Spruch
W155 2271591-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin (in Folge: Bf) stellte am 04.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Bei der Erstbefragung (in Folge: EB) durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 05.04.2022 gab sie an, dass sie am XXXX in XXXX , Syrien geboren worden sei. Sie sei Moslem und gehöre der Volksgruppe der Kurden an. Sie sei geschieden und habe einen Sohn und zwei Töchter. Sie habe acht Jahre die Grundschule besucht und verfüge weder über eine Berufsausbildung noch über eine Berufserfahrung.
Auf die Frage, warum sie ihr Land verlassen habe, führte die Bf an, dass sie von der FSA mehrere Male angehalten und geschlagen worden sei, da sie kein Kopftuch getragen habe. Ferner sei sie Ende 2019 von derselben Gruppierung aus demselben Grund festgenommen und in der Haft geschlagen worden. Als Kurdin weigere sie sich, ein Kopftuch zu tragen. 2013 habe ihr Mann die gemeinsamen Kinder weggenommen und sei mit diesen verschwunden. Seit diesem Zeitpunkt habe sie gewusst, dass sie Syrien verlassen müsse.
Am 13.07.2022 wurde die Bf von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren: BFA) und in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch Kurmanji niederschriftlich einvernommen.
Zu ihren Fluchtgründen befragt gab sie zusammengefasst an, dass sie Ende 2019 im Zuge der Eroberung XXXX verhaftet worden sei, da im Rahmen einer Hausdurchsuchung ein Foto von ihr mit einer kurdischen Flagge entdeckt worden sei. Sie und ihr Bruder XXXX , welcher als Soldat für die Kurden gekämpft habe, seien für einen Monat gefangen genommen worden. Sie sei geschlagen, gefoltert und gedemütigt worden. Weiters sei ihr unterstellt worden, dass sie der PKK angehöre. Nach einem Monat sei sie freigelassen und zu ihren Eltern zurückgebracht worden. Nach ihrer Rückkehr habe sie feststellen müssen, dass ihr Mann sie verlassen und die gemeinsamen Kindern mitgenommen habe.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag der Bf auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) ab, kannte ihr den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass nicht habe festgestellt werden können, dass der Bf in Syrien seitens der FSA eine persönliche Verfolgung drohe. Es erweise sich die Lage für Angehörige der kurdischen Volksgruppe in Syrien zwar schwierig, Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichten jedoch nicht jenes Maß, welches erforderlich sei, um von einer spezifischen und systematischen Verfolgung aller Angehörigen der kurdischen Volksgruppe ausgehen zu können. Auch reiche ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen nicht aus, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen.
Die Bf erhob gegen Spruchpunkt I. des Bescheides fristgerecht Beschwerde.
Mit Schreiben vom 21.12.2023 legte der Migrantinnenverein St. Marx eine Vertretungsvollmacht der Bf vor.
Mit Stellungnahme vom 24.01.2024 bat die Bf das Bundesverwaltungsgericht, eine positive Entscheidung in ihrem Verfahren zu treffen, da sie die Ungewissheit ihrer Situation belasten würde.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 19.07.2024 eine mündliche Verhandlung durch.
Mit Schreiben vom 07.05.2025 legte die BBUG GmbH die von der Bf erteilte Vollmacht zurück.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Bf steht fest. Sie ist syrische Staatsbürgerin und führt die im Spruch genannten Personalien. Die Bf wurde in XXXX geboren, gehört der Volksgruppe der Kurden an, spricht sowohl kurdisch als auch arabisch und ist ohne Bekenntnis. Die Bf wuchs in XXXX auf und besuchte dort die Schule bis zur neunten Schulstufe. Anschließend heiratete sie im Alter von 16 Jahren und wohnte sowohl in XXXX als auch in XXXX (an den Wochenenden). Nach ihrer Scheidung im Jahre 2013 lebte sie dauerhaft bis zu ihrer Ausreise 2020 in XXXX . Die Bf hat keine berufliche Ausbildung und übte keinen Beruf aus.
Die Bf hat nach ihren Angaben einen Sohn und zwei Töchter. Die Kinder sind unbekannten Aufenthaltes.
Die Mutter der Bf sowie ihre Schwester XXXX leben in XXXX . Ihr Bruder XXXX lebt in der Türkei. Ihr Bruder XXXX befindet sich auf der Flucht. Ihr jüngster Bruder XXXX lebt in Österreich. Ihr Vater ist im Jahr 2015 verstorben.
Die Bf steht im Kontakt mit ihrer Familie und ihren Verwandten in Europa. Die Bf hat keinen Kontakt zu ihrem Ex-Mann sowie zu ihren Kindern.
Die Bf ist in Österreich subsidiär schutzberechtigt.
Die Bf ist gesund.
Die Bf ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Die Herkunftsregion der Bf - XXXX und Umgebung - befand sich von Juni 2014 bis zum März 2018 unter Kontrolle der SDF und befindet sich seither unter Kontrolle der SNA.
Die Lage in den von der Türkei und Türkei-nahen Milizen, darunter der SNA bzw. FSA, kontrollierten Gebieten im Norden um die Städte XXXX und XXXX im Norden des Gouvernements XXXX ist instabil. Dort kommt es immer wieder zu umfangreichen Kampfhandlungen, insbesondere zwischen Türkei-nahen Milizen und der kurdischen YPG.
Im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA/FSA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen. Seit den türkischen Offensiven im Nordosten Syriens ab 2018 werden Menschenrechtsverletzungen z.B. Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen und Enteignungen durch mit der Türkei verbündeten Gruppen vor allem gegen Kurden begangen.
Die Bf wurde nicht von der FSA/SNA inhaftiert.
Der Bf droht in ihrer Heimatregion eine Verfolgung aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Syrien basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 27.03.2024
- EUAA, Country Focus Syria vom März 2025.
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Syrien vom 27.03.2024:
Türkische Militäroperationen in Nordsyrien
"Operation Schutzschild Euphrat" (türk. "Fırat Kalkanı Harekâtı")
Am 24.8.2016 hat die Türkei die "Operation Euphrates Shield" (OES) in Syrien gestartet (MFATR o.D.; vgl. CE 19.1.2017). Die OES war die erste große Militäroperation der Türkei in Syrien (OR o.D.). In einer Pressemitteilung des Nationalen Sicherheitsrats (vom 30.11.2016) hieß es, die Ziele der Operation seien die Aufrechterhaltung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) im Rahmen der UN-Charta. Außerdem wurde betont, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) sowie die mit ihr verbundene PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat) und YPG (Yekîneyên Parastina Gel) keinen "Korridor des Terrors" vor den Toren der Türkei errichten dürfen (CE 19.1.2017). Obwohl die türkischen Behörden offiziell erklärten, dass die oberste Priorität der Kampf gegen den IS sei, betonen viele Kommentatoren und Analysten, dass das Ziel darin bestand, die Schaffung eines einzigen von den Kurden kontrollierten Gebiets in Nordsyrien zu verhindern (OR o.D.; vgl. TWI 26.3.2019, SWP 30.5.2022). Die Türkei betrachtet die kurdische Volksverteidigungseinheit (YPG) und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (PYD), als den syrischen Zweig der PKK und damit als direkte Bedrohung für die Sicherheit der Türkei (SWP 30.5.2022).
"Operation Olivenzweig" (türk. "Zeytin Dalı Harekâtı")
Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der "Operation Olive Branch" (OOB) den zuvor von der YPG kontrollierten Distrikt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Laut türkischem Außenministerium waren die Ziele der OOB die Gewährleistung der türkischen Grenzsicherheit, die Entmachtung der "Terroristen" in Afrin und die Befreiung der lokalen Bevölkerung von der Unterdrückung der "Terroristen". Das türkische Außenministerium berichtete weiter, dass das Gebiet in weniger als zwei Monaten von PKK/YPG- und IS-Einheiten befreit wurde (MFATR o.D.). Diese Aussage impliziert, dass Ankara bei der Verfolgung der Grenzsicherheit und der regionalen Stabilität keinen Unterschied zwischen IS und YPG macht (TWI 26.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019).
"Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive, einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 10.10.2019). Der UN zufolge wurden innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Im Hinterland begannen IS-Zellen, Anschläge zu organisieren (GEG 3.4.2023). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (Standard 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (Zeit 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (Standard 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernahmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (WP 14.10.2019). Seitdem verblieben die Machtverhältnisse [mit Stand April 2023] weitgehend unverändert (GEG 3.4.2023). Die syrischen Regierungstruppen üben im Gebiet punktuell Macht aus, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln (z. B. Stadt Qamischli im Gouvernement Al-Hassakah) (AA 29.3.2023). Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 1.1.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).
Siehe dazu auch die Unterkapitel "Nordost-Syrien" und "Nordwest-Syrien" im Kapitel "Sicherheitslage".
"Operation Frühlingsschild" (türk. "Bahar Kalkanı Harekâtı")
Nachdem die syrische Regierung im Dezember 2019 eine bewaffnete Offensive gestartet hatte, gerieten ihre Streitkräfte im Februar 2020 mit den türkischen Streitkräften in einen direkten Konflikt (CC 17.2.2021). Während des gesamten Februars führten die syrische Regierung und regierungsnahe Kräfte im Nordwesten Syriens Luftangriffe durch, und zwar in einem Ausmaß, das laut den Vereinten Nationen zu den höchsten seit Beginn des Konflikts gehörte. Auch führten die syrischen Regierungskräfte Vorstöße am Boden durch. Zu den täglichen Zusammenstößen mit nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und Bodenkämpfe mit einer hohen Zahl von Opfern (UNSC 23.4.2020). Nach Angriffen syrischer Streitkräfte auf Stellungen der türkischen Armee, bei denen 34 türkische Soldaten getötet wurden, leitete Ankara die Operation "Frühlingsschild" in der Enklave Idlib (INSS 4.9.2022) am 27.2.2020 ein (UNSC 23.4.2020). Die Türkei versuchte damit ein Übergreifen des syrischen Konflikts auf die Türkei als Folge der neuen Regimeoffensive - insbesondere in Form eines Zustroms von Extremisten und Flüchtlingen in die Türkei - zu verhindern. Ein tieferer Beweggrund für die Operation war der Wunsch Ankaras, eine Grenze gegen weitere Vorstöße des Regimes zu ziehen, welche die türkischen Gebietsgewinne in Nordsyrien gefährden könnten. Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) war ein - wenn auch unintendierter - wichtiger Profiteur der Operation (Clingendael 9.2021). Im März 2020 wurde ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Türkei und Russland in Idlib unterzeichnet, das die Schaffung eines sicheren Korridors um die Autobahn M4 und gemeinsame Patrouillen der russischen und türkischen Streitkräfte vorsah (INSS 4.9.2022). Der zwischen den Präsidenten Erdoğan und Putin vereinbarte Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation. Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den erwähnten Konfliktparteien (ÖB Damaskus 12.2022). Rund 8.000 Soldaten des türkischen Militärs verbleiben in der Region und unterstützen militärisch und logistisch die dort operierenden Organisationen, vor allem die Syrian National Army (SNA, ehemals Free Syrian Army, FSA) und die HTS (INSS 4.9.2022).
"Operation Klauenschwert" (türk. "Pençe Kılıç Hava Harekâtı") und von Präsident Erdoğan ankündigte Bodenoffensiven der Türkei
Ein Hauptziel der Türkei besteht darin, eine Pufferzone zu den Kräften des syrischen Regimes aufrechtzuerhalten, deren Vorrücken - ohne vorherige Absprache oder Vereinbarung - die Sicherheit der türkischen Grenze gefährden würde. Das vorrangige Ziel Russlands und des syrischen Regimes ist es, den Druck auf HTS aufrechtzuerhalten (EPC 17.2.2022). Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen (AC 1.12.2022; vgl. SO 26.5.2022) und vor allem im nördlichen Teil der Provinz Aleppo, auch vermehrt zu Anschlägen seitens der kurdischen YPG. Die sehr komplexe Gemengelage an (bewaffneten) Akteuren, u. a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Erdoğan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vgl. IT 30.5.2023), unter anderem, um dort syrische Flüchtlinge und Vertriebene, sowohl sunnitische Araber als auch Turkmenen, anzusiedeln. Dieser Prozess ist in Afrîn, al-Bab und Ra's al-'Ayn bereits im Gange (GEG 3.4.2023; vgl. NPA 5.6.2023, VOA 12.1.2023). Zuletzt konzentrierte die türkische Regierung ihre Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Damit kann eine Verbindung zwischen dem Gebiet al-Bab-Jarablus und dem Gebiet Tel Abyad-Ra's al-'Ayn hergestellt werden (GEG 3.4.2023), außerdem ist Kobanê ein Symbol des kurdischen Widerstands gegen den IS (GEG 3.4.2023; vgl. ANF 29.11.2022).
Am 13.11.2022 wurde in Istanbul ein Bombenanschlag verübt, bei dem sechs Menschen starben und rund 80 verletzt wurden (AJ 22.11.2022). Die Türkei machte die YPG und PKK für den Anschlag verantwortlich, was beide Gruppierungen bestritten (AJ 24.11.2022; vgl. REU 14.11.2022). Die Türkei hat ihre militärischen Aktivitäten im Norden und Nordosten als Antwort auf den Vorfall verstärkt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. AJ 24.11.2022). Eine Woche nach dem Anschlag startete das türkische Militär die Operation "Klauenschwert" (AJ 22.11.2022) und führte als Vergeltungsmaßnahme eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak durch (BBC 20.11.2022). Nach Angaben der SDF wurden bei den Luftschlägen auch zivile Ziele getroffen, während es sich bei den zerstörten Zielen laut türkischen Angaben um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots handelte (Zeit 20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53.000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 7.12.2022).
Türkische Regierungsvertreter signalisierten wiederholt, dass eine Bodenoffensive folgen könnte (AJ 22.11.2022, FR24 14.1.2023), wovor Russland, der Iran (AJ 22.11.2022) und die USA warnten (NPA 18.1.2023). Die USA haben zur "sofortigen Deeskalation" aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vgl. USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdoğan zumindest die Duldung Moskaus (RND 27.11.2022). Auch auf Bestreben Moskaus (FR24 14.1.2023) gibt es Normalisierungsbemühungen zwischen Ankara und Damaskus (Alaraby 25.1.2023; vgl. FR24 14.1.2023). Syriens Außenminister betonte im Mai 2023 allerdings, dass es zu keiner Normalisierung der beiden Länder kommen werde, solange die Türkei syrisches Staatsgebiet besetzt hält (Tasnim 22.5.2023). Die syrischen Kurden befürchten, dass Präsident Assad im Gegenzug für einen vollständigen Rückzug der Türkei aus Syrien einem härteren Vorgehen gegen die YPG zustimmen könnte (IT 30.5.2023). Analysten gingen Anfang 2023 allerdings davon aus, dass ein vollständiger Rückzug der Türkei in naher Zukunft aus einer Reihe von Gründen unwahrscheinlich sei und sich wahrscheinlich als äußerst kompliziert erweisen werde (Alaraby 25.1.2023).
Allgemeine Menschenrechtslage
Neben der Gefährdung durch militärische Entwicklungen, Landminen und explosive Munitionsreste, welche immer wieder zivile Opfer fordern, bleibt auch die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien äußerst besorgniserregend (AA 2.2.2024).Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2022). Die im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (Commission of Inquiry, CoI) benennt in ihrem am 13.9.2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum Januar bis Juni 2023) zum wiederholten Male teils schwerste Menschenrechtsverletzungen, identifiziert Trends und belegt diese durch die Dokumentation von Einzelfällen. Nach Einschätzung der CoI dürfte es im Berichtszeitraum in Syrien weiterhin zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sein. Dazu gehörten u. a. gezielte und wahllose Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele (z. B. durch Artilleriebeschuss und Luftschläge) sowie Folter. Darüber hinaus seien willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen, „Verschwindenlassen“, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten, dokumentiert. Obwohl die UN-Kommission die Verantwortung in absoluten Zahlen betrachtet für die große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten sieht, wurden erneut für alle Konfliktparteien und alle Regionen des Landes Menschenrechtsverstöße dokumentiert (AA 2.2.2024).
[...]
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 2.2.2024). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021)
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).
HTS ging teils brutal gegen politische Gegner vor, denen z. B. Verbindungen zum Regime, Terrorismus oder die „Gefährdung der syrischen Revolution“ vorgeworfen würden. Weiterhin legen die Berichte nahe, dass Inhaftierten Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen vorenthalten werden. Auch sei HTS, laut Berichten des SNHR, für weitere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, vor allem in den Gefängnissen unter seiner Kontrolle (AA 2.2.2024).
In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der CoI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder (AA 29.11.2021), auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021; vgl. AA 2.2.2024). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch BürgerInnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).
Auch in den von der Türkei bzw. von Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es laut CoI vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen sowie Folter, die insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung beträfen. Auch sei es zu sexuellen Übergriffen durch Angehörige der SNA gekommen (AA 2.2.2024). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut CoI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2023 willkürliche Verhaftungen von Zivilisten, darunter Journalisten durch (HRW 11.1.2024). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Im Nordosten Syriens dokumentierte die CoI im Berichtszeitraum mehrere Todesfälle in den Zentralgefängnissen von Hasakeh und Raqqa und stellt fest, dass diese möglicherweise auf schlechte Behandlung oder Folter zurückzuführen sein könnten. Laut SNHR seien im Gewahrsam der SDF / Partei der Demokratischen Union (PYD) seit März 2011 insgesamt 96 Menschen durch Folter zu Tode gekommen. Kontakte der Botschaft berichteten zudem von Repressionen durch die kurdische sogenannte „Selbstverwaltung“ (AANES) gegen politische Gegner, wie z.B. Angehörige von Oppositionsparteien. Daneben kritisiert die CoI in ihrem jüngsten Bericht auch die, ihrer Einschätzung nach, menschenrechtswidrige Inhaftierung und Behandlung zehntausender IS-Affiliierter in nordostsyrischen Haftanstalten und lagerähnlichen Camps (AA 2.2.2024). Obwohl der Spielraum der Redefreiheit etwas größer ist, als in Gebieten unter Kontrolle der Regierung oder extremistischer Gruppierungen, schränkt die PYD und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit ein. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März 2022 verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet (FH 9.3.2023).
[...]
Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen
Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021). Keine der Konfliktparteien in Syrien veröffentlicht Informationen über den Verbleib von Gefangenen und die Gründe für ihre Verhaftung, noch stellen sie Dokumentationen zu den Urteilen zur Verfügung - auch nicht bei Verhängung der Todesstrafe. Daher ist der Großteil der Familien nicht über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert, zumal die große Mehrheit der Gefangenen "verschwunden" wird (SNHR 2.2.2023).
[...]
Landesteile außerhalb der Regierungskontrolle
In den oppositionellen Gebieten variieren gesetzliche und gerichtliche Abläufe je nach Ort und dominierender bewaffneter Gruppe. Lokalverwaltungen übernehmen diese Zuständigkeiten teils unter Anwendung von Gewohnheitsrecht, aus der Scharia abgeleitet, teils unter Heranziehung nationaler Gesetze. Urteile in Scharia-Räten führen manchmal zu Hinrichtungen ohne Berufungsprozess oder Besuch von Familienmitgliedern (USDOS 29.3.2023). Im Laufe des bewaffneten Konflikts wurden wiederholt auch Hinrichtungen von gefangenen Angehörigen der syrischen Sicherheitskräfte durch bewaffnete, zumeist radikalislamische Oppositionsgruppen und terroristische Gruppierungen von der UNO dokumentiert (AA 2.2.2024).
Der sogenannte Islamische Staat (IS) führte Hinrichtungen in der Öffentlichkeit durch und zwang die Bewohner - auch Kinder - zuzusehen (UNHRC 17.11.2021). Bis zu seiner territorialen Niederlage im April 2019 tötete der IS Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder durch öffentliche Hinrichtungen, wie Kreuzigungen und Enthauptungen unter dem Vorwurf des Glaubensabfalls, der Blasphemie und der Homosexualität (USDOS 10.6.2020). Im Lager al-Hol wurden von Jänner bis November 2022 mindestens 42 Personen ermordet, darunter vier Kinder (USDOS 20.3.2023; Anm.: zum al-Hol Lager siehe auch Unterkapitel über Sicherheitslage in Nordostsyrien sowie zum Rechtsschutz in Nordost-Syrien).
Im Jahre 2020 führten türkische Truppen und die Syrian National Army (SNA) mindestens sieben standrechtliche Hinrichtungen in den von ihnen besetzten Gebieten im Nordosten Syriens durch (HRW 13.1.2021). Im Jahr 2022 führten von der Türkei unterstützte syrische Oppositionsgruppen Berichten zufolge ebenfalls außergerichtliche Hinrichtungen durch. Laut SNHR tötete die SNA 24 Zivilisen, darunter sechs Frauen und sieben Kinder. Laut der "Syrischen Interimsregierung" untersuchten Militärgerichte im Jahr 2021 mindestens 169 Fälle von Verbrechen von Kleindiebstahl bis hin zu Mord, aber für 2022 legte sie keine Zahlen vor. Die Angeklagten gehörten zu verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen, und ihre Prozesse fanden in vielen Fällen in absentia statt. Menschenrechtsaktivisten kritisierten die Reformen als nicht glaubwürdig, und dass keine Täter zur Verantwortung gezogen würden (USDOS 20.3.2023).
Auch Hay'at Tahrir ash-Sham, die überwiegend mehrere Regionen in Idlib kontrolliert, hat Berichten zufolge standrechtliche Hinrichtungen durchgeführt (HRW 13.1.2021) - so auch der CoI zufolge. Den Hingerichteten - darunter auch Frauen - wurden Verbrechen von Mord über Ehebruch bis zu Vergewaltigung vorgeworfen. Mindestens zwei Kinder wurden Berichten zufolge zum Tod verurteilt (UNCOI 13.3.2023).
Das selbst ernannte Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) hat die Todesstrafe im Jahr 2016 abgeschafft (NMFA 5.2022).
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Ethnische und religiöse Minderheiten
Anm.: Einige der angeführten Minderheiten sind ethno-religiöse Minderheiten (z. B. armenische Christen, kurdische Jesiden) oder sie verfügen über kulturell bedingte eigene Interpretationen des Islams im Alltag (z. B. viele sunnitische Kurden). Dazu kommen winzige weitere Minderheiten, welche in den üblichen Überblickaufzählungen gar keine Erwähnung finden. Nähere Informationen zu einzelnen Minderheiten können nach Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen geboten werden.
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich AlawitInnen, IsmailitInnen und (Zwölfer) SchiitInnen machen zusammen 13 % aus, die DrusInnen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 JesidInnen (USDOS 2.6.2022).
Die alawitische Gemeinschaft [Anm.: zu der Bashar al-Assad gehört] genießt in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin einen privilegierten politischen Status, auch durch die Dominanz in den Führungspositionen im Militär sowie den Sicherheits- und Geheimdiensten, wobei auch bei Alawiten gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite (USDOS 2.6.2022). Familien und Netzwerke mit Verbindungen zur herrschenden Elite werden in Rechtsangelegenheiten bevorzugt behandelt und sind disproportional oft AlawitInnen, während AlawitInnen ohne solche Verbindungen weniger wahrscheinlich von solchen Vorteilen profitieren. Die bewaffnete Opposition ist hingegen in der überwältigenden Mehrheit arabisch-sunnitisch, und Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe sind wahrscheinlich Diskriminierung durch den Staat ausgesetzt, wenn sie nicht enge Verbindungen zum Regime genießen (FH 9.3.2023).
Daher lässt sich die konfessionalistische Dimension des Regimes besser als ein alawitisch-dominiertes säkulares Regime beschreiben, das auf Loyalitäten basierend auf regionale, tribale und familiäre Verbindungen sowie auf gesellschaftliche Kohäsion ('asabiya) aufbaut. Diese Kohäsion bezieht sich auf ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit einer beschränkten Zahl an AlawitInnen aus der alawitischen Gemeinschaft, aber nicht auf die Religionsgemeinschaft als Ganzes. Als Folge der konfessionellen Polarisierung, die durch das Regime selbst gefördert wurde, wie auch durch seine islamistischen und jihadistischen Feinde, waren viele AlawitInnen gezwungen, sich aus Angst vor sunnitisch-arabischen Vergeltungsschlägen auf die Seite des Regimes zu stellen (Al-Majalla 15.3.2023).
In einer Diktatur wie in Syrien kommt die Repression überall in den Gebieten unter der Kontrolle des Regimes zur Anwendung - auch in den ländlichen Gebieten mit alawitischer Bevölkerungsmehrheit. AlawitInnen unter Oppositionsverdacht werden im Allgemeinen inhaftiert, schwer unter Druck gesetzt oder getötet. Alawitische OpponentInnen der Assad-Herrschaft [Anm.: seit 1970] waren gelegentlich in einer schlimmeren Lage als sunnitische Oppositionelle, weil sie potenziell eine größere Bedrohung durch ihre Zugehörigkeit zur alawitischen Gemeinschaft darstellen (Al-Majalla 15.3.2023). So werden Berichten zufolge auch weiterhin alawitische oppositionelle AktivistInnen Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. AlawitInnen werden zudem aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (USDOS 30.3.2023).
Im Zuge des Bürgerkriegs kam es zu verschiedenen konfessionalistischen Exzessen, welche die Möglichkeiten für eine Versöhnung zwischen den Kriegsparteien untergraben. Es gab Berichte über Massaker, konfessionalistische Säuberungsaktionen wie auch Entführungen und sexuelle Gewalt gegen AlawitInnen und ChristInnen und umgekehrt von Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft gegen Mitglieder der sunnitschen Bevölkerungsgruppe (Al-Majalla 15.3.2023).
Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt seitens des Regimes gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regimes bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeigt sie konfessionelle Auswirkungen (USDOS 10.6.2020). So versucht die syrische Regierung, konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von gewalttätigen sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Muslime und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis (USDOS 2.6.2022). Der Einsatz von schiitischen Kämpfern durch den Iran, z. B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellen die Regierung und ihre Verbündeten Russland und Iran die bewaffnete Opposition und oppositionelle Protestierende sowie humanitäre Hilfsorganisationen auch als konfessionalistisch motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang bringen, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).
Im Allgemeinen bestehen in Gebieten, die unter Regierungskontrolle stehen, keine Hindernisse für religiöse Minderheiten, insbesondere nicht für Christen. Schätzungen zufolge leben nur mehr 3 % (vor dem Konflikt über 10 %) Christen im Land; viele sind seit Ausbruch des Konflikts geflohen – ihre Rückkehr scheint unwahrscheinlich. In Rebellengebieten, die von sunnitischen Fraktionen kontrolliert werden, ist die Religionsausübung zwar möglich, aber nur sehr eingeschränkt. Zusätzlich erschwert wird die Situation der Christen dadurch, dass sie als regierungsnahe wahrgenommen werden. Sowohl aufseiten der regierungstreuen als auch aufseiten der Opposition sind alle religiösen Gruppen vertreten. Aufgrund ihrer starken Dominanz in der Regierung und im Sicherheitsapparat werden Alawiten aber grundsätzlich als regierungstreu wahrgenommen, während sich viele Sunniten (sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, vor Beginn des Konflikts waren es 72 %) in der (auch bewaffneten) Opposition finden. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zur Opposition ist die Mehrheit der politischen Gefangenen und Verschwundenen sunnitisch. Bei der militärischen Rückeroberung der syrischen Armee von Gebieten wie Homs oder Ost-Ghouta wurden sunnitisch dominierte Viertel stark in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch wurden viele Sunniten aus diesen Gebieten vertrieben und faktisch ein demografischer Wandel dieser Gebiete herbeigeführt. Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten (UNHCR 3.2021). Im Zuge des Konflikts wurden Mitglieder religiöser Minderheiten wie auch SunnitInnen Ziel von verschiedenen Gruppen, welche von der UNO, den USA und anderen als Terrorgruppen eingestuft worden waren - darunter auch HTS, in Form von Morden, Entführungen, physischen Misshandlungen und Haft. Tausende tote und verschwundene ZivilistInnen waren die Folge (USDOS 2.6.2022).
Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (FH 9.3.2023).
Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen - meist sunnitische AraberInnen - aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib (FH 9.3.2023).
Ende 2019 führte das türkische Militär eine Offensive in Nordost-Syrien durch, um eine Pufferzone zur Zurückdrängung seiner kurdischen Gegner aus dem Gebiet zu schaffen [siehe auch die jeweiligen relevanten Unterkapitel im Kapitel Sicherheitslage] (FH 9.3.2023). Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten, besonders vertriebene KurdInnen, JesidInnen und ChristInnen, z. B. in der Stadt Afrin, berichteten von Menschenrechtsverletzungen und Marginalisierung (USDOS 2.6.2023). Von der Türkei unterstützte Milizen wurden in Folge beschuldigt, Grundstücke und Häuser zu enteignen (FH 9.3.2023). Sie begingen u. a. auch Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Plünderungen von Privatbesitz - besonders in kurdischen Gebieten - wie auch Vandalenakte gegen jesidische religiöse Stätten. Bezüglich in und um Afrin werden zusätzlich besonders auch Tötungen und willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen genannt. Besonders oft waren JesidInnen Ziel der Taten. Weiterhin werden von pro-türkischen Milizen verschleppte jesidische Frauen vermisst. Berichten zufolge leben in Afrin nur mehr 5.000 JesidInnen, während vor der türkischen Invasion von 2018 25.000 JesidInnen in 22 Dörfern ansässig waren (USDOS 2.6.2022).
Sunnitisch-islamistische und jihadistische Gruppen verfolgen oft religiöse Minderheiten und Muslime, welche sie der Pietätlosigkeit oder der Apostasie beschuldigen (FH 9.3.2023). Verschiedene islamistische Gruppen in Idlib legen Medienberichten zufolge ChristInnen die Anwendung der Scharia auf wie auch die Jizya, eine Steuer für Nicht-Muslime, um sie dazu zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen. Die HTS verstärkte demnach den Druck auf ChristInnen in Idlib durch solche Restriktionen wie auch durch eine Erhöhung von Mieten von Häusern und Geschäften, weil die HTS den Immobilienbesitz von ChristInnen als Kriegsbeute ansieht. Die HTS beging zudem weitere Arten von Misshandlungen/Machtmissbrauch ('abuses') auf Basis der konfessionellen Identität der Betroffenen (USDOS 12.5.2021). Für das Jahr 2021 werden weiterhin solche Restriktionen der HTS gegen ChristInnen in Idlib Stadt berichtet. Es wurde bekannt, dass HTS im Zeitraum Ende 2018 bis Ende 2019 Hunderte Immobilien, darunter mindestens 550 Häuser und Geschäfte in der Provinz Idlib, die vertriebenen ChristInnen gehörten, beschlagnahmt hatte (USDOS 2.6.2022).
Das Schicksal von 8,648 Personen, die vom IS seit 2014 verschleppt wurden, bleibt unbekannt (USDOS 2.6.2022). Nach Schätzung der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen tötete oder entführte der sogenannte Islamische Staat (IS) allein mehr als 9.000 JesidInnen. Die UNO bewertete dies als "Kampagne des Genozids" (USDOS 10.6.2020), wobei der IS ab 2014 ungefähr 6.000 großteils jesidische, aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak verschleppte (USDOS 10.6.2020). Diese wurden nach Syrien gebracht und als Sexsklavinnen verkauft, in nominelle Heiraten mit IS-Kämpfern gezwungen oder dienten als 'Geschenke' für IS-Kommandanten. Von diesen Frauen und Kindern ist weiterhin der Verbleib von 2.763 Menschen unbekannt (USDOS 2.6.2022).
Trotz der territorialen Niederlage des IS berichteten Medien und NGOs, dass seine extremistische Ideologie weiterhin stark im Land präsent ist (USDOS 12.5.2021). Im Jahr 2022 nahmen gewalttätige Übergriffe durch IS-Überreste zu. Menschenrechtsorganisation berichten, dass diese häufig Zivilisten, Personen, welche der Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften verdächtig sind, und Gruppen, die vom IS als Apostaten gesehen werden, ins Visier nehmen (USDOS 2.6.2022). Siehe dazu auch das Kapitel Sicherheitslage.
Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben (FH 9.3.2023). Im Jahr 2021 vertrieben christlichen Anführern zufolge türkische Bombardierungen in Nordost-Syrien ChristInnen und andere Minderheiten aus Tel Tamer und umgebenden Dörfern südöstlich des Gebiets der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' (siehe auch Kapitel Sicherheitslage) (USDOS 2.6.2022).
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KurdInnen
Anm.: Nähere Informationen z. B. zur Lage von Ajanib und Maktumin, inkl. Zugang zu Dokumenten, Bildung und Arbeit sowie bzgl. Bedingungen für die Beantragung der Staatsbürgerschaft, können im Rahmen von Anfragebeantwortungen zur Verfügung gestellt werden.
Im Jahr 2011, kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, lebten zwischen zwei und drei Millionen Kurden in Syrien. Damit stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Heute dürfte die absolute Zahl der Kurden im Land aufgrund von Flucht und Vertreibung deutlich niedriger sein. Die Lebensumstände waren für die Kurden in Syrien lange Zeit noch kritischer als in der Türkei und im Iran (SWP 1.2019). Die Behörden schränkten den Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, in Schulen und am Arbeitsplatz ein und verboten kurdischsprachige Publikationen und kurdische Feste (HRW 26.11.2009). Jegliche Bemühungen der Kurden, sich zu organisieren [Anm.: mit Ausnahme der zeitweisen Förderung der PKK als außenpolitisches Instrument] oder für ihre politischen und kulturellen Rechte einzutreten, wurden unterdrückt. In den Gebieten unter Kontrolle kurdischer Milizen hat sich seither die Lage nach Einschätzung von Human Rights Watch 'dramatisch' verbessert (FH 9.3.2023).
Nach einer Volkszählung im Jahr 1962 wurde rund 120.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt [Anm.: Jesiden waren ebenso betroffen]. Sie und ihre Nachfahren galten den syrischen Behörden seither als geduldete Staatenlose. Die Zahl dieser Ausgebürgerten, die wiederum in registrierte (Ajanib) und unregistrierte (Maktumin) Staatenlose unterteilt wurden, dürfte 2011 bei über 300.000 gelegen haben (SWP 4.1.2019). Im Jahr 2011 verfügte Präsident Assad, dass staatenlose Kurden in Hassakah, die als "Ausländer" registriert waren, die Staatsbürgerschaft beantragen können. Es ist jedoch unklar, wie viele Kurden von dem Dekret profitierten. Laut UNHCR konnten etwa 40.000 dieser Kurden nach wie vor nicht die Staatsbürgerschaft erhalten. Ebenso erstreckte sich der Erlass nicht auf die etwa 160.000 unregistrierten, staatenlosen Kurden (USDOS 20.3.2023). Ajanib erhalten standesamtliche Identitätsdokumente, Maktumin nur in Ausnahmefällen. Maktumin konnten bisher keine Pässe beantragen, ihre Kinder nicht registrieren und einschulen lassen und nicht legal heiraten. Außerdem ist ihnen der Zugang zu Wahlen und staatlichen Arbeitsplätzen verwehrt. Ca. 50.000 Maktumin sollen ihren Rechtsstatus legalisiert haben, und in der Folge dann als Ajanib die syrische Staatsangehörigkeit erhalten haben (AA 2.2.2024). Da die Stellung des Staatsbürgerschaftsantrags auch einen Gesprächstermin beim Staatssicherheitsapparat sowie Wehrdienst bei Erhalt der Staatsbürgerschaft umfasste, sahen viele KurdInnen von dem Antrag ab (MRG 3.2018). Betroffenen, die sich nicht mehr in Syrien aufhalten, ist die Möglichkeit der Erlangung der syrischen Staatsangehörigkeit verwehrt. Weitergehende Urkunden kann dieser Personenkreis nicht erlangen. Die kurdische sog. „Selbstverwaltung“ nimmt hingegen keine rechtliche Unterscheidung zwischen Maktumin und Ajanib vor (AA 2.2.2024).
In der Gesamtbetrachtung stellt sich die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts jedoch trotz Menschenrechtsverletzungen der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat – PYD) und ihres bewaffneten Arms der Volksverteidigungseinheiten (YPG - Yekîneyên Parastina Gel) als insgesamt weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und jihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Die provisorische Verfassung dieser Gebiete erlaubt lokale Wahlen, aber die ultimative Kontrolle wird von der PYD ausgeübt (FH 9.3.2023). Die syrische Regierung erkennt die Legitimität der föderalen kurdischen Gebiete jedoch nicht an. Die fehlende Präsenz der syrischen Regierung in den kurdischen Gebieten in den Anfangsjahren des Konfliktes verschaffte den Kurden aber auch mehr Freiheiten, indem in diesen Gebieten zum Beispiel die kurdische Sprache an Schulen unterrichtet werden kann (MRG 3.2018).
Für die Türkei hat es Priorität, die kurdisch-geprägte Autonomie zu beenden [Anm.: zu Militäraktionen der Türkei und zu den mit ihr verbündeten Gruppen siehe die jeweiligen Abschnitte im Kapitel "Sicherheitslage"], und die syrische Regierung möchte ihre Autorität wieder bis zur türkischen Grenze ausdehnen (CMEC 20.12.2022).
Die Lage von KurdInnen in Gebieten außerhalb der Selbstverwaltungsgebiete
KurdInnen sind seit Jahrzehnten staatlicher Diskriminierung ausgesetzt. Dazu zählt auch das Vorgehen gegen kurdische AktivistInnen (FH 9.3.2023). Die kurdische Bevölkerung (mit oder ohne syrische Staatsbürgerschaft) sieht sich offizieller und gesellschaftlicher Diskriminierung, Repressionen sowie vom Regime geförderter Gewalt ausgesetzt. Das Regime begrenzt weiterhin den Gebrauch der kurdischen Sprache sowie die Publikation von Büchern und anderen Materialien auf Kurdisch ebenso wie Ausdrucksformen kurdischer Kultur. Das Regime, die Pro-Regime-Einheiten wie auch der sogenannte Islamische Staat (IS) und bewaffnete Oppositionsgruppen, wie die von der Türkei unterstützte Syrian National Army (SNA), verhaften, foltern, töten oder misshandeln in sonstiger Weise zahlreiche kurdische AktivistInnen und Einzelpersonen wie auch Mitglieder der Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023).
Laut UN-Kommission kommt es in den pro-türkischen Gebieten weiterhin zu Entführungen und [Lösegeld-]Erpressungen. So verhaften, schlagen und entführen SNA-Mitglieder weiterhin kurdische Frauen in Afrin und Ra's al-'Ayn. In fünf von 33 Entführungen von Frauen und Mädchen von Jänner bis Oktober 2022 in Afrin sollen türkische Behörden involviert gewesen sein - darunter zwei Vorwürfe bezüglich Anwendung von Folter. In einem Fall soll die Entführte in die Türkei verbracht worden sein, während elf Entführte inzwischen wieder freigelassen wurden (USDOS 20.3.2023).
NGO-Berichten zufolge vermieden es FrauenrechtsaktivistInnen, öffentlich über ihre Arbeit zu sprechen, oder zogen sich aus lokalen Organisationen, die sich für Geschlechtergleichheit einsetzen, zurück, weil sie gezielter Gewalt durch die SNA und religiöse Individuen ausgesetzt waren. Kurdische Aktivistinnen waren besonders davon betroffen, weshalb manche ihr Engagement in der Öffentlichkeit gänzlich einstellten (USDOS 20.3.2023).
Viele kurdische Zivilisten in Gebieten, die bis 2018 zu den Selbstverwaltungsgebieten gehörten und dann unter Kontrolle der SNA gerieten, wurden zwei Mal zum Ziel: Erst waren sie zwangsweise von der YPG eingezogen worden - teilweise noch als Kinder - oder waren sonst mit der Selbstverwaltung verbunden, ohne eine Wahl zu haben. Dann wurden sie von der SNA genau wegen dieser Verbindungen zur Selbstverwaltung verhaftet und gefangen gehalten (USDOS 20.3.2023).
Im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen verbündeten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB Damaskus 1.10.2021) [Anm.: Siehe hierzu besonders auch Überkapitel Ethnische und religiöse Minderheiten].
Laut SNHR waren durch SNA-Gruppen mit Ende Dezember 2022 4.022 Personen unrechtmäßig gefangen oder verschwinden gelassen, darunter 365 Kinder und 882 Frauen. Hinzukamen Verhaftungen durch die SNA, welche den gesetzwidrigen Transfer von syrischen StaatsbürgerInnen in die Türkei nach sich zog (USDOS 20.3.2023) [Anm.: siehe dazu auch Länderinformationen im COI-CMS zu Türkei]. [...].“
Auszug aus dem EUAA Country Focus Syria vom März 2025:
1.3.3. Kurds
With regards to the Kurdish community, upon taking control, Al-Sharaa held an initial meeting with a senior SDF delegation to establish the basis for future discussions. His remarks implied that the transitional administration did not align with the Turkish-backed SNA’s anti-SDF approach. Nevertheless, Mohammed A. Salih, a scholar specialising in Kurdish and regional issues, described his remarks as unclear and unsupportive of Kurdish goals. Following the rapid capture of Aleppo by the HTS-led offensive in late November, SNA forces forced thousands of Kurdish civilians to flee west of the Euphrates River. In Aleppo, the Kurds primarily interacted with HTS, which has exhibited moderation and openness to dialogue. In contrast, the SNA consistently engaged in conflict with the SDF in Manbij. The continuous existence of the SDF was stated by organisers of the National Dialogue Conference as the reason for the exclusion of the semi-autonomous Kurdish administration and its related bodies from the conference.
Housing and property violations continued throughout January as displaced Kurdish residents attempted to return to Afrin, a Kurdish-majority region in the Aleppo countryside, and its surrounding areas. SNA factions reportedly forced them to pay up to 10 000 USD to reclaim their homes. Concurrently SNA factions detained at least 10 Kurds in Afrin in January, with ransom demands for release rising above 1 000 USD per person. By mid-February, there had been minimal change for the Kurds in Afrin despite the deployment of Damascus’ security forces in the city on February 7. Abuses by various factions in Afrin reportedly continued. Returning residents discovered that their homes were occupied by fighters or civilians, who demanded substantial sums of money for their departure, despite the previous residents having received formal assurances from the transitional administration to return. Towards the end of February Al-Sharaa visited Afrin and convened with local Kurdish representatives who conveyed their grievances; in response, he committed to substituting the factions in the city with official security forces and addressing the abuses directed at the Kurdish community.
2.1.2. Syrian National Army (SNA)
Statements regarding the troop size of the SNA vary, with Middle East Eye (MEE) estimating a range between 30 000 and 80 000,371 while the Turkish Foreign Minister puts them at over 80 000.372 According to MEE, the SNA played a ‘decisive role’ in the HTS-led rebel offensive, for example when fighters from the SNA faction Levant Front (Jabhat Al-Shamiya) advanced 200 km south from their areas of control in A’zaz in northern Aleppo countryside.
The National Liberation Front (NLF), the result of a 2018 merger of 11 rebel groups, in turn merged with the SNA in 2019 and consists of various armed groups, such as Faylaq al-Sham, Ahrar al-Sham, the Free Idlib Army and Harakat Nour Al-Din Al-Zenki, mostly fighting under the Free Syrian Army label. The NLF altogether was estimated to comprise about 25 000 ighters. Of those, Ahrar Al-Sham, a group that as of 2015 estimates had about 15 000 fighters, was mostly active an Aleppo and Idlib governorates.377 As of mid-January 2025, the NLF was largely in charge of securing control in Idlib.
On 30 November 2024, shortly after HTS and allied SNA factions had made significant territorial gains in Aleppo countryside and eastern Idlib, the SNA announced the launch of operation ‘Dawn of Freedom’, capturing areas around Al-Bab east of Aleppo city. The stated aim of the operation was to liberate the area from Assad troops and Iranian militias. The MOA reportedly sent reinforcements to support the SNA in their operations against the SDF in eastern Aleppo.
Meanwhile, tensions between the SNA and the MOA were reported following a demand made by the latter for the SNA factions to disband and surrender their arms, with some factions rejecting and others voicing acceptance of the order. Turkish Foreign Minister Hakan Fidan at the end of January 2025 called on the SNA to integrate into the forces of the new Transitional Administration. On 29 January 2025, the Transitional Administration announced the dissolution of former rebel groups, among which the SNA. However, several sources indicated that this dissolution had not yet been fully implemented as some SNA groups appeared to have been integrated in name only, continuing to fight the SDF along the Euphrates river and operating as SNA in northwest Syria where they were only gradually handing over tasks to the MOA. Some SNA faction leaders reportedly showed reluctance to integrate into the Ministry of Defence, fearing they might be held accountable for past human rights abuses or losing their political clout.
The advances by the SNA in the north of the country reportedly caused fear among the Kurdish population, with an estimated 120 000 people fleeing from areas in northern Aleppo captured by the SNA at the start of December. The SNA reportedly employed indiscriminate shelling of civilian areas. Human Rights Watch (HRW) reported on an SNA drone strike that hit a Kurdish Red Crescent ambulance transporting a wounded civilian near Tishreen Dam on 18 January. The organisation further mentioned attacks carried out by the SNA with support from Türkiye on protesters gathering near the dam, leading to deaths and injuries according to the SDF.
4.2. Areas under the control of the Syrian National Army (SNA)
Army (SNA)As of February and early March 2025, the Turkish-backed militias (i.e the Syrian National Army - SNA) controlled northern and eastern rural Aleppo, including the area between A’zaz, Al-Bab and Jarablus (operation Euphrates Shield area). The SNA also controlled a stretch of territory further east that is known as the operation Peace Spring area, roughly delimited by the Tall Abyad area (Raqqa) in the west and Ras Al-Ain (Hasaka) in the east, with some SNA presence mapped as far east as Tall al-Amir (Hasaka) Meanwhile, control of northwestern Aleppo’s Afrin area, previously occupied by SNA factions since 2018, was transferred to the transitional administration as its security forces entered Afrin city in early February 2025.
(a) Operation Dawn of Freedom and Euphrates shield areas
Amid the Syrian armed opposition’s military offensive, the SNA on 30 November 2024 aunched its own concurrent Operation Dawn of Freedom in northern and eastern rural Aleppo. Its immediate aim was to push the SDF troops east of the Euphrates River. The SNA took several towns in northern Aleppo and conquered the city of Tall Rifaat, areas located south of A’zaz and Al-Bab, as well as the city of Manbij and its surroundings. Meanwhile, mapping resources disagreed on whether Aleppo city and its eastern surroundings were under HTS control or partly controlled by the SNA.
After capturing the city of Tall Rifaat (northern Aleppo) and then seizing Manbij following a US-brokered temporary ceasefire that allowed for a withdrawal of the SDF from the city, the SNA advanced towards the Kurdish-majority border city of Kobane on the eastern Euphrates riverbank.
On 24 December 2024, the SDF announced a counteroffensive aiming to retake territory lost to the SNA as it made some territorial gains in eastern rural Aleppo. Heavy clashes between the SNA and the SDF were reported in January and February 2025 at the frontlines around the strategic Tishreen Dam and Qara Qozak Bridge on the Euphrates River, in villages in rural Manbij and around the city of Kobane. The violent clashes using medium and heavy weapons, among which rocket-propelled grenades, in the area around the dam, lead to 116 fighters and 20 civilians killed within 15 days. Clashes around the Tishreen Dam and in Manbij countryside continued throughout January 2025. Besides combatants, dozens of civilians were killed or injured during exchanges of artillery and rocket fire between Turkish/Türkiye-backed forces and SDF/Kurdish forces.
The area around Manbij city witnessed continued violence in the months following the fall of Assad. As of late December 2024, amid clashes following SDF attempts to retake Manbij city, the security situation was described as ‘very tense’ and lacking clarity. Between late December/early January 2025 and early February 2025, the Manbij area was struck by seven car bombings. These included two unclaimed car bomb explosions reported on 1 February (causing four civilian deaths) and 3 February (hitting a vehicle transporting women agricultural workers and resulting in at least 19 civilian deaths).
Amid what SOHR refers to as ‘escalating security chaos’ in areas controlled by Türkiye and its proxy groups, further civilians were killed by unidentified gunmen in Manbij city and ist countryside, as well as in eastern Aleppo’s Jarablus countryside. In late December 2024 and early January 2025, there were also several explosions of booby-trapped motorbikes in northern and eastern Aleppo (including one in Tall Rifaat and two in Manbij city), some of which caused civilian casualties. SNA factions were also reported to have subjected civilians to kidnapping, beating, and looting in the Al-Bab countryside (eastern Aleppo).
According to ACLED data, the areas under the control of SNA/disputed in Aleppo governorate which were the most affected by security incidents (battles, explosions/remote violence, violence against civilians) during the reporting period were Ain Al Arab/Kobane (401 incidents) and Manbij districts (212 incidents), amounting to around 49 % of the total number of security incidents recorded in Aleppo governorate.
(b) Operation Peace Spring area
Localities in northern Syria that are part of the Operation Peace Spring area, including in western Raqqa (e.g., the Ain Issa and Tall Abyad areas) and Hasaka (Ras Al-Ain) witnessed heavy clashes between the Turkish forces/SNA and the SDF, involving the use of heavy weaponry, rocket fire, drone warfare, and infiltrations, as well as Turkish forces and Türkiye-backed SNA factions bombarding villages.
Civilian casualties in the Operation Peace Spring area included two women who were shot dead by Military Police (Sulouk area in the Raqqa countryside), a girl injured by a shell fired by Turkish forces (western rural Tall Abyad in northern Raqqa) and the killing and wounding of seven civilians in an explosion at a military headquarters in the Ras Al-Ain countryside following an infiltration by SDF special forces. The Ras Al-Ain area also experienced growing ‘security chaos’, including thefts, robberies, and infighting between armed factions linked to militiamen intending to leave the Operation Peace Spring area (such relocations into SDF territory have been facilitated by SDF). Turkish-backed Military Police and militias conducted security campaigns targeting individuals attempting to leave the area. Several members of Turkish-backed militias have been killed in this context.
According to ACLED data, the areas under the control of SNA/disputed in Raqqa and Hasaka governorates which were the most affected by security incidents (battles, explosions/remote violence, violence against civilians) during the reporting period were Raqqa’s Tall Abyad (193 incidents), and Hasaka’s Ras Al Ain (111) districts, amounting to around 51 % and 27 % of all security incidents recorded in Raqqa and Hasaka governorates, respectively.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, in aktuelle Länderinformationen und durch Einvernahme der Bf in der mündlichen Verhandlung.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Bf ergibt sich aus ihrer syrischen ID Karte (siehe AS 55 ff).
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Bf, zu ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrem Familienstand, ihrer Muttersprache, ihrem Lebenslauf, ihrem Aufwachsen sowie zu ihrer familiären Situation, ihrer Schulausbildung sowie ihrer fehlenden Berufsausbildung und Berufsausübung beruhen auf den diesbezüglich schlüssigen Angaben. Ebenso kann der Bf gefolgt werden, wenn sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ausführt, im Alter von 16 Jahren geheiratet und sowohl in XXXX und an den Wochenenden in XXXX gelebt zu haben. Dies gilt ebenfalls für ihre Aussagen bezüglich ihres dauerhaften Aufenthaltes in XXXX nach ihrer Scheidung im Jahre 2013 bis zu ihrer Ausreise im Jahre 2020 (VHS S. 8, 14).
Die Feststellungen zu ihren Kindern, zu ihrem Ex-Mann und zum Kontaktabbruch zu diesen sind den Angaben der Bf zu entnehmen (siehe AS 31, 34; VHS S. 9 ff).
Die Feststellungen zu den Familienmitgliedern, insbesondere zu deren Aufenthaltsorten, beruhen auf ihren nachvollziehbaren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (siehe VHS S. 6 f).
Die Feststellung, dass die Bf in Kontakt mit ihrer Familie und ihren Verwandten in Europa steht, basiert auf den plausiblen Angaben der Bf (VHS S. 11).
Die Feststellung, dass die Bf subsidiär schutzberechtigt ist, ergibt sich aus den vorgelegten Verfahrensakten des verwaltungsbehördlichen Verfahrens.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen der Bf vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung (AS 29; VHS S. 3) sowie auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Bf in Österreich ergibt sich aus der Einsichtnahme in das österreichische Strafregister.
2.2 Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin:
Die Feststellung zur Heimatregion der Bf ergeben sich aus den gleichbleibenden Angaben im Rahmen des verwaltungsbehördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Die Bf wuchs in XXXX auf und wohnte dort bis zu ihrer Ausreise im Jahre 2020. Sie hat nach wie vor familiäre Anknüpfung zu dieser Stadt, da sich ihre Mutter und Schwester dort aufhalten.
Dass sich ihre Heimatregion derzeit unter Kontrolle der SNA/FSA befindet, ist der Website https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html,/ zu entnehmen. Ebenfalls bestätigt diese, dass sich die Heimatregion der Bf von Juni 2014 bis März 2018 unter Kontrolle der SDF stand und seit April 2018 unter Kontrolle der SNA/FSA steht.
Nicht gefolgt werden kann der Bf, wenn sie ausführt, dass sie von der FSA festgenommen und für mehrere Wochen inhaftiert worden sei. In der EB gab sie an, dass sie öfters von der FSA angehalten und geschlagen worden sei, da sie kein Kopftuch getragen habe. Ende 2019 sei sie dann von der FSA deswegen festgenommen und in der Haft zusammengeschlagen worden (AS 16). In ihrer Einvernahme vor dem BFA gab sie neu an, dass die FSA Ende 2019 XXXX erobert hätte und im Zuge einer Hausdurchsuchung ein Foto entdeckt worden wäre, welches die Bf mit einer kurdischen Flagge zeige. Daher sei sie festgenommen und für einen Monat inhaftiert worden (AS 34). Im Rahmen der mündlichen Verhandlung steigerte die Bf ihr Vorbringen weiter und gab an, dass sie 2,5 Monate inhaftiert gewesen sei (VHS S. 13 f). Gegenteilig dazu gab ihr Bruder XXXX im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA auf die Frage, ob seine Familie jemals persönlich bedroht oder verfolgt worden sei, lediglich an, dass sein Bruder XXXX von der FSA eingesperrt und inhaftiert worden sei (siehe Verfahren XXXX AS 130 f, 135). In der Beschwerde erwähnte er nur, dass sein Bruder verhaftet worden sei (siehe Verfahren XXXX AS 275). Auffallend und nicht nachvollziehbar ist, dass der Bruder der Bf im Rahmen seines Beschwerdeverfahren - ungefähr ein Jahr nach der Einvernahme der Bf – in einer Stellungnahme explizit sein Vorbringen dahingehend ergänzte, dass seine Schwester für zehn Tage von der FSA inhaftiert worden sei (siehe Verfahren XXXX OZ 5). Im Rahmen seiner mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX schilderte der Bruder der Bf eine neue Version bezüglich der Inhaftierung seiner Schwester. Er hätte versucht, gemeinsam mit seiner Schwester die Grenze zwischen Syrien und der Türkei in Idlib illegal zu überqueren. Seine Schwester habe es aber nicht geschafft und sei von der FSA aufgegriffen worden, da sie kein Kopftuch getragen habe. Sie sei zehn bis fünfzehn Tage in Haft gewesen und dann wieder entlassen worden (siehe Verfahren XXXX OZ 6 S. 8). Aufgrund dieser widersprüchlichen Angaben der Bf und ihres Bruders geht Gericht davon aus, dass die Bf nicht von der FSA inhaftiert wurde und lediglich nachträglich versucht wurde, ein asylrelevantes Vorbringen zu konstruieren.
Hingegen muss der Bf gefolgt werden, wenn sie vorbringt, dass ihr aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit in ihrer Heimatregion Verfolgung drohen könnte (siehe AS 16, 33 ff, 212 ff; VHS S. 12 ff).
Die Bf gab gleichlautend und im Hinblick auf die vorliegenden Länderinformationen glaubwürdig im Verfahren an, dass sie und ihre Familie in Syrien in XXXX von der FSA/SNA verfolgt werden, weil sie Kurden seien.
Die unsichere Lage in der Heimatregion der Bf ist den Länderfeststellungen zu entnehmen. So kommt es in den Gebieten um die Städte XXXX und XXXX vereinzelt zu Kampfhandlungen zwischen Türkei-nahen Milizen und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG sowie zu asymmetrischen Auseinandersetzungen, darunter zuletzt auch zu zahlreichen Anschlägen mit hohen zivilen Opferzahlen.
Auch kommt es seit Beginn der Militäroperation „Friedensquelle“ zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der– mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA/FSA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen. Seit den türkischen Offensiven im Norden Syriens ab 2018 werden Menschenrechtsverletzungen z.B. Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen und Enteignungen durch mit der Türkei verbündeten Gruppen vor allem gegen Kurden begangen.
Aufgrund der vorliegenden Länderinformationen und insbesondere der höchstgerichtlichen Entscheidung des VfGH vom 19.09.2023, E 720/2023, muss das Bundesverwaltungsgericht davon ausgehen, dass der Bf mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in ihre Heimatregion eine Verfolgung durch die FSA/SNA aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit droht.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Syrien stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Die in das Verfahren eingeführten Länderberichte (Version 11 vom 27.03.2024) sind mittlerweile durch die neue Version 12 vom 08.05.2025 überholt. Der Country Focus der EUAA vom März 2025 ist aktuell und spiegelt die aktuelle Lage in Syrien wider. Auch führt die Heranziehung des mittlerweile neu veröffentlichen Länderinformationsblattes in der Beweiswürdigung zu keinem anderen Ergebnis, da sich in den für die gegenständliche Entscheidung wesentlichen Punkten keine maßgeblichen Veränderungen ergeben haben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Zuerkennung des Status der Asylberechtigten
§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat. […]“
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Bf, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).
Zur Verfolgung der Bf in ihrer Heimatregion aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit:
Den Länderberichten betreffend Nordsyrien ist zu entnehmen, dass das Vorgehen der türkischen Armee und ihrer Verbündeten gegen die kurdischen Zivilisten vom Motiv der ethnischen Vertreibung dieser Volksgruppe aus dem betreffenden Gebiet getragen ist (vgl. VwGH 08.10.2020, Ra 2020/18/0120; 25.08.2022, Ra 2021/19/0442).
Im vorliegenden Fall haben sich daher ausreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Furcht der Bf vor Verfolgung aus Gründen ihrer Zugehörigkeit zur Ethnie der Kurden im von der Türkei und mit der Türkei verbündeten Milizen besetzten Gebiet im Nordwesten Syriens, konkret in XXXX sowie der näheren Umgebung, berechtigt ist. Die Länderberichte dokumentieren massive gewaltsame Übergriffe vor allem auf die kurdische Zivilbevölkerung, nämlich Beschlagnahmungen, Zerstörungen, Plünderungen, Vertreibungen, gewaltsame Enteignungen sowie willkürliche Tötungen. Der Bf droht bei einer Rückkehr in ihre Heimatregion somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung.
Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch die neue syrische Regierung unter Ahmed al-Scharaa ist für die Bf auszuschließen, weil diese wegen der Verfolgung der Bf im Nordwesten Syriens aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit nicht fähig bzw. gewillt ist, sie vor dieser Verfolgung zu schützen. Zudem besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative. Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative würde in Widerspruch zum – aufgrund der derzeitigen Situation in Syrien – bereits gewährten subsidiären Schutz stehen (siehe etwa VwGH 25.03.2015, Ra 2014/18/0168; 29.06.2015, Ra 2014/18/0070).
Aufgrund der vorliegenden Länderinformationen sowie der höchstgerichtlichen Entscheidung des VfGH vom 19.09.2023, E 720/2023, muss das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangen, dass der Bf aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit eine Verfolgung in ihrer Heimatregion droht.
Nachdem der Bf im Hinblick auf der ihr drohenden Verfolgung in ihrer Heimatregion aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit bereits der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen war, war auf ihr weiteres Fluchtvorbringen (alleinstehende Frau, vermeintliche Teilnahme an Demonstrationen) nicht mehr einzugehen.
Hinweise auf das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 3 Z 2 iVm § 6 AsylG 2005 sind im Lauf des Verfahrens nicht hervorgekommen.
Der Beschwerde war daher spruchgemäß stattzugeben, der Bf gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festzustellen, dass ihr damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Bf kommt gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 kraft Gesetzes eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte, die drei Jahre gilt und sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer verlängert, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.
Zu B)
Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.