Vorwort
1. ABSCHNITT
Rechtshilfe und Zustellung
Artikel 1
Art. 1
(1) Die vertragschließenden Teile werden in bürgerlichen Rechtssachen und in gerichtlichen Strafsachen, mit Ausnahme der politischen und fiskalischen Strafsachen, auf Ersuchen einander Rechtshilfe leisten und Zustellungen vornehmen.
(2) In den im Abs. 1 bezeichneten Angelegenheiten verkehren die Gerichte der vertragschließenden Teile unmittelbar miteinander.
Artikel 2
Art. 2
Das ersuchte Gericht kann ein Ersuchen um Rechtshilfe oder Zustellung nur ablehnen, wenn die Erledigung nicht in den Bereich der Gerichtsgewalt fällt, der öffentlichen Ordnung oder dem inneren öffentlichen Rechte des ersuchten Staates zuwiderläuft oder geeignet ist, seine Hoheitsrechte zu verletzen oder seine Sicherheit zu gefährden. In diesem Fall ist das Ersuchen im diplomatischen Weg unter Angabe des Grundes zurückzuleiten.
Artikel 3
Art. 3
Ist das ersuchte Gericht zur Vornahme der Rechtshilfe oder Zustellung nicht zuständig, so hat es das Ersuchen von Amts wegen an das zuständige inländische Gericht weiterzuleiten. Fällt die begehrte Handlung in den Wirkungskreis einer anderen inländischen Behörde, so kann das ersuchte Gericht das Ersuchen an diese Behörde weiterleiten. In beiden Fällen hat das ersuchte Gericht das ersuchende Gericht hievon unmittelbar zu verständigen.
Artikel 4
Art. 4
Rechtshilfe und Zustellung sind nach den Rechtsvorschriften des ersuchten Staates durchzuführen. Dem Ersuchen, von diesen Rechtsvorschriften hinsichtlich der Form oder des Inhaltes der Erledigung abzuweichen, ist zu entsprechen, soweit dieser Vorgang durch die Rechtsvorschriften des ersuchten Staates nicht verboten ist.
Artikel 5
Art. 5
(1) Die Kosten der Rechtshilfe und Zustellung werden von dem ersuchenden dem ersuchten Gerichte nicht ersetzt; ausgenommen sind Vergütungen, die an Sachverständige bezahlt worden sind.
(2) Die Zeugengebühren, die das ersuchte Gericht getragen hat, sind dem ersuchenden Gerichte bekanntzugeben; dieses kann sie von der zahlungspflichtigen Partei einheben.
2. ABSCHNITT
Armenrecht und Prozeßkostensicherstellung
Artikel 6
Art. 6
Die Angehörigen des einen der vertragschließenden Teile werden im anderen unter denselben Voraussetzungen wie die eigenen Staatsangehörigen zum Armenrechte zugelassen.
Artikel 7
Art. 7
Den Angehörigen des einen vertragschließenden Teiles, die in einem dritten Staat ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, kann auch auf Grund eines Zeugnisses der diplomatischen oder konsularischen Vertretungsbehörde ihres Heimatstaates oder der Behörden des dritten Staates, in deren Sprengel sie ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, das Armenrecht durch die Gerichte des anderen vertragschließenden Teiles bewilligt werden.
Artikel 8
Art. 8
(1) Die Angehörigen der beiden vertragschließenden Teile, die im Gebiete des einen ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, können Anträge auf Bewilligung des Armenrechtes sowie Klagen, andere Anträge und Erklärungen in bürgerlichen Rechtssachen, sofern die Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben ist, unter Vorlage eines Armenrechtszeugnisses in der Republik Österreich bei dem Bezirksgericht ihres Wohnsitzes oder ständigen Aufenthaltes, im Fürstentum Liechtenstein beim fürstlichen Landgericht Vaduz zu Protokoll geben. Dieses Protokoll samt dem Armenrechtszeugnis und den anderen Beilagen ist dem als zuständig bezeichneten Gericht oder dem Gerichte, bei dem die Sache anhängig ist, unmittelbar zu übersenden. Mit der Vertretung der einschreitenden Partei ist auf deren Antrag im Falle der Bewilligung des Armenrechtes eine bei Gericht tätige Person zu betrauen.
(2) In Sachen, in denen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt vorgeschrieben ist, sind der Antrag auf Bewilligung des Armenrechtes, das Armenrechtszeugnis und ein Protokoll, in das die erforderlichen Angaben für die anzubringende Klage oder den sonstigen Schriftsatz aufzunehmen sind, dem Gerichte, das als zuständig bezeichnet wird oder bei dem die Sache anhängig ist, unmittelbar zu übersenden. Im Falle der Bewilligung des Armenrechtes hat dieses Gericht die nach Maßgabe seiner Rechtsvorschriften erforderlichen Verfügungen wegen Bestellung eines Rechtsanwaltes für die arme Partei zur Anbringung der Klage, des sonstigen Schriftsatzes und zur Vertretung bei der mündlichen Verhandlung zu veranlassen.
Artikel 9
Art. 9
Das einem Angehörigen der vertragschließenden Teile bewilligte Armenrecht erstreckt sich auch auf die Rechtshilfe und Zustellung, die in dieser Sache von einem Gericht eines der vertragschließenden Teile vorgenommen wird.
Artikel 10
Art. 10
Die Angehörigen eines der vertragschließenden Teile, die im anderen ihren Wohnsitz haben, stehen hinsichtlich der Befreiung von der Sicherstellung für die Prozeßkosten im Verfahren vor den Gerichten des anderen vertragschließenden Teiles dessen Angehörigen gleich.
3. ABSCHNITT
Beglaubigung und Urkunden
Artikel 11
Art. 11
Die von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde eines der vertragschließenden Teile ausgestellten öffentlichen Urkunden, die mit der amtlichen Unterschrift und dem Amtssiegel oder Amtsstempel versehen sind, genießen auch vor den Behörden des anderen vertragschließenden Teiles die Beweiskraft öffentlicher Urkunden. Dasselbe gilt sinngemäß für Notariatsakte.
Artikel 12
Art. 12
Vor den Behörden des anderen vertragschließenden Teiles bedürfen keiner weiteren Beglaubigung:
(1) Öffentliche Urkunden, die von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde eines der vertragschließenden Teile ausgestellt und mit der amtlichen Unterschrift und dem Amtssiegel oder Amtsstempel versehen sind; dasselbe gilt sinngemäß für Notariatsakte;
(2) die von den Funktionären der in Österreich gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften als Altmatrikenführern ausgestellten und mit dem kirchlichen Siegel versehenen Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden;
(3) Privaturkunden, in denen die Echtheit der Unterschrift von einem Gericht oder einem öffentlichen Notar eines der vertragschließenden Teile beglaubigt ist;
(4) Abschriften von Urkunden, deren Übereinstimmung mit der Urschrift von einem Gericht oder einem öffentlichen Notar eines der vertragschließenden Teile beglaubigt ist.
Artikel 13
Art. 13
Die von den Behörden eines der vertragschließenden Teile ausgestellten und mit der amtlichen Unterschrift und dem Amtssiegel oder Amtsstempel versehenen Ehefähigkeitszeugnisse bedürfen zum Gebrauche vor den Behörden des anderen Teiles keiner Bescheinigung über die Zuständigkeit der ausstellenden Behörde.
4. ABSCHNITT
Vormundschaft und Pflegschaft
Artikel 14
Art. 14
(1) Die vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte über Angehörige des einen vertragschließenden Teiles, die nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatstaates der Fürsorge bedürfen und im Gebiete des anderen ihren ständigen Aufenthalt haben oder nehmen, werden von den Gerichten oder den sonst mit der Führung dieser Geschäfte befaßten Behörden des anderen vertragschließenden Teiles geführt.
(2) Das Recht des Staates, in dem der Angehörige des anderen Staates seinen ständigen Aufenthalt hat, vormundschafts- oder pflegschaftsbehördliche Maßnahmen nach seinen Rechtsvorschriften auch dann zu treffen, wenn eine Fürsorgebedürftigkeit nach den Rechtsvorschriften des Heimatstaates nicht gegeben ist, bleibt unberührt.
(3) Die Führung der vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte ist im Falle des Abs. 1 auf Verlangen einer Vormundschafts- oder Pflegschaftsbehörde des Heimatstaates des Pflegebefohlenen dieser abzutreten.
Artikel 15
Art. 15
Vorläufige und dringende vormundschafts- oder pflegschaftsbehördliche Maßnahmen hinsichtlich der Angehörigen des einen vertragschließenden Teiles können von den Behörden des anderen auch dann getroffen werden, wenn diese Angehörigen dort nur ihren Aufenthalt haben oder nehmen.
Artikel 15a
Art. 15a
(1) Entscheidungen der Gerichte eines der vertragschließenden Teile, die in Vormundschafts- oder Pflegschaftssachen gefällt werden, sind im Gebiet des anderen vertragschließenden Teiles anzuerkennen, wenn sie folgenden Voraussetzungen entsprechen:
a) die Entscheidung muß von einem Gericht des vertragschließenden Teiles gefällt worden sein, dessen Gerichte nach den Bestimmungen des Artikels 15b zuständig gewesen sind;
b) die Entscheidung muß in Rechtskraft erwachsen sein.
(2) Die Anerkennung einer Entscheidung ist auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 zu versagen,
a) wenn sie gegen die öffentliche Ordnung oder gegen die guten Sitten verstoßen würde, oder
b) wenn das rechtliche Gehör verletzt worden ist.
Artikel 15b
Art. 15b
Im Sinne des Artikels 15a Absatz 1 Buchstabe a sind zuständig:
a) die Gerichte, deren Zuständigkeit sich aus Artikel 14 ergibt, und
b) in den nicht durch Artikel 14 geregelten Fällen die Gerichte des vertragschließenden Teiles, dem die Person, über welche die vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte geführt werden, angehört.
Artikel 15c
Art. 15c
Entscheidungen der Gerichte eines der vertragschließenden Teile, die in Vormundschafts- oder Pflegschaftssachen gefällt worden sind, sind im Gebiet des anderen vertragschließenden Teiles zu vollstrecken, wenn sie
a) gemäß Artikel 15a anzuerkennen sind und
b) in dem vertragschließenden Teil, in dem sie gefällt worden sind, vollstreckbar sind.
Artikel 15d
Art. 15d
Eine Partei, die sich in einem vertragschließenden Teil auf eine im anderen vertragschließenden Teil gefällte Entscheidung zum Zweck ihrer Anerkennung oder Vollstreckung beruft, hat vorzulegen:
a) eine mit dem Amtssiegel oder Amtsstempel versehene Ausfertigung der Entscheidung;
b) eine Bestätigung der Rechtskraft der Entscheidung und, soweit die Vollstreckung beantragt wird, ihrer Vollstreckbarkeit.
Artikel 15e
Art. 15e
Die Bewilligung der Exekution und das Vollstreckungsverfahren richten sich nach dem Rechte des vertragschließenden Teiles, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird.
Artikel 15f
Art. 15f
Die Bestimmungen der Artikel 15a bis 15e sind auf die in Vormundschafts- oder Pflegschaftssachen geschlossenen gerichtlichen Vergleiche sinngemäß anzuwenden.
Artikel 15g
Art. 15g
Die Artikel 15a bis 15f berühren nicht die Bestimmungen des Vertrages vom 1. April 1955 zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über die Vollstreckung von Unterhaltstiteln.
5. ABSCHNITT
Schlußbestimmungen
Artikel 16
Art. 16
(1) Alle die Auslegung oder die Anwendung des vorliegenden Vertrages betreffenden Meinungsverschiedenheiten, die im Wege diplomatischer Verhandlungen nicht zu bereinigen sein sollten, sind auf Verlangen eines der vertragschließenden Teile einer Kommission zu unterbreiten, die beauftragt ist, eine Lösung des Streitfalles zu suchen und die sich aus je einem Vertreter der beiden Regierungen zusammensetzt.
(2) Für den Fall, als diese beiden Vertreter nicht innerhalb dreier Monate, nachdem ihnen die Meinungsverschiedenheit unterbreitet wurde, zu einer Regelung kommen können, haben sie einverständlich ein unter den Angehörigen eines dritten Staates auszuwählendes Mitglied namhaft zu machen. Mangels Einigung über die Auswahl dieses Mitgliedes innerhalb einer Frist von zwei Monaten kann der eine oder der andere Teil den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofes ersuchen, die Namhaftmachung des dritten Mitgliedes der Kommission durchzuführen; diese hat sodann die Aufgaben eines Schiedsgerichtes zu versehen.
(3) Das Schiedsgericht entscheidet mit Stimmenmehrheit seiner Mitglieder; seine Entscheidung ist endgültig und bindend.
Artikel 17
Art. 17
Der vorliegende Vertrag ist zu ratifizieren; die Ratifikationsurkunden sind sobald als möglich in Wien auszutauschen. Der vorliegende Vertrag tritt am ersten Tag des dem Austausch der Ratifikationsurkunden folgenden Monats in Kraft.
Artikel 18
Art. 18
Jeder der vertragschließenden Teile kann den vorliegenden Vertrag unter Einhaltung einer sechsmonatlichen Frist auf das Ende des Kalenderjahres kündigen.
ZU URKUND dessen haben die Bevollmächtigten den vorliegenden Vertrag unterzeichnet und mit ihrem Siegel versehen.
GESCHEHEN in doppelter Urschrift zu Vaduz am ersten April eintausendneunhundertfünfundfünfzig.
Zusatzprotokoll zum Vertrag zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über Rechtshilfe, Beglaubigung, Urkunden und Vormundschaft.
I. Zur Anwendung des Artikels 1:
Anl. 1
a) Zu Abs. 1: Unter „fiskalischen Strafsachen“ sind solche zu verstehen, die devisenrechtliche, zoll-, steuer- oder abgabenrechtliche Tatbestände zum Gegenstande haben.
b) Zu Abs. 2: Es besteht Einverständnis darüber, daß die Bestimmung über den unmittelbaren Verkehr der Gerichte miteinander nicht dahin auszulegen ist, daß nicht auch andere Behörden miteinander oder mit Gerichten des anderen Teiles wie bisher unmittelbar verkehren könnten.
II. Zur Anwendung der Artikel 11, 12 und 13:
Anl. 1
Was unter „amtlicher Unterschrift“ zu verstehen ist, wird durch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften bestimmt.
GESCHEHEN in doppelter Urschrift zu Vaduz am ersten April eintausendneunhundertfünfundfünfzig.