

I.4. Mit gegenständlichem Bescheid des BFA vom 12.11.2024 wurde der Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten von der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass das Vorbringen des BF, wonach ihm eine Verfolgung durch die Taliban drohe, nicht als glaubhaft zu werten sei. Der BF habe sein Vorbringen gesteigert und lediglich vage und pauschale Aussagen getätigt. Die vom BF in Kopie vorgelegten Dokumente, die beweisen sollten, dass sein Vater und sein Bruder bei der Polizei und dem afghanischen Militär angestellt waren, hätten nicht auf deren Echtheit überprüft werden können, weshalb es sich dabei genauso um Fälschungen handeln könne. Ein weiteres Indiz, dass der BF keiner Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt war, ergebe sich aus der Tatsache, dass sein Bruder weiterhin in Afghanistan problemlos leben könne.

I.5. Gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides erhob der BF im Wege seiner Rechtsvertretung am 13.12.2024 fristgerecht Beschwerde. Darin führte er im Wesentlichen aus, dass der BF – selbst bei Heranziehung des im Altersgutachten festgestellten Datums – im Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse minderjährig gewesen sei. Zudem sei die Altersfeststellung in medizinischen Fachkreisen umstritten. Im Fall einer Rückkehr drohe dem BF asylrechtlich relevante Verfolgung durch die Taliban, da er als Familienmitglied einer Familie von Polizisten und einer ihm damit einhergehenden politisch oppositionellen Haltung als Gegner der Taliban wahrgenommen werde. Der BF lehne die Taliban politisch vehement ab und könne ein Leben unter den Taliban nie akzeptieren. Er lebe zudem seit einigen Jahren im Ausland und würde in Auftreten, Kleidungsstil und Geisteshaltung mittlerweile von den Taliban als „verwestlicht“ wahrgenommen werden. Ferner sei den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass Familienmitglieder von Polizisten eine eigene Risikogruppe im aktuellen EUAA Country Focus darstellen.

I.6. Am 14.04.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner Rechtsvertretung statt. Die belangte Behörde ist entschuldigt nicht erschienen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Der BF ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari. Seine Identität steht nicht fest.

Der BF wurde in dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan geboren und wuchs dort auf. Er besuchte fünf Jahre die Schule. Er lebte dort zusammen mit seiner Familie. Vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland reiste der BF durch die Provinzen Baghlan, Kabul, Kandarhar und Nimrouz.

Wann der BF konkret das Herkunftsland verlassen hat, kann aufgrund der widersprüchlichen Angaben des BF dazu nicht festgestellt werden.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. In Afghanistan leben nach wie vor Tanten und Onkel sowie Cousins und Cousinen des BF sowie ein Bruder des BF. Dass die Eltern und der Halbbruder des BF von den Taliban ermordet wurden, kann nicht festgestellt werden.

In Österreich hat der BF keine familiären Anknüpfungspunkte.

Der BF leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen und nimmt keine Medikamente. Er ist gesund und arbeitsfähig. Er arbeitet im Bundesgebiet in einer Konditorei.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der BF stellte im österreichischen Bundesgebiet am 25.09.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid des BFA vom 12.11.2024 wurde dem BF subsidiärer Schutz für die Dauer eines Jahres zuerkannt.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat wegen asylrelevanter Verfolgung (durch die Taliban) verlassen hat oder bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle, konkret gegen seine Person gerichtete Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung durch staatliche Organe oder durch Privatpersonen zu erwarten hätte.

II.1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsland:

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 12, 31.01.2025):

Politische Lage

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023b). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023b) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023b). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).

Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2020; vgl. BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).

Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).

Internationale Anerkennung der Taliban

Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023).

Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).

Drogenbekämpfung

Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).

Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).

Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).

Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2025-01-31 16:37

[Anmerkung: In diesem Kapitel werden aufbereitete Daten von verschiedenen Quellen dargestellt. Aufgrund der unterschiedlichen Methodologien bzw. Definitionen können die Daten voneinander abweichen. Für weitere Informationen sei auf das Kapitel „Länderspezifische Anmerkungen“ verwiesen.]

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (AI 24.04.2024; vgl. UNAMA 27.06.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.01.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und Amnesty International (AI) haben jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern (AI 24.04.2024; vgl. UNAMA 27.06.2023) durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.06.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgendermaßen:

19.08.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.01.2022)

01.01.2022 - 21.05.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.06.2022)

22.05.2022 - 16.08.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.09.2022)

17.08.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 07.12.2022)

14.11.2022 - 31.01.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.02.2023)

01.02.2023 - 20.05.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.06.2023)

20.05.2023 - 31.07.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.09.2023)

01.08.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 01.12.2023)

01.11.2023 - 10.01.2023: 1.508 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 38 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.02.2024)

01.02.2024 - 13.05.2024: 2.505 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 55 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 13.06.2024)

14.05.2024 - 31.07.2024: 2.127 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 09.09.2024) [...]

Wie den oben aufgeführten Daten von ACLED (ACLED 13.01.2025) und den Vereinten Nationen zu entnehmen ist, sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2024 angestiegen. Dies hängt laut den Vereinten Nationen vor allem mit vermehrten Zwischenfällen im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024) und Grundstückstreitigkeiten zusammen (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024) und war zum Teil auf die Bemühungen der Taliban-Behörden zurückzuführen, das Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen (UNGA 13.06.2024). [...]

Auch die vom Uppsala Conflict Data Program (UCDP) erfassten Vorfälle zeigen dieses Bild. Mit Beginn des Jahres 2022 gehen die sicherheitsrelevanten Vorfälle deutlich zurück. In der ersten Jahreshälfte 2024 ist jedoch wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Bei jenen sicherheitsrelevanten Vorfällen, die den ISKP betreffen, erkennt man einen Rückgang im Laufe der letzten Jahre, wobei auch hier ein leichter Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2024 zu erkennen ist (UCDP09.12.2024). [Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]:

Laut Angaben der Vereinten Nationen hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022). Im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 07.12.2022; vgl. UNGA 27.02.2023) und in 2023 nahmen diese Aktivitäten jedoch wieder ab (UNGA 20.06.2023; vgl. UNGA 18.09.2023, UNGA 01.12.2023). Ein Trend, der sich auch 2024 fortsetzt (UNGA 28.02.2024). Ziele der Gruppierung sind die schiitischen Hazara (AI 24.04.2024; vgl. UNAMA 22.01.2024,UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024), ausländische Staatsbürger (UNGA 09.09.2024) sowie Mitglieder der Taliban (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024). Die Taliban führen weiterhin Operationen gegen den ISKP durch (UNGA 13.06.2024), unter anderem in Nangarhar (UNGA 09.09.2024).

Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.02.2023; vgl. UNGA 20.06.2023, UNGA 18.09.2023). Dieser Trend setzt sich auch im Jahre 2024 fort. Nach dem Dafürhalten der Vereinten Nationen stellt die bewaffnete Opposition mit 2024 weiterhin keine nennenswerte Herausforderung für die territoriale Kontrolle der Taliban dar (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024). Die Nationale Widerstandsfront und die Afghanische Freiheitsfront gehen mit einer „Hit-and-Run“-Taktik gegen die Taliban-Sicherheitskräfte vor, greifen deren Posten und Fahrzeuge an und verübten Hinterhalte und gezielte Tötungen (UNGA 09.09.2024).

Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.02.2024).

In einem Interview, durchgeführt von EUAA in Kooperation mit dem schwedischen Migrationsamt (Migrationsverket), der Staatendokumentation und Landinfo, gab ein afghanischer Forscher befragt zur Sicherheitslage an, dass die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan zurückgegangen ist. Es gibt, seiner Einschätzung nach, keine Region in Afghanistan, in welcher oppositionelle Gruppen offen die Kontrolle haben. In Provinzen wie Panjsher, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar, in denen es in der Vergangenheit zu Kämpfen zwischen den Taliban und verschiedenen Gruppierungen gekommen ist, verlief der Verkehr normal, und Einheimische in der Region erzählten dem Forscher, dass es keine Zwischenfälle geben würde. Betreffend die Kapazitäten des NRF hatte er nur wenig Informationen, er schreibt dem ISKP jedoch zumindest die Möglichkeit operativer Aktivitäten zu, wobei er anfügt, dass die Taliban immer effizienter bei der Aushebung von ISKP-Zellen zu werden scheinen. Dies zeigt sich in einer entspannteren Sicherheitslage in beispielsweise Kabul und Herat. Der Forscher schließt daraus, dass weder der ISKP noch andere Gruppierungen aktuell wirklich ein Problem für die Taliban sind (VQ AFGH 03 01.10.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind, und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt, diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023). [...]

Sicherheitsrelevante Vorfälle und zivile Opfer nach Provinzen (25.11.2023 - 25.11.2024)

Letzte Änderung 2025-01-31 16:37

[...] erstellt vom Projekt-OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED (ACLED 13.01.2025) und UCDP (UCDP 09.12.2024). Laut den von ACLED erfassten Daten fanden in allen drei angeführten Bereichen die meisten der Vorfälle in Ost-Afghanistan statt, wobei hier vor allem in Kabul ein Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle stattfand (ACLED 13.01.2025).

Im Zeitraum zwischen 25.11.2023 und 25.11.2024 gab es die meisten zivilen Opfer (mehr als 60 %), gemäß UCDP, in Nord-Afghanistan. Ca. ein Viertel (100) gab es in Ost-Afghanistan. 30 Todesopfer gab es in Zentralafghanistan, 17 in West-Afghanistan und 2 in Süd-Afghanistan. Auf Provinzebene gab es die meisten Todesopfer in Badakhshan (168), gefolgt von Kabul (56) und Baghlan (44) (UCDP 09.12.2024).

[Anmerkung: Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von ACLED und UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel „Länderspezifische Anmerkungen“ verwiesen] [...]

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung 2025-01-14 16:00

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.06.2023; vgl. USDOS 20.03.2023a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021b; vgl. DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vgl. NYT 29.08.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (kann 18.10.2023).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vgl. BBC 20.08.2021b, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anmerkung: jetzt X] verbreitet wurden, und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (kann 18.10.2023).

Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 05.09.2023; vgl. VOA 25.09.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.09.2023; vgl. RFE/RL 01.09.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 01.09.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 01.09.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 01.09.2023). [...]

Kabul-Stadt

Letzte Änderung 2025-01-30 08:05 [...]

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und verfügt über eine geschätzte Einwohnerzahl zwischen 4.589.000‬ (CIA 25.11.2024) und ca. 5.766.181 Personen (NSIA 7.2024). Die Stadt ist aufgeteilt in 22 Bezirke und verfügt über einen internationalen Flughafen, der sich im 15. Stadt-Bezirk befindet (AAN 2019). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus sowie Kutschi (PAN o. D.; vgl. NPS o. D.a). [...]

Nord-Afghanistan

Letzte Änderung 2025-01-30 08:05 [...]

Im Norden Afghanistans beginnt die zentralasiatische Steppe - grasbewachsene Ebenen, die bis nach Russland reichen. Bis zur Fertigstellung des Salang-Tunnels Mitte der 1960er-Jahre war diese Region durch den Hindukusch vom übrigen Afghanistan relativ isoliert. Mazar-e Sharif ist die größte Stadt in Nord-Afghanistan. In der Region leben u. a. viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen (NPS o. D.b). In der nördlichen Region Afghanistans gibt es kalte, trockene Winter mit mäßigem Schneefall und heiße, trockene Sommer (IOM 02.12.2024).

Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)

Badakhshan: Arghanj Khwah, Argo, Baharak, Darayim, Darwaz-e-Bala (Nesay), Darwaz-e-Payin (Mamay), Eshkashim, Faiz Abad, Jurm, Kishm, Khash, Khwahan, Kufab, Kohistan, Kiran wa Menjan, Raghistan, Shar-e-Buzorg, Shignan, Shiki, Shuhada, Tagab, Tashkan, Wakhan, Warduj, Yaftal-e-Sufla, Yamgan (Girwan), Yawan, Zebak

Baghlan: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri, Tala Wa Barfak

Balkh: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa, Zari

Faryab: Almar, Andkhoy, Bilchiragh, Dawlat Abad, Gurziwan, Khani Charbagh, Khwaja Sabz Posh-i Wali, Kohistan, Maimana, Pashtun Kot, Qaram Qul, Qaisar, Qurghan, Shirin Tagab

Jawzjan: Aqchah, Darzab, Faizabad, Khamyab, Khanaqa, Khwaja Dukoh, Mardyan, Mingajik, Qarqin, Qush Tepa, Sheberghan

Kunduz: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz, Qala-e-Zal sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa

Nuristan: Bargi Matal, Duab, Kamdesh, Mandol, Noor Gram, Paroon, Wama, Waygal

Panjsher: Bazarak, Darah (auch Hes-e-Duwumi), Hissa-e-Awal (auch Khinj), Unaba (auch Anawa), Paryan, Rukha und Shutul sowie der temporäre Distrikt Ab Shar

Samangan: Aybak, Dara-e-Soof-e-Payin [Unter-Dara-e-Soof], Dara-e-Soof-e-Bala [Ober-Dara-e-Soof], Feroz Nakhcheer, Hazrat-e-Sultan, Khuram Wa Sarbagh, Rui-Do-Ab

Sar-e Pul: Balkhab, Gosfandi, Kohistanat, Sancharak, Sar-e Pul, Sayyad, Sozma Qala

Takhar: Baharak, Bangi, Chahab, Chal, Darqad, Dasht-e-Qala, Eshkamesh, Farkhar, Hazar Sumuch, Kalafgan, Khwaja Bahawuddin, Khwaja Ghar, Namak Ab, Rustaq, Taluqan (Taloqan), Warsaj, Yangi Qala [...]

Zentrale Akteure

Taliban

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.08.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 20.03.2023a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USDOS 20.03.2023a; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vgl. PJIA/Rehman 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. CFR 17.08.2022, PJIA/Rehman 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o. D.c; vgl. FR24 21.08.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o. D.c; vgl. ASP 01.09.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o. D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und „sunnitisch-islamische Deobandi“-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).

Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o. D.c, vgl. VOA 04.08.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vgl. UNSC o. D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.08.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.08.2021).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.05.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.08.2022; vgl. DT 07.05.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.05.2022). [...]

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-04-04 11:36

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.06.2023; vgl. CPJ 01.03.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.06.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anmerkung: auch „of“] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als „National Directorate of Security“ (NDS) bekannt war (CPJ 01.03.2022; vgl. AA 26.06.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.06.2023), und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet, und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker, und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.05.2023). [...]

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.06.2023, vgl. HRW 11.01.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.08.2023; vgl. HRW 11.01.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.01.2024; vgl. AA 26.06.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.06.2023 ; vgl. HRW 11.01.2024, AI 07.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.06.2023; vgl. HRW 11.01.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 08.06.2023).

Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 01.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.07.2023; vgl. BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.07.2023; vgl. AMU 12.07.2023), Kandahar (kann 17.01.2023; vgl. KP 17.01.2023) und Helmand (KP 02.02.2023; vgl. kann 02.02.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023). [...]

Korruption

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Mit einer Bewertung von 20 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0 = highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2023 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 162. Platz (TI o. D.a), was eine Verschlechterung um zwölf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI o. D.b).

Die Taliban kündigten nach ihrer Übernahme von Kabul im August 2021 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen zur Ermittlung korrupter oder krimineller Taliban. Außerdem haben die Taliban über ihr Verteidigungsministerium eine Kommission eingesetzt, die Mitglieder ermitteln soll, die sich nicht an die Richtlinien der Bewegung halten. Ein Sprecher der Gruppe erklärte, dass im Jänner 2022 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Der grenzüberschreitende Handel ist Berichten zufolge unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden, da die „Geschenke“, die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden (USDOS 20.03.2023a). Anfang 2024 erklärte ein Sprecher der Taliban Afghanistan zu einem korruptionsfreien Land (BNA 01.02.2024). Ein Experte warnt auch davor, dass die Versprechen der Taliban, gegen Korruption vorzugehen, nicht von Dauer sein könnten (BBC 18.07.2023).

Es gab dennoch zahlreiche Berichte über Korruption durch die Taliban (USDOS 20.03.2023a; vgl. DIP 17.01.2024), beispielsweise in den Passämtern der Taliban, wobei Antragsteller nach Angaben lokaler Quellen zwischen 1.000 und 3.500 Dollar für einen Pass zahlen mussten (USDOS 20.03.2023a). Einem Bericht zufolge haben die Taliban seit der Wiedererlangung der Macht die staatliche Bürokratie genutzt, um Arbeitsplätze an Taliban-Mitglieder und ihre Familien zu vergeben und von der afghanischen Bevölkerung und dem Privatsektor Steuern, Bestechungsgelder und wertvolle Dienstleistungen zu erpressen (DIP 17.01.2024).

Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, weil sie nicht befugt waren, mit den Medien zu sprechen, sagten im Februar 2022, die Taliban hätten die Korruption in den letzten sechs Monaten reduziert. Das hat zu höheren Einnahmen in einigen Sektoren geführt, auch wenn die Geschäfte rückläufig sind. So seien beispielsweise die Zolleinnahmen gestiegen, obwohl die neue Taliban-Regierung weniger Geschäfte mache (AP 15.02.2022). Auch ein britischer Abgeordneter, dessen Beobachtungen auf Unterhaltungen mit Afghanen vor Ort beruhen, berichtet von einer Reduktion der Korruption in Afghanistan. Während Transparency International eine leichte Verbesserung gegenüber 2021 sieht, weisen Experten darauf hin, dass die leichte Verbesserung darauf zurückzuführen ist, dass der massive Zustrom von Militärhilfe und ausländischen Hilfsgeldern gestoppt wurde, die nach Ansicht mancher die Korruption vor Ort angeheizt haben (BBC 18.07.2023).

Im Juli 2022 kündigten die Taliban an, dass sie ehemalige afghanische Beamte nicht für die massive Korruption zur Rechenschaft ziehen werden, die in Zusammenhang mit Entwicklungshilfeprojekten stehen. Ehemalige Beamte, die der Korruption verdächtigt werden, müssen sich nur dann vor Gericht verantworten, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten Privateigentum oder öffentliches Vermögen an sich gerissen haben (VOA 06.07.2022). [...]

NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban verschlechtert (FH 1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022a, AA 26.06.2023). Sie sind unter den Taliban nicht nur in ihrer Arbeit eingeschränkt, sondern müssen auch aktiv um ihr Überleben im Land kämpfen, da das Taliban-Regime und andere Akteure sie mit Gewalt, Diskriminierung und Propaganda bedrohen. Menschenrechtsverteidiger im ganzen Land sind mehrfachen Risiken und Bedrohungen ausgesetzt, wie z. B. Entführung und Inhaftierung, körperliche und psychische Gewalt, Diffamierung, Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftung und Folter, Androhung von Einschüchterung und Schikanen sowie Gewalt gegen Aktivisten oder Familienmitglieder durch die Taliban, einschließlich Mord (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.08.2022, AA 26.06.2023). Anfang Februar 2022 führten die Taliban beispielsweise flächendeckend Hausdurchsuchungen zunächst in Kabul, anschließend auch in angrenzenden Provinzen durch. Sie werden punktuell landesweit fortgesetzt, v. a. in Kabul und anderen Großstädten (AA 26.06.2023).

Einige afghanische Menschenrechtsorganisationen wollen ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen und bauen zu diesem Zweck ihre oftmals zusammengebrochenen Informationsnetzwerke wieder auf (AA 26.06.2023). Die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), deren Rolle in der Verfassung aus Zeiten der Republik verankert ist, war seit August 2021 faktisch aufgelöst. Im Mai 2022 ist per Dekret die rückwirkende Auflösung auch formell beschlossen worden, der von der Taliban-Regierung beschlossene Haushalt sieht keine Mittel für die Institution vor. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Menschenrechtskommission bauen ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut im Exil auf (AA 26.06.2023; vgl. AIHRC 26.05.2022).

Trotz der weitreichenden und zunehmenden Unterdrückung des Widerstands gegen die Taliban-Herrschaft hat die NGO Afghan Witness seit der ersten Demonstration im August 2021 fast 70 von Frauen geführte Straßendemonstrationen verifiziert, die zum großen Teil gegen die zunehmenden Einschränkungen des Zugangs von Mädchen und Frauen zu Bildung und Arbeit protestierten. Zwischen dem 01.03.2023 und dem 27.06.2023 hat Afghan Witness 95 separate Frauenproteste aufgezeichnet und analysiert, darunter 84 Proteste in Innenräumen und 11 Straßendemonstrationen in zwölf Provinzen in Afghanistan (AfW 15.08.2023). Ab Mitte Jänner 2022 werden Aktivistinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung sukzessive durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.01.2023), und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.06.2023). Die Taliban-Behörden reagierten auch mit Gewalt auf Demonstranten (HRW 30.11.2023; vgl. AI 07.12.2023) und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vgl. Guardian 02.10.2022). Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Frauen zusammen mit Familienmitgliedern, einschließlich kleiner Kinder, verhaftet wurden (HRW 30.11.2023; vgl. AI 07.12.2023). Sie werden unter missbräuchlichen Bedingungen festgehalten und manchmal gefoltert. Wenn sie freigelassen werden, verlangen die Taliban Urkunden über den Besitz ihrer Familie und drohen, diesen zu konfiszieren, wenn die Frau ihren Aktivismus fortsetzt (HRW 30.11.2023).

Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über die Jahre 2022 (AI 16.11.2022; vgl. HRW 20.10.2022, RukhshAnA 04.08.2022, AfW 15.08.2023) und 2023 fort (HRW 11.01.2024; vgl. AJ 21.07.2023, RFE/RL 21.08.2023, AfW 15.08.2023). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022) oder im Juli 2023 Proteste gegen die Schließung von Schönheitssalons gewaltsam aufgelöst (RFE/RL 19.07.2023; vgl. DW 20.07.2023).

Am 24.12.2022 erließen die Taliban-Behörden ein Dekret, das Frauen die Arbeit in NGOs verbietet (OHCHR 27.12.2022; vgl. Guardian 26.12.2022). Fünf führende NGOs haben daraufhin ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit „ohne unsere weiblichen Mitarbeiter“ nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vgl. Guardian 26.12.2022). [...]

Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.06.2023; vgl. CPJ 01.03.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.06.2023). Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.06.2023), und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handle (EUAA 12.2023).

Ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt ist, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügen und dass viele bereit sind, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung (EUAA 12.2023).

Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung, durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara „in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung“ stattgefunden hat (EUAA 12.2023; vgl. USDOS 20.03.2023a). Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan (EUAA 12.2023).

Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert (HRW 20.09.2021), und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (TBP 23.09.2022; vgl. USDOS 15.06.2023a). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert (USDOS 15.06.2023a).

Was die Rekrutierung durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) betrifft, so wurden Berichten zufolge die Salafi-Gemeinschaft und Taliban-Fußsoldaten zur Unterstützung der Gruppe aufgerufen (USIP 07.06.2023). Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi veröffentlichte einen Forschungsartikel, in dem er feststellte, dass zwei wichtige Quellen für die Rekrutierung in Afghanistan die Salafi-Gemeinschaft und Universitätsstudenten waren. In Interviews, die der Autor mit ISKP-Rekrutern in Afghanistan geführt hat, wird die Vorgehensweise des ISKP beschrieben. Hierbei werden „die religiösesten Studenten, die das größte Interesse an religiösen Fragen und insbesondere am Salafismus haben, ausgesucht und ins Visier genommen“. Sobald ein Student als Ziel identifiziert ist, wird versucht, seine Handynummer zu bekommen. Dann übernimmt die Abteilung „Medien und Kultur“ die Arbeit. Die Aufgabe des Medien- und Kulturteams, das seinen Sitz außerhalb der Universität und sogar in Europa hat, besteht darin, Videos mit Propagandamaterial an potenzielle Rekruten zu senden. Bei einer negativen Reaktion wird der „Eingeladene“, den Interviews zufolge, sofort von der Nachrichtenübermittlung abgeschnitten. Ist die Reaktion positiv, werden WhatsApp und andere Social-Media-Apps genutzt. Das Medien- und Kulturteam fügt außerdem gezielte Studenten zu verschiedenen ISKP-Telegram-Konten hinzu, von denen einige für die Aktivitäten des ISKP werben, während andere negative Propaganda gegen die Taliban verbreiten (RUSI/Giustozzi 3.2023). Auch die Vereinten Nationen berichten, dass sich der ISKP auf die Rekrutierung von mehr gebildeten Personen konzentriert, aber Rekrutierungen auch außerhalb der Salafi-Gemeinschaft betreibt (UNSC 01.06.2023a). [...]

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.06.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 09.08.2022; vgl. AA 26.06.2023, AfW 15.08.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.06.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.01.2024; vgl. AA 26.06.2023, USDOS 20.03.2023a, UNGA 01.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.06.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.06.2023, AfW 15.08.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.01.2023, AfW 15.08.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.08.2022, AA 26.06.2023, AfW 15.08.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.01.2024; vgl. AA 26.06.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.06.2023; vgl. HRW 11.01.2024, AfW 15.08.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.06.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.01.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.08.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 02.10.2022), und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.02.2022, AI 15.08.2022).

Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.08.2023). [...]

Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung 2024-04-04 12:48

Die Taliban haben zwar wiederholt Presse- und Meinungsfreiheit in allgemeiner Form zugesichert (AA 26.06.2023), jedoch hat sich die Situation der Medienlandschaft seit dem 15.08.2021 drastisch verschlechtert (AA 26.06.2023; vgl. HRW 11.01.2024). Berichten zufolge hatten schon bis Dezember 2021 insgesamt 43 % der afghanischen Medienunternehmen ihren Betrieb eingestellt (AA 26.06.2023; vgl. ANI 01.05.2022), auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. 6.400 Medienschaffende hatten ihre Anstellung verloren (AA 26.06.2023; vgl. RSF 02.12.2022), was vor allem Frauen betraf (AA 26.06.2023; vgl. HRW 11.01.2024, RSF 02.12.2022). Etablierte Journalisten sind zu einem großen Teil ins Ausland gegangen (HRW 11.01.2024; vgl. AA 26.06.2023) und berichten aus dem Exil (HRW 11.01.2024) oder halten sich versteckt (AA 26.06.2023). Ankündigungen der Taliban-Regierung, das bisherige Mediengesetz umzusetzen und eine Beschwerdekommission einzurichten, ist das Informations- und Kulturministerium nicht nachgekommen. Fernsehsender wurden nach eigenen Angaben wiederholt durch den Taliban-Geheimdienst unter Druck gesetzt, Unterhaltungsprogramme den moralisch-religiösen Vorgaben der Taliban anzupassen (AA 26.06.2023). Auch für ausländische Korrespondenten gelten strenge Visabeschränkungen, wenn sie nach Afghanistan reisen, um zu berichten (HRW 11.01.2024).

Die Taliban-Behörden setzten eine umfassende Zensur durch und gingen mit unrechtmäßiger Gewalt gegen afghanische Medien und Journalisten in Kabul und den Provinzen vor (HRW 11.01.2024). Im November 2022 berichtete ein Medienunternehmen, dass es eine von dem Taliban-Informationsministerium vorformulierte Erklärung unterzeichnen musste, in der es sich u. a. zu einer Scharia-konformen Berichterstattung verpflichtete. Kritik an der Taliban-Regierung wurde untersagt. Im Falle der Nichtbeachtung wurden Konsequenzen für das Medienunternehmen sowie die dort Beschäftigten angedroht (AA 26.06.2023). Elf am 19.09.2021 vorgestellte Handlungsempfehlungen der Taliban-Regierung für Printmedien, TV und Radio fordern u. a. dazu auf, keine Inhalte zu veröffentlichen, die der Scharia widersprechen (AA 26.06.2023; vgl. RSF 24.09.2021), und ermöglichen laut Reportern ohne Grenzen (RSF) Nachrichtenkontrolle oder gar Vorzensur (RSF 24.09.2021). Diese Empfehlungen werden landesweit unterschiedlich umgesetzt. Menschenrechtsorganisationen beobachten insbesondere in den Provinzen eine deutlich stärkere Einschränkung der Pressefreiheit. Medienschaffende berichten über ein aktives Monitoring und werden aufgefordert, ihre Arbeit vorab mit den lokal zuständigen Behörden zu teilen. Mancherorts müssen Medienschaffende vor Beginn ihrer Recherchen eine Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen. In mindestens 14 von 34 Provinzen gibt es keine weiblichen Medienschaffenden mehr, in einigen Provinzen wurde es Journalistinnen verboten, bei ihrer Arbeit in Erscheinung zu treten. Gegenüber Menschenrechtsorganisationen berichten Journalistinnen und Journalisten über einen stark eingeschränkten Zugang zu Informationen (AA 26.06.2023).

Berichten zufolge kommt es zu willkürlichen Verhaftungen von Medienschaffenden durch die Taliban (AfW 15.08.2023; vgl. HRW 11.01.2024), die Human Rights Watch zufolge im Jahr 2023 zugenommen haben (HRW 11.01.2024). Am 13.08.2023 verhafteten die Taliban beispielsweise Ataullah Omar, einen Journalisten, der für Tolo News berichtet, und beschuldigten ihn, mit Medienunternehmen zusammenzuarbeiten, die vom Exil aus operieren. Am 10.08.2023 wurden Faqir Mohammad Faqirzai, der Leiter von Kilid Radio, und Jan Agha Saleh, ein Reporter, von den Taliban festgenommen. Am selben Tag wurde Hasib Hassas, ein Reporter von Salam Watandar, in Kunduz verhaftet (HRW 11.01.2024; vgl. RSF 15.08.2023). Alle drei Journalisten wurden einige Tage später wieder freigelassen. Die Taliban-Behörden geben selten Auskunft über die Gründe für solche Verhaftungen oder darüber, ob die Festgenommenen vor Gericht gestellt werden. Die Festgenommenen haben keinen Zugang zu Anwälten, und in den meisten Fällen dürfen Familienangehörige sie nicht besuchen (HRW 11.01.2024). Am 05.01.2023 wurde der französische afghanische Journalist Mortaza Behboudi verhaftet; er wurde am 18.10.2023 wieder freigelassen, ohne dass eine Anklage gegen ihn erhoben wurde (HRW 11.01.2024; vgl. RSF 18.10.2023).

Reporter ohne Grenzen (RSF) meldete, dass Razzien bei unabhängigen Medien in mindestens fünf Fällen mit Unterstützung der Generaldirektion des Nachrichtendienstes (GDI) durchgeführt wurden, ohne dass die Kommission für Medienbeschwerden und Rechtsverletzungen (MCRVC) eingeschaltet wurde. Die 2022 nach einjähriger Unterbrechung wieder eingerichtete MCRVC soll verhindern, dass sich andere Stellen in Medienangelegenheiten einmischen, und sicherstellen, dass eine „neutrale“ Gruppe jeden gemeldeten Verstoß untersucht, so der Sprecher des Taliban-Regimes und ehemalige stellvertretende Informationsminister Zabihullah Mujahid (RSF 15.08.2023).

Internet und Mobiltelefonie

Die Zahl der Internetnutzer in Afghanistan ist in den letzten Jahren zusammen mit der jugendlichen Bevölkerung rapide angestiegen und liegt mit April 2022 bei etwa neun Millionen Nutzern (BBC 22.04.2022). Im Jahre 2021 wurde die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf ca. 23 Millionen geschätzt (GBL 26.11.2021).

Es gibt keine Ausfälle in Gebieten, die vor der Übernahme durch die Taliban per Telefon oder Internet erreichbar gewesen wären. Laut Informationen von IOM haben sich die Telekommunikations- und Internetdienste seit dem Sturz der vorherigen Regierung verbessert, was auf einen Rückgang der Konflikte im ganzen Land und die Leichtigkeit zurückzuführen ist, mit der Telekommunikationsunternehmen ihr Dienstleistungsangebot erweitern können. In Afghanistan ist die Verfügbarkeit von Internet- und Telekommunikationsdiensten weit verbreitet und deckt den größten Teil des Landes ab, mit Ausnahme einiger isolierter und dünn besiedelter Siedlungen außerhalb der großen Städte. Derzeit sind fünf Telekommunikationsunternehmen in Afghanistan tätig, darunter der staatliche Festnetzbetreiber Afghan Telecom und vier Mobilfunkbetreiber: Afghan Wireless Communication Company (AWCC), Roshan, MTN Afghanistan und Etisalat Afghanistan (IOM 22.02.2024).

Seit der Machtübernahme durch die Taliban gab es keine Berichte über größere Einschränkungen beim Zugang zu Telekommunikationsdiensten (IOM 12.01.2023; vgl. IOM 22.02.2024). In den Provinzen, die Widerstand gegen das Taliban-Regime leisteten (z. B.: Provinz Panjsher), kam es jedoch in der Vergangenheit zu Abschaltungen von Telekommunikations- und Internetdiensten (IOM 12.01.2023). [...]

Haftbedingungen

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkh. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 12.04.2022a). Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden (USDOS 12.04.2022a; vgl. UNHRC 08.03.2022).

Trotz anhaltender Bemühungen, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren (UNGA 01.12.2023), gab der stellvertretende Leiter der Gefängnisverwaltung im Jänner 2024 bekannt, dass die Gefängnispopulation 19.300 Personen erreicht habe, von denen 800 Frauen seien (UNAMA0 01.05.2024). Im September 2024 gab die Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten der Taliban bekannt, dass etwa 23.000 Personen in Afghanistan inhaftiert seien (SWN 02.09.2024). Einen Tag zuvor hatten Beamte des Direktorats noch angegeben, dass 11.000 Personen in afghanischen Gefängnissen inhaftiert wären, wovon 2.000 Frauen und Kinder wären (KP 01.09.2024; vgl. SWN 02.09.2024). Dies wurde insofern richtiggestellt, als darauf hingewiesen wurde, dass neben den ca. 11.000 schon verurteilten Inhaftierten etwa 12.000 Personen in Haftanstalten auf Gerichtsurteile warteten (SWN 02.09.2024).

Die Situation in den Gefängnissen in Afghanistan wird von den Vereinten Nationen als sehr schlecht bezeichnet, kann jedoch aufgrund von nur punktuellem Zugang für Menschenrechtsorganisationen nicht abschließend beurteilt werden (AA 12.07.2024). Es scheint keine landesweiten Haftstandards und keinen Mechanismus zu geben, um die Haftbedingungen anzufechten (AHR 29.04.2024). Finanzielle Engpässe und die Einstellung der Finanzierung durch Geber wirkten sich weiterhin auf die Fähigkeit der Gefängnisverwaltung aus, internationale Standards zu erfüllen (UNGA 01.12.2023), einschließlich der systematischen Bereitstellung angemessener Nahrungsmittel, Hygieneartikel (UNGA 01.12.2023; vgl. AHR 29.04.2024), der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie der medizinischen Versorgung (UNGA 01.12.2023).

UNAMA berichtet von Fällen, in denen Personen zum Zeitpunkt der Festnahme nicht über die Gründe für ihre Festnahme informiert wurden. Des Weiteren werden laut UNAMA Inhaftierte auch weder über ihre Rechte noch darüber informiert, wie sie während der Haft Beschwerden vorbringen können. Es wurden auch Fälle dokumentiert, in denen Inhaftierte nicht über ihr Recht auf einen Anwalt informiert wurden oder ihnen die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie verwehrt wurde (UNAMA 01.09.2023). Viele Strafverteidiger haben von Schwierigkeiten beim Zugang zu ihren Mandanten berichtet (AHR 29.04.2024). Zwischen 01.01.2022 und 31.07.2023 dokumentierte UNAMA über 1.600 Menschenrechtsverletzungen (11 % betrafen Frauen) durch die Taliban-Behörden im Zusammenhang mit der Festnahme und anschließenden Inhaftierung von Personen. Knapp 50 % dieser Verstöße betrafen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diese Vorfälle ereigneten sich in 29 der 34 Provinzen Afghanistans (UNAMA 01.09.2023). Inhaftierte Personen beschreiben verschiedene Formen der Folter, wie z. B. Schläge, kopfüber aufgehängt zu werden, Elektroschocks, Ersticken (AHR 29.04.2024) und Gewalteinwirkung im Genitalbereich. Einem Bericht zufolge sollen seit der Machtübernahme der Taliban 87 Personen in Taliban-Gefängnissen an den Folgen von Folter gestorben sein (Afintl 08.08.2024).

Es existieren Berichte über Folter an Journalisten, Anwälten, Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und ihren Verwandten, Demonstrierenden und ehemaligen Sicherheitskräften (AA 12.07.2024) bzw. Gefangenen, die mit der ehemaligen Regierung in Verbindung standen (USDOS 20.03.2023a). Des Weiteren sollen festgenommene Frauenrechtsaktivistinnen psychologischer und physischer Folter sowie sexueller Gewalt durch Taliban-Sicherheitskräfte ausgesetzt worden sein. Verifiziert sind zudem mehrere Fälle, in denen festgesetzte Journalisten geschlagen wurden (AA 12.07.2024).

Der Verhaltenskodex der Taliban zur Reform des Gefängnissystems sieht keine unverzügliche medizinische Untersuchung bei der Einweisung in eine Haftanstalt vor. Er sieht vor, dass in den Gefängnissen Erste-Hilfe-Einrichtungen und -Vorräte zur Verfügung stehen müssen und dass für die notwendige Behandlung von Schwerkranken rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen sind. Mehrere Taliban-Polizeibehörden bestätigten gegenüber UNAMA, dass die Personen vor ihrer Einlieferung in die Polizeieinrichtungen von einem Arzt untersucht und bei Bedarf in ein Krankenhaus gebracht werden. Allerdings dokumentierte UNAMA keinen Fall, bei dem eine Person bei der Inhaftierung oder vor einer Befragung medizinisch untersucht wurde, wobei eingeräumt wird, dass insbesondere in abgelegenen Gebieten nicht immer Ärzte zur Verfügung stehen (UNAMA 01.09.2023). [...]

Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeinen Zusicherungen deutlich eingeschränkt (AA 26.06.2023; vgl. FH 24.02.2022). Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen (AA 26.06.2023; vgl. HRW 11.01.2024, EUAA 12.2023), und es kam zum Einsatz von scharfer Munition und Wasserwerfern (AA 26.06.2023). Ab Mitte Jänner 2022 wurden sukzessive Vertreterinnen der vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen, und es gibt Berichte zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.06.2023). In diesem Jahr gab es nur wenige öffentliche Proteste im Vergleich zu 2021, als es zahlreiche kleinere Proteste von Frauen gab, die gleiche Rechte, die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und den Zugang zu Bildung und Beschäftigung forderten (USDOS 20.03.2023a). Diese gewalttätigen Zwischenfälle und die Androhung von Verhaftungen (und das Verschwinden in einem undurchsichtigen Gefängnissystem ohne ordnungsgemäße Verfahren) haben zunächst dazu geführt, dass die großen Anti-Taliban-Proteste eingedämmt wurden, obwohl es weiterhin kleinere Versammlungen gab (AI 15.08.2022). Gegen Ende des Jahres 2022 kam es wieder vermehrt zu Protesten, nachdem die Taliban Frauen vom Universitätsbesuch ausgeschlossen hatten (RFE/RL 29.12.2022; vgl. BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022) und NGO-Mitarbeiterinnen verboten, ihrer Arbeit nachzugehen (FR24 02.01.2023). Den Protesten schlossen sich auch Hunderte männliche Professoren, Studierende und Väter an (RFE/RL 29.12.2022; vgl. ABC 30.12.2022).

Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten (HRW 11.01.2024; vgl. AMU 23.01.2024, Afintl 19.09.2023) und Journalisten setzten sich über das Jahr 2023 hindurch fort (HRW 11.01.2024; vgl. RSF 15.08.2023, RSF 18.10.2023). [...]

Todesstrafe

Letzte Änderung 2024-04-09 12:24

Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor (AA 26.06.2023; vgl. UNAMA 08.05.2023). Zwischen 2001 und dem 15.08.2021 hat die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan Berichten zufolge mindestens 72 Personen hingerichtet (UNAMA 08.05.2023).

Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15.08.2021 haben die Taliban de facto die Körperstrafen und die Todesstrafe eingeführt (UNAMA 08.05.2023). Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia sieht die Todesstrafe vor (AA 26.06.2023). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vgl. Guardian 14.11.2022, UNAMA 08.05.2023).

Am 07.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt (AA 26.06.2023; vgl. BBC 07.12.2022, REU 07.12.2022). Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 07.12.2022; vgl. BBC 07.12.2022, REU 07.12.2022). Im Juni 2023 wurde in Laghman ein Mann durch die Taliban hingerichtet, der für schuldig befunden wurde, im vergangenen Jahr fünf Menschen ermordet zu haben (AP 20.06.2023; vgl. AJ 20.06.2023). Im Februar 2024 vollstreckten die Taliban eine Doppelhinrichtung in Ghazni, bei der Angehörige der Opfer von Messerstechereien vor Tausenden von Zuschauern mit Gewehren auf zwei verurteilte Männer schossen (AI 23.02.2024; vgl. ABC News 26.02.2024). [...]

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2024-04-05 14:09

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 01.02.2024; vgl. AA 26.06.2023). Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 01.02.2024; vgl. USDOS 15.05.2023). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte. Zuverlässige Schätzungen über die Gemeinschaften der Baha‘i und der Christen sind nicht verfügbar. Es gibt eine geringe Anzahl von Anhängern anderer Religionen. Es gibt keine bekannten Juden im Land (USDOS 15.05.2023).

Anhänger des Baha‘i-Glaubens leben vor allem in Kabul und in einer kleinen Gemeinde in Kandahar. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha‘i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha‘i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt. Internationalen Quellen zufolge leben Baha‘is weiterhin in ständiger Angst vor Entdeckung und zögerten, ihre religiöse Identität preiszugeben (USDOS 15.05.2023).

Sikhs sehen sich seit Langem Diskriminierungen im mehrheitlich muslimischen Afghanistan ausgesetzt (EUAA 23.03.2022; vgl. DW 08.09.2021). Als die Taliban im August 2021 nach dem Abzug der US-Truppen die Macht in der Hauptstadt wiedererlangt hatten, floh eine weitere Welle von Sikhs aus Afghanistan (EUAA 23.03.2022; vgl. TrI 12.11.2021). Nach der Machtübernahme gaben die Taliban öffentliche Erklärungen ab, wonach deren Rechte geschützt werden würden (EUAA 23.03.2022; vgl. USCIRF 3.2023, USDOS 15.05.2023). Trotz diesen Zusicherungen äußerten sich Sikh-Führer in Medienerklärungen im Namen ihrer Gemeinschaft jedoch besorgt über deren Sicherheit (EUAA 23.03.2022; vgl. USDOS 15.05.2023). Berichten zufolge lebten mit Ende 2022 nur noch neun Sikhs und Hindus in Afghanistan (USDOS 15.05.2023).

Die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime waren und sind durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.06.2023). Mit der rigorosen Durchsetzung ihrer strengen Auslegung der Scharia gegenüber allen Afghanen verletzen die Taliban die Religions- und Glaubensfreiheit von religiösen Minderheiten (USCIRF 3.2023). Nominal haben die Taliban religiösen Minderheiten die Zusicherung gegeben, ihre Religion auch weiterhin ausüben zu können (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.06.2023); insbesondere der größten Minderheit, den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara. In der Praxis ist der Druck auf Nicht-Sunniten jedoch hoch und die Diskriminierung von Schiiten im Alltag verwurzelt (AA 26.06.2023).

Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.01.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.01.2022; vgl. RFE/RL 19.01.2022). [...]

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vgl. CIA 01.02.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 01.02.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.06.2023).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.03.2023a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.06.2023).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.06.2023). [...]

Tadschiken

Letzte Änderung 2024-03-28 12:44

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus (MRG 05.02.2021b; vgl. AA 26.06.2023). Sie üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite, die über ein beträchtliches Vermögen innerhalb der Gemeinschaft verfügt. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG 05.02.2021b).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG 05.02.2021b). Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle Dari/Persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016). [...]

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2025-01-14 15:59

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen „Ausweichmöglichkeiten“ im Land zu unterbinden (AA 26.06.2023).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.03.2023a). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 09.03.2023). So wurde im Jahr 2022 berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.05.2022; vgl. NPR 09.06.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von „Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger“ (HRW 30.03.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.02.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.07.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang den Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.02.2024).

Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.03.2023a). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.01.2022; vgl. DW 26.12.2021). Zu darüber hinaus gehenden Bewegungseinschränkungen liegen IOM-Afghanistan keine offiziellen Berichte vor. Es gab jedoch Fälle, in denen Bürger misshandelt wurden, weil sie sich nicht an die von den Taliban auferlegten üblichen Regeln hielten. IOM berichtet auch über eine steigende Anzahl von Vorfällen, bei denen UNSMS-Personal (United Nations Security Management System) vorübergehend angehalten wurde, wobei hier die Vorgehensweise der Taliban je nach Ort unterschiedlich ist (IOM 22.02.2024).

Anmerkung: Mahram kommt von dem Wort „Haram“ und bedeutet „etwas, das heilig oder verboten ist“. Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022). [...]

IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Jahrelange Konflikte, Naturkatastrophen und wirtschaftliche Schwierigkeiten haben im verarmten Afghanistan Millionen von Menschen zu Binnenvertriebenen gemacht (VOA 11.07.2023). Binnenvertriebene wie auch Rückkehrende aus dem Ausland befinden sich laut UNHCR in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder -verkauf) (AA 26.06.2023). Die Zahl der Binnenvertriebenen ist seit dem Jahr 2021 um 200.000 Personen gesunken (AA 26.06.2023) und lag 2023 zwischen 3,25 (UNHCR 01.02.2024) und 3,3 Miollionen Menschen. Gründe für Vertreibung sind vor allem Konflikte und extrem wetterbedingte Ereignisse (AA 26.06.2023). [...]

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.06.2023; vgl. WB 19.03.2024, UNDP 18.04.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WB 19.03.2024; vgl. UNDP 18.04.2023, NH 31.01.2024). Die humanitäre Lage bleibt angespannt (AA 26.06.2023; vgl. WB 19.03.2024). Nach der Machtübernahme der Taliban waren große Teile der Bevölkerung zunehmend auf humanitäre Hilfe angewiesen (IOM 01.09.2022; vgl. IR 17.08.2023). Waren es im Jahr 2022 24,4 Millionen Menschen (ca. 60 % der Bevölkerung, IOM 01.09.2022; vgl. UNOCHA 1.2023), so stieg diese Zahl bis Januar 2023 auf 28,3 Millionen (UNOCHA 1.2023). Im Jahr 2024 benötigten etwa 23,7 Millionen Menschen (mehr als die Hälfte des Landes) humanitäre Hilfe aufgrund der Nachwirkungen von vierzig Jahren Krieg, der jüngsten politischen Umwälzungen und wirtschaftlicher Instabilität. Auch häufige Naturkatastrophen und der Klimawandel haben Auswirkungen auf die humanitäre Lage im Land (UNOCHA 6.2024; vgl. EC 08.10.2024). Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen (UNDP 12.2023).

Die Wirtschaft stabilisierte sich ab Mitte 2022 wieder (USIP 08.08.2022; vgl. WB 10.2022) und im Jahr 2023 gab es einige Anzeichen für eine leichte wirtschaftliche Verbesserung (USIP 10.08.2023). Die Inflation ging zurück (WB 31.07.2023) und ging im April 2023 in eine Deflation über (WB 03.10.2023). Dies (FEWS NET 09.03.2024), in Verbindung mit günstigeren Wetterbedingungen für die Produktion von Nahrungsmitteln (FEWS NET 21.06.2024), führte zu Preissenkungen bei Lebensmitteln (REACH 21.06.2024; vgl. WFP 11.07.2024). In weiterer Folge sank die akute Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung zwischen April und Oktober 2023 von 40 % auf 29 % (WB 4.2024). Die Wirtschaft stagnierte in weiterer Folge jedoch (WB 4.2024; vgl. UNDP 07.03.2024), und die sozioökonomische Situation in Afghanistan ist weiterhin durch Armut, Ernährungsunsicherheit und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet (WB 4.2024).

Laut einem Bericht des World Food Programmes hatten im Dezember 2023 38 % der Haushalte im Rahmen der Nahrungsmittelaufnahme hohe Bewältigungsstrategien aufzuwenden, was einen Rückgang um 5 % gegenüber September 2023 bedeutet. Zu diesen verbrauchsorientierten Bewältigungsstrategien zählen beispielsweise der Kauf billigerer Nahrungsmittel, das Borgen von Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden, die Einschränkung der Portionsgröße bei Erwachsenen oder das Reduzieren der Anzahl der Mahlzeiten pro Tag (WFP 11.02.2024). Weitere Strategien zur Bewältigung der grundlegenden Bedürfnisse der Haushalte sind die Aufnahme von Schulden, der Verkauf von Eigentum (UNOCHA 23.12.2023; vgl. ACAPS 03.06.2024), Betteln (ACAPS 03.06.2024), die (Zwangs)verheiratung von Mädchen (UNOCHA 23.12.2023), Kinderarbeit (STC 2023; vgl. UNOCHA 23.12.2023) oder der Verkauf von Organen (NYT 19.03.2024; vgl. FR24 28.02.2022).

Im Hinblick auf die Frage der Lebenserhaltungskosten in Afghanistan gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen Afghanistans sowie dem städtischen und ländlichen Bereich. Aber auch die diesbezüglichen Quellen weichen teilweise voneinander ab. So gibt ein Experte aus Afghanistan an, dass ein durchschnittliches Drei-Zimmer-Appartement in Kabul ca. 14.000 AFN in Monat an Miete kostet. Für die Lebenserhaltungskosten einer fünf- bis sechsköpfigen Familie würde noch einmal ca. derselbe Betrag benötigt. Damit würde sich die monatlichen Lebenserhaltungskosten für eine fünf- bis sechsköpfige Familie auf ca. 28.000 AFN belaufen (STDOK/VQ AFGH 04.08.12.2024). Eine weitere in Afghanistan lebende Quelle gibt an, dass die monatlichen Lebenserhaltungskosten stark vom Lebensstandard und den wirtschaftlichen Bedingungen abhängig sind. Die folgende Tabelle zeigt monatliche Kosten für Alleinstehende und Familien für die verschiedenen Bereiche und unterscheidet zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Kosten in Afghani (AFN) mit Stand Dezember 2024 (RA KBL 07.12.2024):

Eine von IOM durchgeführte Befragung betreffend den monatlichen Lebenserhaltungskosten in Afghanistan ergab hingegen die folgenden Daten (IOM 02.12.2024).

[Anmerkung: Aufgrund der enormen Unterschiede zwischen den Inhalten der beiden Quellen und auch zwischen den Zahlen von IOM vom Dezember 2024 (IOM 02.12.2024) und September 2024 (IOM 17.09.2024) wurde bei IOM nachgefragt.]

Laut IOM ergibt sich die Diskrepanz zwischen den im IOM-Bericht vom September 2024 angegebenen Mietpreisspannen und den jüngsten Daten (Dezember 2024) zu den monatlichen Lebenshaltungskosten in erster Linie aus Unterschieden im Profil der Befragten, wie z. B. der finanziellen Situation und der Art der gemieteten Unterkunft. Im September befragte IOM Afghanistan Personen mit mittlerem Einkommen, die Wohnungen zwischen 5.500 und 15.000 AFN mieteten. In den Daten vom Dezember 2024 befragte IOM Afghanistan eine vielfältigere Gruppe von Schlüsselpersonen, darunter auch Befragte mit sehr niedrigem Einkommen (die in einfachen Unterkünften leben), und legte den Schwerpunkt auf die Kosten, die nur zur Deckung der Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Lebensmittel und Hygieneprodukte erforderlich sind. Es gibt erhebliche Unterschiede bei den Mindestmietpreisen in Afghanistan sowie bei den Unterbringungsstandards, was zu niedrigeren durchschnittlichen Gesamtmietkosten in den neueren Daten beiträgt. Menschen mit besseren finanziellen Bedingungen neigen dazu, in gut ausgestatteten Wohnungen zu leben, während Menschen mit niedrigerem Einkommen sich für günstigere Optionen entscheiden. Diese Ungleichheit wird durch das Fehlen standardisierter Mietpreise, die von den zuständigen Behörden festgelegt werden, noch verschärft. Aus diesem Grund ist die im Dezember 2024 gemeldete Spanne der Mietkosten größer und umfasst auch sehr günstige Wohnungen (2.000 AFN/Monat), wobei die Standards in solchen Unterkünften sehr niedrig sind (IOM 09.01.2025b).

Auch bei Preisen für Güter und Dienstleistungen kann es zu unterschiedlichen Kosten je nach Region kommen. Zur Veranschaulichung dessen folgt nun eine Darstellung der Preise für Winterkleidung und Winterschuhe in den unterschiedlichen Teilen Afghanistans, welche von IOM-Afghanistan vor Ort recherchiert wurden (Preise in AFN). Winterkleidung ist in Afghanistan erhältlich und wird sowohl importiert wie auch vor Ort produziert (IOM 02.12.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90 % der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 03.02.2023).

Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.06.2023).

Im November 2024 führte ATR Consulting eine weitere Studie in Kabul durch. Hier gaben 12 % der Befragten an, dass sie grundlegende Konsumgüter wie Kleidung oder Schuhe für die Mitglieder ihrer Familie zur Verfügung stellen können, während dies 21 % der Befragten gerade noch möglich ist. 41 % schaffen es kaum, diese Güter zur erwerben, und 26 % ist dies gar nicht möglich. 37 % der Befragten haben immer Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten, zu denen alle Produkte für die persönliche Hygiene wie Seife, Shampoo, Zahnpasta, Lotion, Desinfektionsmittel, Damenhygieneprodukte usw. gehören. 26 % der Befragten haben gerade noch Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten, während 28 % kaum Zugang und 9 % keinen Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten haben (STDOK/ATR 14.01.2025).

Pensionssystem

Laut einem Rechtsanwalt in Kabul ist das Rentensystem in Afghanistan derzeit ausgesetzt (RA KBL 19.02.2024). Im Sommer 2022, etwa ein Jahr nach der Übernahme, kündigten die Taliban an, die Scharia-Grundlage für Renten zu prüfen. Später, im Oktober 2022, wurde ein vom Kabinett ratifizierter Pensionsplan dem Obersten Führer Hibatullah Akhundzada zur Genehmigung vorgelegt, wobei das Finanzministerium vorschlug, 4 Milliarden Afghani (rund 46 Millionen US-Dollar) für die Bezahlung der Renten im öffentlichen Sektor bereitzustellen (AAN 22.05.2024; vgl. AAN 17.04.2023). Das reichte kaum aus, um die jährlichen Pensionskosten der Regierung zu decken, die laut jüngsten Schätzungen von BBC bei 12,5 Milliarden Afghani (175 Millionen US-Dollar) liegen (AAN 22.05.2024; vgl. BBC 09.04.2024). Darin waren auch nicht die Rückstände enthalten, die den Rentnern für 2021 und 2022 geschuldet wurden (AAN 22.05.2024). Im April 2024 kündigten die Taliban an, das Rentensystem abzuschaffen und die Rentenbeiträge nicht mehr von den Gehältern des derzeitigen zivilen und militärischen Personals abzuziehen. Betreffend Rentenregelungen für Arbeitnehmer im Privatsektor sowie für Personen, die keiner formellen Beschäftigung nachgehen, sind keine vollständigen Informationen bekannt (AAN 22.05.2024). Mit Stand August 2024 bleibt das Pensionssystem in Afghanistan weiterhin außer Kraft (8am 26.08.2024).

Naturkatastrophen

Afghanische Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks (FEWS NET 06.07.2024; vgl. AI 24.04.2024), darunter Dürren (UNOCHA 2024; vgl. ADB 4.2024), Überflutungen (FEWS NET 06.07.2024; vgl. ADB 4.2024) und Erdbeben (ADB 4.2024; vgl. IDMC 14.05.2024). Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.04.2023).

Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.03.2023; vgl. FR24 22.03.2023). Berichten zufolge kamen bei Überschwemmungen im Juli 2023 mindestens 47 Menschen in elf Provinzen ums Leben (PAN 27.07.2023). Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 01.08.2023; vgl. AJ 24.07.2023). Betroffene Provinzen waren vor allem Kabul, Maidan Wardak und Ghazni (AJ 24.07.2023), aber auch die Provinzen Kunar, Paktia, Khost, Nuristan, Nangarhar, Paktika und Helmand hatten Opfer zu verzeichnen (PAN 27.07.2023).

Am 07.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vgl. UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023) und Tausende Menschen getötet (AP 11.10.2023; vgl. AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verletzte forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023).

Nach Angaben von UNOCHA sind im Jahr 2024 mit Stand 05.10.2024 mehr als 180.200 Menschen von Naturkatastrophen betroffen. Neben 528 Todesfällen und 838 Verletzten wurden auch 14.899 Häuser beschädigt und 6.511 zerstört. Besonders betroffen waren im Jahr 2024 die Provinzen Ghor, Nangarhar und Baghlan, wobei es auch in anderen Teilen des Landes zu Naturkatastrophen kam (UNOCHA 05.10.2024). [...]

Armut und Lebensmittelunsicherheit

Letzte Änderung 2025-01-30 08:43

Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (WB 01.07.2024) mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung (WFP 25.06.2023). Seit 2021 ist in Afghanistan eine leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit zu verzeichnen, obwohl das Land in den letzten Jahren mit einer Reihe bedeutender Herausforderungen konfrontiert war. Dazu gehören der politische Übergang im August 2021, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und mehrere Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben und Dürren. Darüber hinaus bewältigt das Land den Zustrom afghanischer Rückkehrer aus den Nachbarregionen, die weiterhin die Ressourcen belasten und die Ernährungssicherheit beeinträchtigen (WFP 09.07.2024; vgl. IPC 07.01.2025). Auch der Afghanistan Welfare Monitoring Survey (AWMS) vom Oktober 2023 deutet darauf hin, dass sich die Ernährungssicherheit afghanischer Haushalte seit den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban am 15.08.2021 verbessert hat, auch wenn die meisten von ihnen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dies spiegelt sich in einem Rückgang der Haushalte wieder, die von einer akuten Nahrungsmittelkrise berichten (WB 10.2023).

Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) sank der Anteil der Haushalte mit mangelhaftem Nahrungsmittelverbrauch im Juni 2023 kurzfristig auf 48 %, stieg jedoch im Dezember 2023 wieder auf 54 %, wobei Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sowie Haushalte mit Menschen mit Behinderung überproportional von den negativen Ergebnissen beim Lebensmittelkonsum betroffen sind (WFP 11.2.2024). Auch der Afghanistan Welfare Monitoring Survey (AWMS) vom Oktober 2023 deutet darauf hin, dass sich die Ernährungssicherheit afghanischer Haushalte seit den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban am 15.08.2021 verbessert hat, auch wenn die meisten von ihnen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dies spiegelt sich in einem Rückgang der Haushalte wieder, die von einer akuten Nahrungsmittelkrise berichten (WB 10.2023).

In der Periode September bis Oktober 2024 sind nach Schätzungen der IPC ca. 11,6 Millionen Menschen (25 % der Gesamtbevölkerung) von einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, die in IPC-Phase 3 oder höher (Krise oder schlimmer) eingestuft wird. Davon befinden sich etwa 1,8 Millionen Menschen (4 % der Gesamtbevölkerung) in IPC-Phase 4 (Notfall) und etwa 9,8 Millionen Menschen (21 % der Gesamtbevölkerung) in IPC-Phase 3 (Krise). Diese leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit ist auf eine verbesserte landwirtschaftliche Produktion, das Ausmaß der humanitären Nahrungsmittel- und landwirtschaftlichen Nothilfe im Zeitraum 2023/2024 und eine verbesserte Kaufkraft der Haushalte zurückzuführen. Für den Zeitraum November 2024 bis März 2025, der mit der kalten Jahreszeit zusammenfällt, prognostiziert IPC, dass 14,8 Millionen Menschen (32 % der Gesamtbevölkerung) in die IPC-Phase 3 oder höher (Krise oder schlimmer) eingestuft werden. Darunter fallen 3,1 Millionen Menschen (7 % der Gesamtbevölkerung) in Phase 4 und 11,6 Millionen (25 % der Gesamtbevölkerung) in Phase 3. Des Weiteren wird durch IPC prognostiziert, dass im Zeitraum Juni 2024 und Mai 2025 fast 3,5 Millionen Kinder im Alter von sechs bis 59 Monaten an akuter Unterernährung leiden oder voraussichtlich daran erkranken werden (IPC 07.01.2025). Anmerkung: Erklärungen zu den einzelnen IPC-Phasen finden sich am Ende des Kapitels. [...]

Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban zunächst gestiegen (IOM 12.01.2023; vgl. WEA 17.07.2022), was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkte (AA 26.06.2023). Ab Mitte 2022 begannen die Lebensmittelpreise wieder langsam zu sinken (WFP 18.02.2024). Ein Trend, der sich auch im Jänner 2024 fortsetzt. So lagen die Preise für Grundnahrungsmittel zu diesem Zeitpunkt etwa 1 bis 3 % niedriger als im Dezember 2023 und 20 bis 35 % niedriger als im Vorjahr. Der Preisrückgang ist in erster Linie auf die Aufwertung des Afghani zurückzuführen, der den Import von Lebensmitteln förderte. Darüber hinaus hat die laufende Einfuhr von Nahrungsmitteln aus den Nachbarländern, insbesondere aus Kasachstan, Iran und Pakistan, wesentlich zur Aufrechterhaltung eines stabilen Marktangebots beigetragen, was wiederum zu niedrigeren Preisen für wichtige Nahrungsmittel geführt hat (FEWS NET 28.02.2024). [...] In fast allen Fällen steigen die Preise bis Mitte 2022 an, um dann langsam wieder zu fallen. Mit Stand Mitte 2024 sind die Preise in einigen Fällen sogar unter dem Niveau vor der Taliban-Machtübernahme, in den anderen Fällen gleichen sie sich langsam an (WFP 27.09.2024).

Mitarbeiter von IOM-Afghanistan befragten im Jänner 2024 Einzelhandelsgeschäfte auf den lokalen Märkten in Afghanistan und sammelten Informationen aus erster Hand für die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif (IOM 22.02.2024). Mit Stand September 2024 bleiben diese Preise nach Angaben von IOM stabil (IOM 17.09.2024). [...]

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage seien, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.01.2022). In der ein Jahr später durchgeführten Studie von ATR Consulting in Kabul gaben ca. 53 % der Befragten an, dass sie kaum in der Lage seien, die Familie mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen (ATR/STDOK 03.02.2023).

Laut einer weiteren von ATR Consulting im November 2024 durchgeführten Studie in Kabul gaben 16 % der Befragten an, ausreichend Nahrung für ihre Familie bereitstellen zu können, während dies 32 % der Befragten gerade noch möglich ist. 42 % haben Probleme bei der Bereitstellung von ausreichender Nahrung und 10 % ist dies nicht möglich (STDOK/ATR 14.01.2025).

Anmerkung: Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) bietet eine gemeinsame Skala für die Einstufung des Schweregrads und des Ausmaßes von Ernährungsunsicherheit und akuter Unterernährung, welche die Genauigkeit, Transparenz, Relevanz und Vergleichbarkeit von Analysen zur Ernährungssicherheit und Ernährung für Entscheidungsträger verbessert:

Phase 1 (keine/minimale Mängel): Die Haushalte sind in der Lage, den Grundbedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern zu decken, ohne atypische und nicht nachhaltige Strategien zur Beschaffung von Nahrungsmitteln und Einkommen anzuwenden.

Phase 2 (Gestresst): Gestresste Haushalte haben einen minimal adäquaten Nahrungsmittelkonsum, können sich aber einige wesentliche Non-Food-Ausgaben nicht leisten, ohne Stressbewältigungsstrategien anzuwenden.

Phase 3 (Krise): Krisenhaushalte entweder: - haben Lücken im Nahrungsmittelkonsum, die sich in einer hohen oder überdurchschnittlichen akuten Unterernährung widerspiegeln; oder - sind nur knapp in der Lage, den Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, aber nur unter Aufzehrung der wesentlichen Existenzgrundlagen oder durch Krisenbewältigungsstrategien.

Phase 4 (Notfall): Nothaushalte entweder: - haben große Nahrungsmittellücken, die sich in einer sehr hohen akuten Unterernährung und einer hohen Sterblichkeitsrate niederschlagen; oder - sind in der Lage, große Nahrungsmittellücken auszugleichen, aber nur durch die Anwendung von Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Auflösung von Vermögenswerten.

Phase 5 (Katastrophe/Hungersnot): In den Haushalten herrscht ein extremer Mangel an Nahrungsmitteln und/oder anderen Grundbedürfnissen, selbst wenn die Bewältigungsstrategien voll ausgeschöpft werden. Hunger, Tod, Elend und ein extrem kritisches Maß an akuter Unterernährung sind offensichtlich. (Für eine Einstufung als Hungersnot muss ein Gebiet ein extrem kritisches Niveau an akuter Unterernährung und Sterblichkeit aufweisen) (IPC 8.2021). [...]

Wohnungsmarkt

Letzte Änderung 2025-01-30 09:01

Die Dynamik der Mietpreise in städtischen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, darunter Lage, Ausstattung und die allgemeine Qualität der Unterkunft (IOM 22.02.2024).

Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News hatte im September 2022 bei Immobilienhändlern in den Kabuler Stadtteilen Shahr-i-Naw, Khoshal Khan und Qasaba Informationen über Kauf- und Verkaufspreise sowie Mietkosten eingeholt (PAN 19.09.2022). Demnach sanken Mietpreise für Häuser und Grundstücke nach dem Regierungswechsel im Jahr 2021 um 60 %. Im Jahr 2022 stiegen die Preise jedoch wieder um 50 %. So lag die Miete für eine Dreizimmerwohnung vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 je nach Stadtteil zwischen 8.000 AFN und 35.200 AFN. In den ersten Tagen des Talibanregimes sank der Preis auf zwischen 4.250 AFN und 25.400 AFN, und mit September 2022 lag der Preis zwischen 5.000 AFN und 19.800 AFN (PAN 19.09.2022). Ein afghanischer Wirtschaftsexperte gab an, dass zwar die Preise für Wohnungen und Autos seit der Machtübernahme durch die Taliban stark gesunken wären, jedoch gleichzeitig auch die Kaufkraft der Menschen erheblich gesunken ist (WEA 17.07.2022).

Folgende Tabelle zeigt Informationen von IOM (International Organization for Migration), die im Jänner 2024 Daten zu Mietpreisen pro Monat vor Ort bei Vermietern und Hauseigentümern in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif erhoben hat. Sie sind nach der Anzahl der Betten in der Wohnung geordnet und bieten Einblicke in die Schwankungen der Mietpreise in verschiedenen Wohnumgebungen (IOM 22.02.2024). Mit September 2024 sind die nachfolgenden Preise, nach Angaben von IOM, weiterhin aktuell (IOM 17.09.2024). [...] (IOM 22.02.2024), die Umrechnung EUR zu AFN wurde mit Stand 21.02.2024 von IOM durchgeführt.

Eine von IOM im Dezember 2024 durchgeführte Studie zu den Lebenserhaltungskosten in Afghanistan legt teilweise deutlich niedrigere Kosten für Miete bzw. Unterkunft nahe (IOM 02.12.2024). Der Grund für diese Unterschiede wurde im Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“ erklärt.

Eine weitere in Kabul ansäßige Quelle gab an, dass sich die Preise mit Stand Dezember 2024 für eine einfache Unterkunft im städtischen Bereich zwischen 8.000 - 12.000 AFN für Alleinstehende und zwischen 10.000 - 30.000 AFN für Familien bewegen. Im ländlichen Bereich belaufen sich die Kosten zwischen 4.000 - 7.000 AFN (Alleinstehende) und 8.000 - 20.000 AFN (Familien) (RA KBL 07.12.2024).

Ein Mitte Dezember 2024 erschienener Artikel berichtet davon, dass die Preise für Mietwohnungen im Jahr 2024 wieder angestiegen sind. Ein Afghane berichtet beispielsweise, dass die Miete seiner 4-Zimmer-Wohnung nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul 5.000 AFN betrug, nun aber auf 12.000 AFN erhöht wurde. Immobilienmakler berichten, dass in den innerstädtischen Bezirken Kabuls die Mieten um ca. 40 % und in den Außenbezirken um ca. 20 - 30 % gestiegen sind (AAN 15.12.2024).

In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000 bis 10.000 AFN pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.01.2022).

Laut der Studie, die ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchführte, leben ca. 58 % der Befragten in Mietwohnungen bzw. -häusern, während der Rest Hausbesitzer sind. Von den Befragten, die in einer Mietwohnung leben, bezahlen ca. 60 % weniger als 5.000 AFN im Monat an Miete und ca. 33 % zwischen 5.000 und 10.000 AFN (ATR/STDOK 03.02.2023).

Laut einer weiteren von ATR Consulting im November 2024 durchgeführten Studie in Kabul gaben 94 % der Befragten an, entweder mit ihrer Kernfamilie und/oder mit weiteren Familienmitgliedern im selben Haus zu wohnen. 40 % der Befragten sind Eigentümer des Hauses bzw. des Appartements, in dem sie wohnen, und 60 % leben in Mietverhältnissen. Im Hinblick auf die finanzielle Situation gaben 40 % der Befragten an, sich die Wohnkosten leisten (18 %) bzw. gerade noch leisten zu können, während 60 % entweder Probleme haben (49 %), die Kosten aufzubringen, oder sich die Wohnverhältnisse gar nicht leisten können (11 %) (STDOK/ATR 14.01.2025).

Anmerkung: Wechselkurse, so nicht anders angegeben, wurden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der jeweiligen Quelldokumente errechnet, diese können sich im Laufe der Zeit geändert haben. [...]

Arbeitsmarkt

Letzte Änderung 2025-01-31 16:38

Fast alle Arbeitsverhältnisse in Afghanistan sind informell (Schwörer 30.11.2020; vgl. SEM 11.12.2024). Ihr Anteil hat seit der Taliban-Machtübernahme zugenommen, da in der formellen Wirtschaft viele Arbeitsplätze verloren gingen. Einer Schätzung von Juli 2024 zufolge wurden zu diesem Zeitpunkt rund 74 % des Bruttoinlandprodukts von der informellen Wirtschaft erbracht (ACAPS 30.07.2024; vgl. SEM 11.12.2024).

Als Folge der Machtübernahme der Taliban ist der Arbeitsmarkt vor allem in den Städten geschrumpft, und seitdem gingen (mit Stand September 2024) mehr als eine halbe Million Arbeitsplätze verloren (IOM 17.09.2024). Auch Nominal- und Reallöhne gingen nach der Machtübernahme der Taliban erheblich zurück (HRW 08.08.2022; vgl. WB 03.10.2023), obwohl sich die Löhne für qualifizierte und ungelernte Arbeit seitdem erholt haben und sogar über dem Wert vor der Machtübernahme liegen (WB 03.10.2023; vgl. WFP 11.07.2024).

Seit die Taliban im August 2021 wieder an die Macht gekommen sind, haben sie über 50 Dekrete erlassen, die darauf abzielen, die öffentlichen und privaten Rollen von Frauen einzuschränken (IOM 17.09.2024). Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren (AI 7.2022; vgl. IOM 17.09.2024), was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (IOM 17.09.2024; vgl. UNDP 18.04.2023). Laut Erhebungen der Weltbank ist die Arbeitslosigkeit bei Frauen in allen Altersgruppen deutlich höher als bei Männern (WB 10.2023). [Weitere Informationen zu Frauen am Arbeitsmarkt finden sich im Kapitel „Politische Partizipation und Berufstätigkeit von Frauen.“] [...]

Seit der Machtübernahme ist Berichten zufolge die Kinderarbeit und die Anzahl der Bettler deutlich gestiegen (IOM 12.01.2023; vgl. WB 10.2023). Der Anstieg der Kinderarbeit könnte auch mit der Schließung von Schulen und Universitäten für Frauen sowie mit der vorherrschenden Konzentration auf religiöse Lehren in Schulen für Männer zusammenhängen. In Afghanistan ist Kinderarbeit vor allem in ländlichen Gebieten vorzufinden (IOM 12.01.2023). Kinder werden beispielsweise bei der Herstellung von Ziegeln (AJ 26.09.2022) oder in Kohleminen als Arbeiter eingesetzt (NPR 31.12.2022).

Nach Angaben von IOM (Stand Februar 2024) liegt der durchschnittliche Tageslohn in Kabul zwischen 300 und 500 AFN, was die vielfältigen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten in der Hauptstadt widerspiegelt. Für Herat gibt der Bericht an, dass der durchschnittliche Tageslohnempfänger eine etwas geringere Spanne von 250 bis 350 AFN erhält. In Mazar-e Sharif schließlich liegt der durchschnittliche Tageslohn bei 200 AFN. Diese Unterschiede bei den Tageslöhnen in den einzelnen Städten verdeutlichen die lokalen wirtschaftlichen Bedingungen, die Faktoren wie die Zusammensetzung der Industrie, die Nachfrage nach Arbeitskräften und die regionale wirtschaftliche Entwicklung umfassen und ein differenziertes Verständnis der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit in den verschiedenen städtischen Zentren ermöglichen (IOM 22.02.2024). Laut IOM blieben diese Beträge mit September 2024 aktuell (IOM 17.09.2024). Im Juli 2024 berichtet das World Food Programme (WFP), dass die Löhne für gelernte und ungelernte Arbeiter gestiegen sind. So verdient ein ungelernter Arbeiter im Schnitt 317 AFN pro Tag, während das Durchschnittsgehalt eines gelernten Arbeiters 655 AFN beträgt (WFP 11.07.2024). Das erwartete monatliche Durchschnittseinkommen für ungelernte Vollzeitarbeiter liegt mit Juli 2024 bei 3.362 AFN, womit nur 64 % des Warenkorbs des WFP (5.232 AFN) finanziert werden können (WFP 12.08.2024).

Laut einer von ATR Consulting im November 2024 durchgeführten Studie in Kabul waren 67 % der Befragten in Vollzeit berufstätig (51 der Männer und 10 % der Frauen), während 8 % angaben, gelegentlich Arbeit zu haben. 28 % der Befragten (69 % der weiblichen Befragten) gaben an, Hausfrau zu sein, und 23 % der Befragten bezeichneten sich als arbeitslos (STDOK/ATR 14.01.2025). [...]

Bank- und Finanzwesen

Letzte Änderung 2025-01-30 10:53

Einem Bericht des United Nations Development Programme (UNDP) zufolge kam es nach dem Regimewechsel zu einer erheblichen Verschlechterung des Bankensystems in Afghanistan, die in erster Linie auf Bank-Runs (d. h., eine große Gruppe von Einlegern zieht ihr Geld gleichzeitig von den Banken ab) und einen Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit zurückzuführen ist. Diese Krise führte zu einem erheblichen Abzug von Einlagen aus den Banken, was zu einem starken Rückgang sowohl der Gesamteinlagen als auch der ausstehenden Kredite führte. Die abrupte Einstellung der internationalen Hilfe in Verbindung mit der Schrumpfung der Bankbilanzen wirkte sich unmittelbar auf die Geldmenge aus und führte zu einem erheblichen Rückgang in realen Werten. Die Tatsache, dass die Zentralbank [Anmerkung: Da Afghanistan Bank - DAB] nicht in der Lage war, AFN-Banknoten zu produzieren, sowie das Einfrieren der Devisenreserven, verschärften die Liquiditätsengpässe in der Wirtschaft sowohl im Inland als auch in Fremdwährung (UNDP 12.2023; vgl. IOM 17.09.2024). Probleme im Zusammenhang mit dem Bankensektor - wie eingeschränkte Funktionalität, mangelnde Liquidität und Schwierigkeiten beim Zugang zu Bankkrediten - sowie eine mangelnde Verbrauchernachfrage bleiben die wichtigsten geschäftlichen Einschränkungen (WB 19.03.2024).

Auch im Jahr 2024 heben mehr und mehr Afghanen ihr Geld von den Banken ab und schließen ihre Konten. Experten zufolge hat die Schließung von Bankkonten durch die Afghanen dazu beigetragen, die Geldmenge im Land weiter einzuschränken und die Wirtschaft weiter unter Druck zu setzen. Die Taliban legten zunächst ein wöchentliches Abhebungslimit von 200 US-Dollar für einzelne Bankkonten fest. Im Dezember 2023 erhöhte die von den Taliban geführte Zentralbank das Limit auf 1.000 US-Dollar (RFE/RL 29.05.2024).

Die Herausforderungen im Bankensektor behindern weiterhin sowohl nationale als auch internationale Transaktionen (WB 19.03.2024). Jedoch ist es mit Stand September 2024 möglich, Geld sowohl vor Ort als auch aus dem Ausland nach Afghanistan zu überweisen. Empfänger in abgelegenen Gebieten könnten jedoch aufgrund von Einschränkungen der Netzabdeckung und der Know-Your-Customer-Anforderungen (KYC) Schwierigkeiten haben, Zugang zu Banken zu erhalten. Die KYC-Richtlinie ist ein verbindlicher Rahmen für Banken und Finanzinstitute zur Identifizierung von Kunden. Jeder Kunde muss seine Identität und Adresse durch Vorlage von Ausweispapieren nachweisen (IOM 17.09.2024).

Wie bereits erwähnt, trägt der Mangel an Bargeld in Afghanistan zur aktuellen Wirtschaftskrise bei (UNDP 12.2023; vgl. IOM 17.09.2024). Zusätzlich haben die Taliban die Verwendung von Fremdwährungen im November 2021 verboten (RFE/RL 03.11.2021). Da afghanische Banknoten in Europa gedruckt werden, konnten aufgrund der Sanktionen lange keine neuen Banknoten bestellt werden (WB 4.2022). Auch ist nur ein kleiner Teil des existierenden Bargelds in Umlauf, weil einzelne Privatpersonen und Unternehmen große Summen an Bargeld horten (NRC 1.2022). Nach einer Spezialgenehmigung konnte die DAB im Oktober 2022 erstmals wieder neue Banknoten importieren (IOM 17.09.2024; vgl. UNDP 12.2023).

Der Afghani (AFN) hat seine Stabilität gegenüber dem USD seit März 2022 durchgehend beibehalten. Diese Stabilität ist auf die anhaltenden Auswirkungen der Bargeldtransporte der Vereinten Nationen und die USD-Auktionen der Zentralbank zurückzuführen. Infolge dieser Maßnahmen und einer daraus resultierenden Währungsverringerung wertete der AFN im Laufe des Jahres gegenüber den wichtigsten Währungen auf (WFP 11.02.2024).

Anfang Dezember 2023 kündigte der Leiter der DAB die Umstellung auf ein komplett islamisches Bankensystem an, bei dem Banken keine Profite machen dürfen (AT 03.12.2023; vgl. BAMF 31.12.2023). Das islamische Bankwesen, das erstmals in den 1970er-Jahren in den Golfstaaten entwickelt wurde, verbietet die Praxis der Geldvergabe gegen Zinsen. Wie konventionelle Banken erzielen islamische Banken ihre Gewinne durch die Vergabe von Krediten an Kunden. Während eine Bank jedoch Kredite gegen Zinsen vergibt, tun islamische Banken dies durch Kauf- und Verkaufstransaktionen. Im März 2024 ernannten die Taliban ein Komitee zur Überprüfung der Gesetze für die afghanische Zentralbank und den Geschäftsbankensektor. Die Taliban erklärten, dass islamische Banken „das Erzielen von Einkommen durch Zinsen auf Investitionen, Darlehen oder Einlagen“ verbieten (RFE/RL 29.05.2024). Die Auswirkungen dieses Schrittes auf das ohnehin stark geschwächte Finanzsystem werden von Beobachtern kritisch gesehen (BAMF 31.12.2023).

Hawala-System

Wesentlich verbreiteter als Western Union oder MoneyGram (IOM 12.04.2022; vgl. BAMF 12.2022) wird für Geldsendungen von und nach Afghanistan das informelle Hawala-System verwendet (IOM 17.09.2024; vgl. UNDP 12.2023). Hawala ist ein Geld- oder Werttransferdienst (Money or Value Transfer Service, MVTS), der seit Jahrhunderten genutzt wird und seinen Ursprung im Nahen Osten und in Südasien hat. Vor der Machtübernahme der Taliban befand sich das Hawala-System in Afghanistan in einer Grauzone – weder völlig legal noch illegal (IOM 17.09.2024).

Das System funktioniert ohne staatliche Regulierung und kann deswegen auch dort praktiziert werden, wo es entweder keine Staatlichkeit gibt oder die Beteiligten den Staat umgehen wollen (BAMF 12.2022). Es funktioniert fast weltweit, wird aber vor allem in muslimischen Ländern genutzt. Hawala wird von Geldwechslern, die Saraf oder Hawaladar genannt werden, betrieben, die über ein weit verflochtenes Netzwerk verfügen. Beispielsweise kann eine Person [Anmerkung: beispielsweise in Österreich] einem Saraf Geld geben. Dieser Saraf hat eine Handelsbeziehung zu einem Saraf in Afghanistan, den er anweisen kann, das Geld nach der Nennung eines vereinbarten Passworts an eine bestimmte Person auszuzahlen. Durch Netzwerke zwischen Sarafs kann das Geld auch über mehrere Stationen weitergeschickt werden und so aus dem Ausland über Kabul und ggf. eine Provinzhauptstadt bis in rurale Gegenden Afghanistans geschickt werden. Transaktionen können in wenigen Minuten bis maximal zwei Tagen abgeschlossen werden. Ähnlich wie bei Sendungen über Western Union oder MoneyGram entstehen Gebühren für das Senden und Wechseln des Geldes. Die Sarafs begleichen ihre Rechnungen durch Überweisungen in die andere Richtung, Banküberweisungen oder Bargeldsendungen (NRC 1.2022; vgl. BAMF 12.2022). Dieses System wird auch in anderen Ländern angewandt. Bei Transaktionen zwischen Iran und Österreich kann beispielsweise in Iran ein Betrag in IRR eingezahlt und eine entsprechende Summe in Österreich in EUR ausbezahlt werden (STDOK 23.12.2024; vgl. IRWEX 04.11.2024).

Es ist jedoch unklar, ob das Hawala-System, das immer noch auf harte Währungen angewiesen ist, angesichts der allgemeinen Wirtschaftskrise weiterhin ordnungsgemäß funktionieren kann. Der Mangel an Bargeld bedeutet, dass Hawaladar-Händler möglicherweise nicht mehr in der Lage sind, Gelder wie bisher auszuzahlen, ähnlich wie bei formellen Banken mit Liquiditätsengpässen (IOM 17.09.2024).

Gemäß dem österreichischen Zahlungsdienstegesetz (ZaDiG) ist Hawala-Banking ein Finanztransfergeschäft. Das Erbringen von Zahlungsdiensten ohne die hierfür erforderliche Berechtigung (Konzession) ist insb. nach § 99 Abs 1 ZaDiG 2018 strafbar. Anders als bei Geldwäschedelikten (§ 165 StGB) kommt es auf eine rechtswidrige Herkunft der weitergeleiteten Gelder nicht an. Darüber hinaus ist das Hawala-Geschäft als solches auch nicht erlaubnisfähig. Die beleglose Durchführung von Zahlungstransfers ohne die jeweilige umfängliche Kundenidentifizierung ist ein Verstoß gegen Geldwäscherichtlinien. Derartigen Geschäftsmodellen könnte daher weder in Österreich noch in anderen Mitgliedstaaten der EU eine Erlaubnis erteilt werden (STDOK 23.12.2024; vgl. IRRASR 14.11.2024). In Österreich sind keine institutionalisierten Hawaladare bekannt (STDOK 23.12.2024; vgl. IRWEX 04.11.2024).

[Anmerkung: Es darf hier auf den Themenbericht der Staatendokumentation „Finanztransfers zwischen Iran und Europa“ (STDOK 23.12.2024) hingewiesen werden. Hier finden sich unter anderem auch weitere Informationen zum Hawala-System. Der Themenbericht ist auf COI-CMS und ecoi.net zu finden] [...]

Rückkehr

Letzte Änderung 2025-01-30 11:56

Anmerkung: Für weitere Informationen zum Thema „Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan“ sei auf das betreffende Kapitel verwiesen.

Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichten das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.03.2024) und andere Quellen (MEE 01.06.2022; vgl. AAN 20.01.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 01.06.2022; vgl. AAN 20.01.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.01.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 01.06.2022), und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.03.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.06.2023).

Am 30.08.2024 wurden erstmals seit der Machtübernahme der Taliban afghanische Staatsangehörige aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Nach Angaben der deutschen Bundesregierung handelt es sich dabei um „afghanische Straftäter, afghanische Staatsangehörige, die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen“ (Standard 30.08.2024; vgl. Spiegel 30.08.2024). Die insgesamt 28 abgeschobenen Afghanen wurden nach ihrer Rückkehr nach Kabul durch die Taliban angehalten und ins Gefängnis gebracht. Kurz darauf wurden sie nach Auskunft der Taliban wieder auf freien Fuß gesetzt (Spiegel 06.09.2024; vgl. AN 10.09.2024), nach einer schriftlichen Zusicherung, dass sie keine Verbrechen in Afghanistan begehen würden (AMU 08.09.2024). In einem Interview, welches am 16.09.2024 veröffentlicht wurde, bestätigte ein Taliban-Sprecher, dass alle aus Deutschland rückgeführten afghanischen Staatsbürger freigelassen wurden. Sie wurden mithilfe der Vermittlung eines Staates, mit dem die Taliban „freundschaftliche Beziehungen“ führen, eingeflogen. Auch sind die Taliban laut dem Sprecher bereit, auch in Zukunft abgeschobene Afghanen aus Deutschland aufzunehmen (Fokus 16.09.2024).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.02.2024; vgl. IOM 17.09.2024).

Das Deutsche Auswärtige Amt geht davon aus, dass die Taliban zurückkehrende Personen im Rahmen ihrer allgemeinen Praxis im Umgang mit der Zivilbevölkerung behandeln. Die Bedrohung der persönlichen Sicherheit ist im Einzelfall das zentrale Hindernis für zurückkehrende Personen. Auch vor dem Hintergrund der faktischen Kontrolle der Taliban über alle Landesteile lässt sich die Frage einer möglichen Gefährdung im Einzelfall nicht auf einzelne Landesteile, etwaige Sicherheitsrisiken durch Terrorismus oder lokale Kampfhandlungen begrenzen. Entscheidend für die individuelle Sicherheit der Personen bleibt, nach dem Dafürhalten des Auswärtigen Amtes, vielmehr die Frage, wie die Person von der Taliban-Regierung und dritten Akteuren wahrgenommen wird (AA 12.07.2024).

Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 12.07.2024). Im Hinblick auf jene verurteilten Straftäter, welche im August 2024 aus Deutschland nach Afghanistan rückgeführt wurden, sagte ein Sprecher der Taliban, dass gegen diese kein Strafverfahren in Afghanistan vorliegen würde. Sollte dies der Fall gewesen sein, wären sie einem Richter vorgeführt worden. Er gab weiters an, dass den Taliban keine Informationen über die in Deutschland begangenen Straftaten vorliegen (Fokus 16.09.2024). [...]

Rückkehrunterstützung des österreichischen Staates

Letzte Änderung 2025-01-09 14:36

[Dieses Kapitel basiert auf Informationen, die von der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH) mit Stand Dezember 2024 zur Verfügung gestellt worden sind (BMI 06.12.2024). Im Bereich der Rückkehrunterstützung kann es zu kurzfristigen Änderungen kommen. Für weitere Informationen sei auf die entsprechende Seite der BBU verwiesen].

Die Mitarbeiter der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH) informieren individuell über die Möglichkeiten der freiwilligen Rückkehr bzw. die verfügbaren Unterstützungsleistungen.

Die Rückkehrunterstützung umfasst folgende Leistungen:

Kostenlose individuelle Beratung zur freiwilligen Rückkehr einschließlich Antragsstellung auf finanzielle Unterstützung durch die BBU

Organisatorische Unterstützung bei der Reisevorbereitung

Übernahme der Heimreisekosten

Finanzielle Starthilfe in Höhe von bis zu € 900

Reintegrationsprogrammteilnahme nach der Rückkehr im Zielland

Ein Rechtsanspruch auf diese Unterstützungsleistungen besteht nicht. Die Bewilligung erfolgt durch das österreichische Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA). Weitere Informationen zu den aktuellen Unterstützungsangeboten (Rückkehrunterstützung inkl. Reintegrationsunterstützung) sind auf der Webseite „www.returnfromaustria.at“ verfügbar.

Die BBU unterstützt sowohl bei der Reiseplanung und der Flugbuchung als auch bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten, einer ggf. notwendigen medizinischen Versorgung sowie mit der Übernahme der Rückreisekosten. Organisatorische Unterstützung kann grundsätzlich in jeder Verfahrenskonstellation gewährt werden. Voraussetzung für die Gewährung der Übernahme der Heimreisekosten ist die Mittellosigkeit der rückkehrenden Person.

Finanzielle Starthilfe

Die Höhe der finanziellen Starthilfe ist in einem degressiven Modell geregelt und staffelt sich nach dem Zeitpunkt der Antragstellung auf unterstützte freiwillige Rückkehr:

Während des laufenden asyl- oder fremdenrechtlichen Verfahrens bis ein Monat nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung: € 900,00 pro Person; ab einem Monat nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung: € 250,00 pro Person

Kernfamilien: Maximalbetrag von € 3.000 pro Familie

Sonderkonstellation: Für vulnerable Rückkehrende, die grundsätzlich von der finanziellen Starthilfe ausgeschlossen wären, kann nach individueller Einzelfallprüfung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein einmaliger Betrag von € 250,00 pro Person gewährt werden.

Kriterien für den Erhalt der finanziellen Starthilfe und der Reintegrationsunterstützung (Ausnahmen im Einzelfall möglich):

Freiwillige Ausreise

Finanzielle Bedürftigkeit bzw. Mittellosigkeit

Erstmaliger Bezug der Unterstützungsleistung

Nachhaltigkeit der Ausreise

Keinerlei Evidenz eines Sicherheitsrisikos durch die freiwillige Rückkehr

Keine schwere Straffälligkeit

Ausgeschlossen vom Bezug der finanziellen Starthilfe sind EWR-Bürger, Personen aus den Westbalkan-Staaten sowie Staatsangehörige von Ländern mit visumsfreier Einreise nach Österreich (z. B. Georgien, Moldawien). Sonderkonstellation: Für vulnerable Rückkehrende aus diesen Regionen, die grundsätzlich von der finanziellen Starthilfe ausgeschlossen wären, kann nach individueller Einzelfallprüfung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein einmaliger Betrag von € 250,00 pro Person gewährt werden

Reintegrationsunterstützung

Für 42 Herkunftsländer können freiwillige Rückkehrer im Sinne des Leitgedankens „Rückkehr mit Perspektiven“ Reintegrationsunterstützung im Wert von bis zu € 3.500 beantragen.

Die Abwicklung des Reintegrationsangebots erfolgt mit den Kooperationspartnern:

Frontex (EU Reintegrationsprogramm EURP)

IOM Österreich (Reintegrationsprogramm RESTART IV)

Caritas Österreich (Reintegratonsprogramm IRMA plus III)

OFII (französische Migrationsbehörde „French Office for Immigration and Integration“)

ETTC (im Irak tätige NGO „European Technology and Training Centre“)

Im Rahmen der Reintegrationsprogramme erhalten Rückkehrende umfassende Unterstützung bei der Wiedereingliederung in ihrem Herkunftsland. Dazu gehören individuelle, persönliche Beratung und vorwiegend Sachleistungen z. B. wirtschaftliche, soziale und psychosoziale Hilfen. Die Programme bieten ein breites Spektrum an Leistungen, um einen optimalen Einsatz der Mittel zu gewährleisten.

Weitere Informationen zu den jeweiligen Programmen bzw. für welche Herkunftsländer diese angeboten werden, sind den oben angeführten Seiten zu entnehmen (BMI 06.12.2024). [...]

Dokumente

Letzte Änderung 2025-01-30 13:41

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.07.2020; vgl. SEM 12.04.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.04.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anmerkung: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.04.2023; vgl. MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.04.2023).

Mit Stand Februar 2024 können Reisepässe, Tazkira und e-Tazkira laut einem Rechtsanwalt in Kabul in allen Provinzen Afghanistans beantragt werden. Die Ausstellung von Reisepässen kann jedoch bis zu einem Jahr dauern. Reisepässe sehen noch genauso aus wie früher. Die e-Tazkira werden jedoch mit einigen Änderungen in Bezug auf das Layout ausgestellt. Auf der Vorderseite der e-Tazkira steht nicht mehr „Innenministerium“, sondern „Nationale Behörde für Statistik und Information“ in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Vorder- und Rückseite der e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, was vorher nicht der Fall war (RA KBL 19.02.2024). Zusätzlich sind neben der Religion auch die Nationalität, der Stamm und die ethnische Zugehörigkeit vermerkt (USDOS 15.05.2023). IOM weist jedoch darauf hin, dass Reisepässe nicht in allen Provinzen erhältlich sind. Das Innenministerium der Taliban hat in 15 der 34 Provinzen (Farah, Nimroz, Badghis, Paktika, Samangan, Laghman, Uruzgan, Kunar, Takhar, Zabul, Jawzjan, Bamyan, Panjsher, und Baghlan) Passämter wiedereröffnet und verlangt von den Antragstellern, dass sie sich in ihrer Herkunftsprovinz einen Pass besorgen. Die Funktionsfähigkeit dieser Abteilungen ist jedoch nach wie vor unklar. Verlängerungen von Reisepässen sind laut IOM möglich, unterliegen jedoch denselben geografischen Einschränkungen wie bei der Beantragung eines neuen Passes. Laut IOM gibt es in Afghanistan insgesamt 74 Verteilungszentren für elektronische Personalausweise, und alle 34 Provinzen verfügen über solche Einrichtungen (IOM 22.02.2024).

Andere Dokumente wie Heiratsurkunden können nach Angaben von IOM nur in sieben Provinzen ausgestellt werden: in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Balkh, Herat, Paktia, Kandahar und Khost. Einwohner aus anderen Provinzen müssen in eine dieser Provinzen reisen, um diese Dokumente zu erhalten (IOM 22.02.2024). [...]

Tazkira

Um eine Tazkira oder e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller ein (online-) Antragsformular ausfüllen, das die folgenden Informationen/Unterlagen/Überprüfungen erfordert:

Persönliche Informationen des Antragstellers

Tazkira des Vaters des Antragstellers (falls der Antragsteller unter 18 Jahre alt ist)

Lichtbild des Antragstellers

Bestätigung des Gebietsvertreters

Um eine e-Tazkira zu erhalten, ist zusätzlich die Papier-Tazkira des Antragstellers notwendig (RA KBL 11.03.2024). Falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist für Antragsteller unter 18 Jahren eine Geburtsurkunde erforderlich. Für Personen, die älter als 18 Jahre sind, ist die Tazkira (entweder elektronisch oder auf Papier) eines der Hauptverwandten des Antragstellers vorzulegen (Vater, Bruder, Onkel ... usw.), und zwei andere Personen müssen die Identität des Antragstellers bescheinigen (RA KBL 11.03.2024). In weiterer Folge muss der Antragsteller bei der e-Tazkira-Ausgabestelle erscheinen, um seine biometrischen Daten erfassen zu lassen und die entsprechende Gebühr (diese wurde vor Kurzem von 800 AFN auf 1.000 AFN angehoben) zu zahlen (RA KBL 19.02.2024). Nach Angaben von IOM liegen die Kosten für den Erhalt einer Tazkira bei 700 AFN (IOM 22.02.2024).

Reisepass

Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es immer wieder Probleme, wenn es um die Ausstellung von Reisepässen geht. Beispielsweise wurde die Ausstellung von Reisepässen für einige Monate ausgesetzt, da es nach Angaben der Passdirektion technische Schwierigkeiten gab (RA KBL 26.01.2023; vgl. KP 08.10.2022, SEM 12.04.2023). Es kam immer wieder zu Beschwerden über die langen Bearbeitungsdauern von Reisepässen (TN 11.12.2022; vgl. PAN 09.01.2023, TN 01.08.2023, AAN 05.02.2024). Es wird auch berichtet, dass Wartezeiten durch Zusatzzahlungen verringert werden können, wenn man über eine Kontaktperson in einem Passbüro verfügt (AAN 05.02.2024). Ein in Afghanistan tätiger Rechtsanwalt bestätigt, dass dies (im geringen Ausmaß) vorkommt, jedoch beide Seiten eine Strafe erhalten, sollte es bekannt werden (RA KBL 11.03.2024). Im August 2024 gab die Generaldirektion für Pässe im Innenministerium der Taliban an, dass täglich 12.000 Reisepässe (davon 6.000 in Kabul) ausgestellt werden. Insgesamt wurden, nach Angaben der Generaldirektion für Pässe, im Jahr 2023 über 2 Millionen Reisepässe ausgestellt. Afghanische Bürger beschweren sich jedoch weiterhin darüber, dass es in den Provinzen nicht dieselben Einrichtungen zur Erlangung eines Reisepasses geben würde wie in Kabul (SWN 21.08.2024).

Laut einer Erklärung des Sprechers der Generaldirektion für Pässe werden keine Pässe an Personen mit Ausreiseverboten wegen beispielsweise unbezahlter Schulden oder laufenden Straf-, Zivil- oder Handelsverfahren oder an Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, ausgestellt (TN 01.08.2023). Laut Angaben eines lokalen Rechtsanwalts in Kabul ist es für Frauen möglich, in Afghanistan auch ohne Begleitung eines Mahram [Anmerkung: männl. Begleitperson] einen Reisepass zu erhalten (RA KBL 11.03.2024), auch wenn sich die Behandlung der Antragsstellerinnen von Ort zu Ort unterscheiden kann. In Kabul ist es derzeit nicht vorgeschrieben. Der Erhalt eines Reisepasses für Frauen ist auch möglich, wenn sich der Ehemann der Frau zum Antragszeitpunkt im Ausland befindet (RA KBL 29.08.2023).

Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine e-Tazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden, und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (e-Tazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde) sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift (RA KBL 26.01.2023; vgl. RA KBL 19.02.2024, IOM 22.02.2024) werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen (RA KBL 26.01.2023; vgl. RA KBL 19.02.2024). Die Gebühr für einen Reisepass liegt zwischen 10.000 AFN (RA KBL 19.02.2024; vgl. IOM 16.08.2023) und 11.000 AFN für einen Reisepass, der für zehn Jahre gültig ist, bzw. bei 5.900 AFN für einen Reisepass mit fünfjähriger Gültigkeit (IOM 22.02.2024; vgl. RA KBL 11.03.2024). Bis vor Kurzem gab es nur einen Reisepass mit zehnjähriger Gültigkeit (RA KBL 11.03.2024).

Reisepässe außerhalb Afghanistans

Berichte über die Ausstellung bzw. Verlängerung von afghanischen Reisepässen im Ausland sind unterschiedlich. Laut Angaben eines Rechtsanwalts in Kabul ist die Erlangung eines Reisepasses außerhalb von Afghanistan mit Stand Februar 2024 in einigen wenigen Ländern, nämlich China, Pakistan, Iran und Usbekistan, mit Einschränkungen möglich (RA KBL 19.02.2024). IOM weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass neue afghanische Reisepässe außerhalb Afghanistans in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan (Islamabad und Peshawar) ausgestellt werden. Zusätzlich können afghanische Reisepässe in Saudi Arabien (Riyadh) verlängert, jedoch nicht neu ausgestellt werden (IOM 22.02.2024).

Für weitere Informationen zu afghanischen Dokumenten wird auf den Bericht „Identitäts- und Zivilstandsdokumente“ des Staatssekretariats für Migration [Schweiz] verwiesen (SEM 12.04.2023).

Anmerkung: Mahram kommt von dem Wort „Haram“ und bedeutet „etwas, das heilig oder verboten ist“. Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022). [...]

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Sprachkenntnissen des BF ergeben sich aus seinen gleichbleibenden Angaben im Verfahren (ua AS 3 ff, 100 ff). Mangels Vorlage unbedenklicher Identitätsdokumente konnte die Identität des BF nicht zweifelsfrei festgestellt werden.

Das Alter des BF ergibt sich aus dem medizinischen Sachverständigengutachten zur Feststellung des absoluten Mindestalters des BF, welches in der Schweiz durchgeführt wurde (AS 41ff). Daraus ergibt sich das spätmöglichste fiktive Geburtsdatum des BF am XXXX Der BF behauptet zwar im weiteren Verfahren, er sei 2008 geboren, kann dafür aber keine Identitätsnachweise im Original vorlegen, sodass mit dem medizinischen Sachverständigengutachten von einem spätmöglichsten fiktiven Geburtsdatum des BF am XXXX auszugehen ist.

Dass der genaue Ausreisezeitpunkt des BF aus Afghanistan nicht feststellbar ist ergibt sich aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben dazu. In seiner Erstbefragung am 25.09.2023 gab der BF an, ungefähr einen Monat zuvor den Entschluss zur Ausreise gefasst zu haben und zu Fuß aus seiner Heimat ausgereist zu sein (AS 6). Er sei durch den Iran und die Türkei durchgereist und habe sich anschließend für ungefähr drei Wochen in Bulgarien und ungefähr eine Woche in Serbien aufgehalten und sei anschließend durch Ungarn durchgereist und nach Österreich eingereist (AS 7). In seiner Einvernahme und der Beschwerdeverhandlung, gab der BF dann an, ungefähr zwei oder drei Monate vor der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 ausgereist zu sein (AS 100, VH S. 5). Er konnte jedoch über Nachfrage weder ein genaues Datum noch eine engere zeitliche Eingrenzung dazu angeben (VH S. 5). Selbst vor dem Hintergrund des niedrigen Bildungsstandes des BF ist nicht nachvollziehbar, dass er nicht angeben konnte in welchem Monat er ausgereist ist. In Zusammenschau mit den Angaben des BF in der Erstbefragung im September 2023 zu seiner Reiseroute, wonach er durch den Iran, die Türkei und durch Ungarn jeweils nur durchgereist sei und sich lediglich in zwei Ländern etwas länger aufgehalten habe (in Bulgarien ca. 3 Wochen und in Serbien ca. 1 Woche (AS 7)), ist das diesbezügliche Vorbringen des BF in der Einvernahme und der Beschwerdeverhandlung, wonach er bereits im Jahr 2021 aus Afghanistan ausgereist sei, nicht plausibel.

Hinsichtlich der Feststellungen zum Leben des BF im Herkunftsland und seinem Schulbesuch ist auf seine Angaben im Verfahren (AS 3ff, AS 101f) zu verweisen.

Der Familienstand des BF sowie der Aufenthalt seiner Familienangehörigen ergeben sich aus seinen Angaben im Verfahren sowie in der Beschwerdeverhandlung (AS 100, VH S. 4).

Dass die Eltern des BF und sein Halbbruder nicht von den Taliban ermordet wurden ergibt sich aus dem insgesamt gänzlich unglaubhaften Fluchtvorbringen des BF (dazu weiter unten).

Zum Gesundheitszustand des BF ist zunächst auf seine Angaben in der Einvernahme zu verweisen. Der BF gab darüber befragt an, dass es ihm gut gehe, er sich nicht in ärztlicher Behandlung oder einer Therapie befinde und keine Medikamente einnehme (AS 98). Im Rahmen seines Fluchtvorbringens gab der BF noch an, aufgrund der Verletzungen die ihm zugefügt worden wären, manchmal an Kopfschmerzen und Schwindel zu leiden (AS 103). In der mündlichen Beschwerdeverhandlung brachte der BF in diesem Zusammenhang vor, dass er Schmerzen im Oberarm habe, wenn es kalt sei und er zwei Mal pro Woche Nasenbluten habe (VH S. 6). Über Nachfrage, ob er deswegen in Österreich schon mal einen Arzt konsultiert habe, gab der BF an, dass „sie“ mit ihm nicht reden würden und ihm lediglich Tabletten geben und heimschicken würden (VH S. 6). Der BF wurde sodann im Rahmen der mündlichen Verhandlung aufgefordert eine Bestätigung vorzulegen darüber, dass er aufgrund dieser gesundheitlichen Probleme in Österreich bei einem Arzt war. Bis dato kam der BF dieser Aufforderung nicht nach. Wäre der BF wegen den vorgebrachten gesundheitlichen Problemen beim Arzt gewesen, so hätte er auch im Nachhinein problemlos eine Bestätigung darüber beibringen können. Der BF brachte hingegen am 28.04.2025 dazu eine Überweisung seines Hausarztes an einen HNO Arzt vom 22.04.2025 mit der Diagnose „Rez. Epistaxis“, also wiederkehrendes Nasenbluten, vor (Dokumentenvorlage in OZ 6). Diese Überweisung per se vermag die vorgebrachten gesundheitlichen Probleme des BF nicht zu untermauern, zumal er diese bereits im April 2025 bekommen haben soll und seither keinerlei weitere Unterlagen diesbezüglich an das Gericht übermittelt wurden. Aufgrund der widersprüchlichen Angaben des BF zu seinem Gesundheitszustand sowie der Nichtvorlage entsprechender ärztlicher Unterlagen und Bestätigungen konnten keine Feststellungen zu allfälligen (schwerwiegenden) Erkrankungen getroffen werden. Seine Arbeitsfähigkeit war auch deshalb festzustellen, weil er aktuell auch arbeitet (VH S. 5).

Die Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsicht in einen aktuellen Strafregisterauszug.

Hinsichtlich des in Österreich gestellten Asylantrages und des Verfahrensganges ist auf den Akteninhalt zu verweisen.

II.2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Im Hinblick auf das Alter des BF ist zunächst auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu verweisen, wonach es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf (vgl. VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0223 mwN).

Wie dargelegt, konnten aufgrund der widersprüchlichen Angaben dazu nicht festgestellt werden, wann der BF sein Heimatland verlassen hat. Seine Angaben in der EB vom 25.09.2023 legen eine Ausreise im Jahr 2023 nahe (konkret: Ausreise 1 Monat vor Antragstellung, Durchreise durch Iran, Türkei, Ungarn, Aufenthalt von lediglich 3 Wochen in Bulgarien und 1 Woche in Serbien), sohin bereits bei Volljährigkeit des BF, in seinen weiteren Aussagen behauptet er eine Ausreise im Jahr 2021, als er noch minderjährig gewesen sei. Jedenfalls wird das junge Alter des BF bei seiner Ausreise berücksichtigt.

Die Feststellung, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr in dem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte, ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

II.2.2.1. Im vorliegenden Fall brachte der BF als Fluchtgrund im Wesentlichen vor, dass die Taliban seine Eltern und seinen Halbbruder getötet hätten, weil sowohl sein Vater als auch sein Halbbruder Polizisten gewesen seien. Die Taliban würden glauben, dass er auch Polozist werde und Rache üben wolle und ihn deswegen töten. Der BF würde als Familienmitglied einer Familie von Polizisten und einer ihm damit einhergehenden politisch oppositionellen Haltung als Gegner der Taliban wahrgenommen werden.

Das vom BF dargestellte Vorbringen ist gegenständlich vor dem Hintergrund der unglaubwürdigen Angaben des BF auch unter Bedachtnahme auf das junge Alter des BF im Zeitpunkt der behaupteten Ereignisse als nicht wahrscheinlich zu erachten und ist es dem BF insgesamt nicht gelungen, ein asylrelevantes Fluchtvorbringen schlüssig und nachvollziehbar darzulegen.

Zunächst ist festzuhalten, dass der BF in der Erstbefragung zu seinem Fluchtgrund befragt ausführte, dass er arm gewesen sei, keine Familie gehabt habe und in Afghanistan keine Frau finden würde sowie, dass er in Europa eine Frau finden wolle. Befragt zu seinen Rückkehrbefürchtungen gab er an, dass er die Taliban fürchte. In seiner Einvernahme und der Beschwerdeverhandlung steigerte er sein Fluchtvorbringen unglaubhaft, indem er unter anderem vorbrachte, dass die Taliban seine Eltern und seinen Halbbruder umgebracht hätten, wobei sein Vater und sein Halbbruder Polizisten gewesen seien, sowie dass er von den Taliban geschlagen worden sei und sie einen wilden Hund auf ihn losgelassen hätten. Es jedoch ist nicht nachvollziehbar, dass der BF die Ermordung seiner Eltern durch die Taliban und die Zugehörigeneigenschaft seines Vaters und seines Halbbruders zu afghanischen Polizisten – sohin ganz zentrale Elemente seines Fluchtvorbringens – in seiner Erstbefragung nicht ansatzweise erwähnen würde, hätte sich dies tatsächlich so zugetragen, zumal der BF bei der Tat anwesend gewesen sein will (AS 103, VH S. 7). Dabei wird angemerkt, dass der BF zwar angegeben hat, seine Eltern seien verstorben (AS 5), allerdings offenkundig von sich aus keine weiteren Ausführungen dazu getätigt hat, insbesondere nicht, dass die Taliban für den Tod der Eltern verantwortlich sein sollen.

Hierbei wird nicht verkannt, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung geäußert hat, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Jedoch hat der Verwaltungsgerichtshof gleichwohl betont, dass es nicht generell unzulässig ist, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. etwa VwGH 21.11.2019, Ra 2019/14/0429). Die Tatsache, dass der BF wesentliche Elemente seines Fluchtvorbringens im späteren Verfahrensverlauf erstmals ins Treffen führte, indiziert, dass dieses Vorbringen nicht auf wahren Tatsachen beruht, sondern der BF in missbräuchlicher Absicht seine Chancen auf Asylgewährung zu steigern versuchte.

Auch auf entsprechende Nachfrage der erkennenden Richterin in der mündlichen Verhandlung, konnte der BF nicht nachvollziehbar darlegen, weshalb er dieses Vorbringen nicht bereits im Zuge der Erstbefragung erstattet hat und behauptete lediglich, dass in der Erstbefragung alles falsch protokolliert worden sei (VH S. 11). In der Einvernahme gab er diesbezüglich zunächst an, dass er in der Erstbefragung nur nach seinem Namen gefragt worden sei, „und sonst nichts“ (AS 104). Im weiteren Verlauf der Befragung äußerte sich der BF dazu wie folgt (AS 104): „Ich habe gesagt, dass ich arm bin, weil meine Familie von den Taliban getötet worden ist. Ich habe nicht gesagt, dass ich eine Frau suche. Nachgefragt: Sie haben mich bei der Erstbefragung nicht nach dem Grund gefragt, weshalb ich keine Familie habe“. Die diesbezügliche Verantwortung des BF vermag nicht zu überzeugen und ist als reine Schutzbehauptungen zu werten. Für das erkennende Gericht sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass es im Zuge der Erstbefragung zu Missverständnissen, fehlerhaften Übersetzungen oder Protokollierungsfehlern gekommen sein soll, zumal der BF die Richtigkeit und Vollständigkeit der Rückübersetzung und die dabei bestehende Möglichkeit, Berichtigungen oder Ergänzungen vorzunehmen, mit seiner Unterschrift auf jeder Seite der Niederschrift bestätigt hat.

Ferner kam es im Laufe des Verfahrens zu weiteren zahlreichen Unstimmigkeiten und Widersprüchen, sodass insgesamt auch vor diesem Hintergrund die Glaubwürdigkeit des BF in Zweifel gezogen wird. So gab der BF in seiner Einvernahme an, dass die Taliban „vor ca. drei oder vier Jahren, nach dem Tod“ seines Vaters, einen wilden Hund auf den BF losgelassen hätten (AS 103). Auf entsprechende Nachfrage, gab der BF an, dass die Taliban ihn eine Woche nach dem Tod seines Vaters geschlagen hätten und der Vorfall mit dem Hund am gleichen Tag passiert sei (AS 103). Ferner brachte der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor, dass sein – seinen Angaben zufolge – damals zweijähriger leiblicher Bruder bei dem Mord an seinen Eltern ebenfalls im Haus anwesend gewesen sei (VH S. 7), während er dies in seiner Einvernahme mit keinem Wort erwähnte. Nicht nachvollziehbar ist, dass der Onkel des BF, ihn und seinen leiblichen Bruder bei sich aufnehmen habe wollen, der BF jedoch darauf bestanden haben soll, nach der Ermordung seiner Eltern weiter alleine im Elternhaus zu leben (VH S. 7f). Vor dem Hintergrund eines solchen Ereignisses erscheint die Entscheidung des BF nicht lebensnahe. Auf diesbezüglichen Vorhalt der Richterin in der mündlichen Verhandlung, antwortete der BF, dass er nicht damit gerechnet hätte, dass die Taliban wiederkommen und ihn schlagen würden. Auch diese Erklärung lässt weitere Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Angaben des BF aufkommen, zumal es nicht plausibel ist, dass sich der BF dabei über eine mögliche Rückkehr der Täter Gedanken machen würde und dies als Begründung für den Verbleib im Haus angibt. Vielmehr stünde die emotionale Belastung und die Verbindung des Ortes zum Mordgeschehen im Vordergrund.

Widersprüchliche Angaben machte der BF auch zur Frage, ob der Übergriff auf seine Eltern der Polizei gemeldet worden sei. In seiner Einvernahme gab der BF dazu befragt an, dass sein Distrikt zu dieser Zeit bereits unter Kontrolle der Taliban gestanden sei und er auch nicht wisse, ob sein Onkel den Vorfall gemeldet habe (AS 104). Über Nachfrage in der mündlichen Verhandlung, ob der Überfall von den afghanischen Behörden/ der Polizei untersucht worden sei, gab der BF wiederum an, dass Polizisten gekommen wären aber ca. drei Tage danach der Bezirk von den Taliban erobert worden sei (VH S. 9).

Ferner konnte der BF nicht schlüssig erklären, weshalb die Taliban ihn damals geschlagen haben sollen und was sie damit bezwecken hätten wollen. Über entsprechende Nachfrage in der mündlichen Verhandlung, gab der BF wie folgt an (VH S. 9): „Ich bin selber überrascht. Sie sagten nur, wenn ich groß werde, ich werde mich rächen.“ Zudem konnte der BF nicht schlüssig erklären, weshalb die Taliban nach wie vor ein Interesse an ihm haben sollten. Über Nachfrage, was passieren würde, wenn er zurückkehre, gab er an, dass die Taliban seine Eltern getötet hätten und sie der Meinung wären, dass er Dorfpolizist werden könnte (VH S. 11). Vor diesem Hintergrund ist jedoch nicht nachvollziehbar, dass die Taliban den BF nicht bereits damals getötet haben und weshalb sie weiterhin ein anhaltendes Interesse an dem BF haben sollten.

Auffällig ist ferner, dass das Fluchtvorbringen des BF – auch nach konkreter Befragung durch die Richterin – insgesamt oberflächlich und detailarm blieb. Sowohl in der Einvernahme als auch in der Beschwerdeverhandlung verharrte der BF in einer wortkargen Darstellung einiger weniger Eckpunkte der vorgebrachten Ereignisse. Auch die Antworten auf die gestellten Fragen waren grundsätzlich kurz und äußerst vage, eine detaillierte und umfassende Schilderung war ihm weder im Rahmen der Einvernahme noch in der Beschwerdeverhandlung möglich, sodass auch aufgrund dieses Umstandes der Eindruck entsteht, dass der BF das geschilderte Geschehen nicht erlebt hat. Auch die Angaben des BF zur Polizeitätigkeit und zur Polizeiuniform seines Vaters und des Halbbruders erschöpften sich in oberflächlichen, ausweichenden Ausführungen. Das diesbezügliche Vorbringen des BF gestaltete sich auszugsweise wie folgt (VH S. 8f):

„R: Was können Sie mir über Ausbildung und Tätigkeit Ihres Vaters sagen? BF: Das weiß ich nicht. R: Wo war Ihr Vater stationiert? BF: Das weiß ich nicht. Ich war zu diesem Zeitpunkt sehr jung. Ich kenne mich auch mit solchen Sachen nicht aus. R: Kennen Sie den Namen von Vorgesetzten oder Kollegen? BF: Nein. Ich kenne nur eine Freund von ihm, er befindet sich in den USA. […]R: Trug Ihr Vater Uniform? Waffe? Können Sie Uniform und Waffe beschreiben? BF: Er trug eine Polizistenuniform. R: Können Sie mir diese beschreiben? BF: Es ist schon sehr lange her, 2021 habe ich das Land verlassen.“

Der BF war zudem nicht in der Lage zumindest ungefähr anzugeben wie lange sein Halbbruder bei der Polizei gearbeitet habe. Über Nachfrage ob es zwei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre oder länger gewesen sei, antwortete der BF, dass er es nicht wisse und konnte auch keinerlei Angaben zum Aussehen einer Afghanischen Polizeiuniform machen (VHS 11). Es wäre jedoch anzunehmen, dass der BF, wenn sein Vater und sein Halbbruder tatsächlich Polizisten gewesen wären, eine ungefähre Beschreibung der Uniform eines afghanischen Polizisten abgeben könnte.

Zu den vom BF im Verfahren vorgelegten Dokumenten, welche die Polizeitätigkeit seines Vaters und seines Halbbruders beweisen sollen, ist auszuführen, dass diese nicht dazu beitragen können, das Fluchtvorbringen glaubhaft zu untermauern. In Afghanistan können Schriftstücke mit beliebigem Inhalt problemlos beschafft werden, weshalb der Beweiswert und die Aussagekraft solcherart vorgelegter Schriftstücke als äußerst gering einzustufen sind. Dazu ist auch auf die Länderberichte, Kapitel Dokumente, zu verweisen, wonach sogar im Falle von Personenstandsdokumenten nicht jedenfalls von der inhaltlichen Richtigkeit ausgegangen werden kann und auch Gefälligkeitsbescheinigungen sowie Gefälligkeitsaussagen sehr häufig vorkommen würden. Somit können die vom BF vorgelegten Dokumente nur im Kontext und in Zusammenschau der Glaubwürdigkeit des Gesamtvorbringens berücksichtigt werden.

Zusammenfassend ist das Fluchtvorbringen des BF – Verfolgung durch die Taliban – aufgrund der zahlreichen Widersprüche, der aufgezeigten Steigerung des Vorbringens und der vagen und oberflächlichen Angaben, als nicht glaubhaft zu werten.

II.2.2.2. Eine (Gruppen)Verfolgung von Rückkehrern (ohne Hinzutreten weiterer Umstände) lässt sich aus den aktuellen Länderberichten schließlich nicht ableiten und haben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die sich in Europa aufgehalten haben, für gegeben zu erachten.

Der BF brachte zu keinem Zeitpunkt vor, in seinem Herkunftsstaat inhaftiert worden zu sein oder mit den Behörden seines Herkunftsstaates aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit sonstige Probleme gehabt zu haben.

Der BF bekennt sich zum sunnitischen Islam, welchen laut Länderberichten auch 80% bis 89,7% der afghanischen Bevölkerung angehören. Ferner gehört der BF zur Volksgruppe der Tadschiken, der zweitgrößten Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus, üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite. Aus den Länderberichten ergibt sich sohin keine Verfolgung dieser Personengruppen, weshalb jedenfalls keine Gefährdung aufgrund der Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit feststellbar ist.

Mangels einer konkreten und individuellen Bedrohung sind daher keine konkreten Hinweise auf eine asylrelevante Bedrohung des BF hervorgekommen.

II.2.3. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsland:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat des BF stützen sich auf die zitierten Quellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Afghanistan. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben. Diesen Berichten ist der BF nicht substantiiert entgegengetreten.

II.3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

II.3.1. Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen keine gegenteiligen Bestimmungen enthalten sind, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

II.3.2. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0233, mwN).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036). Eine inländische Fluchtalternative ist nur dann gegeben, wenn sie vom Asylwerber in zumutbarer Weise in Anspruch genommen werden kann. Herrschen am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative - nicht notwendigerweise auf Konventionsgründen beruhende – Bedingungen, die eine Verbringung des Betroffenen dorthin als Verstoß gegen Art. 3 EMRK erscheinen lassen würden, so ist die Zumutbarkeit jedenfalls zu verneinen (vgl. VwGH 16.12.2010, 2007/20/0913). Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).

Um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erreichen, müssen konkrete, gegen den Asylwerber selbst gerichtete Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht werden (VwGH 10.03.1994, 94/19/0056). In diesem Zusammenhang hat der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darzustellen (EGMR 07.07.1987, Nr. 12877/87, Kalema/Frankreich).

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, wie in der Beweiswürdigung dargelegt, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, aktuell nicht begründet ist. Das Fluchtvorbringen des BF wird als nicht glaubhaft bzw. nicht asylrelevant erachtet und sind auch sonst keine Gründe hervorgekommen, die für eine asylrelevante Gefährdung des BF im Herkunftsland sprechen würden.

In Bezug auf die schlechte Wirtschafts- und Sicherheitslage im Herkunftsland ist auszuführen, dass sich auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan konkret für den BF kein Status eines Asylberechtigten ableiten lässt. Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden (vgl. etwa VwGH vom 14.03.1995, 94/20/0798, sowie VwGH vom 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; 30.04.1997, 95/01/0529, 08.09.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre.

Im Ergebnis konnte der BF eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, nicht glaubhaft machen.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die gegenständliche Entscheidung weicht nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; zudem fehlt es auch nicht an einer Rechtsprechung und die zu lösende Rechtsfrage wird in dieser auch nicht uneinheitlich beantwortet. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde im Rahmen der Erwägungen wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.