JudikaturVwGH

Ra 2025/14/0028 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
17. Juli 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Mag. Dr. Maurer Kober sowie die Hofrätin Dr. in Sembacher und den Hofrat Mag. Marzi als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. in Zeitfogel, über die Revision des S G, vertreten durch Dr. Esther Pechtl Schatz, Rechtsanwältin in Imst, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Jänner 2025, I421 22991631/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Türkei und der kurdischen Volksgruppe zugehörig, stellte am 8. Juli 2024 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Diesen Antrag begründete der Revisionswerber mit familiären und wirtschaftlichen Gründen einerseits und einer Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe und der seiner Familie drohenden Verfolgung aufgrund der Unterstellung einer Anhängerschaft der PKK und wegen der Teilnahme eines Onkels an einem kurdischen Fest sowie dessen Verwicklung in einen Fall der Blutrache andererseits.

2Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 20. August 2024 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, sprach aus, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Diesen Bescheid begründete das BFA im Rahmen seiner Beweiswürdigung im Wesentlichen damit, dass der Revisionswerber mehrere sichere Drittstaaten durchquert habe ohne einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und angegeben habe, aufgrund der Krebserkrankung seiner Mutter schnellstmöglich arbeiten zu wollen. Der Revisionswerber sei als Arbeitsmigrant anzusehen.

4 In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde rügte der Revisionswerber im Wesentlichen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren. Der Revisionswerber sei Alevit und habe in den Jahren 2017 und 2018 seinen Wehrdienst absolviert. Sein gesamtes Leben sei er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seiner Glaubensrichtung schikaniert worden und Gewalt von Seiten staatlicher Behörden ausgesetzt gewesen. Die Familie des Revisionswerbers sei aufgrund eines Streits zwischen einem Onkel und einem Staatsbediensteten, bei welchem dieser getötet worden sei, der Gefährdung durch Blutrache ausgesetzt. Der Revisionswerber habe ständig seinen Wohnort wechseln müssen, sei jedoch mehrfach aufgespürt und bedroht worden. Er habe 2024 sein Heimatland verlassen, um Schutz vor Verfolgung zu bekommen. Der türkische Staat sei nicht schutzwillig. Die Länderfeststellungen zur Situation von Kurden, von Aleviten und zur Gefährdung durch Blutrache seien unvollständig. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei mangelhaft.

5 Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit der angefochtenen Entscheidung ohne Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt A.) und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

6 Das BVwG hielt im Rahmen seiner Feststellungen zum Fluchtvorbringen fest, der Revisionswerber sei keiner asylrelevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt, habe die Türkei legal verlassen und mindestens drei sichere „Dritt- bzw. EU Länder“ durchquert. Bei einer Rückkehr habe er weder eine existenzielle Bedrohung zu befürchten noch würde ihm die Lebensgrundlage entzogen; auch drohe keine reale Gefahr der Bedrohung seines Lebens durch einen Konflikt.

7 Im Rahmen seiner Beweiswürdigung schloss sich das BVwG zunächst jener der belangten Behörde an und führte dazu seiner Ansicht nach wesentliche, zusätzliche Aspekte zu dieser an. Darüberhinaus setzte es sich, erstmals im Rahmen einer Beweiswürdigung, mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur behaupteten Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit sowie wegen einer befürchteten Blutrache auseinander. Es würden zwar Berichte über Diskriminierungen der kurdischen Volksgruppe existieren, die Ressentiments gegenüber Minderheiten würden sich aber im Wesentlichen in sogenannten Hassreden erschöpfen. Die weitverbreitete Sorge um die Unterdrückung der kurdischen Volksgruppe werde nicht verkannt, es gehe aus den Berichten aber nicht hervor, dass alevitische Kurden mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevant verfolgt würden. Das in der niederschriftlichen Befragung angedeutete Fluchtmotiv sei zwar theoretisch plausibel, praktisch jedoch „absolut unglaubhaft“. Das Vorbringen im Beschwerdeschriftsatz zu zahlreichen Übergriffen durch staatliche Behörden, zur Verfolgung aufgrund der Verhaftung eines Onkels im Rahmen seines Festes und zur Gefährdung durch Blutrache sei aktenwidrig und unsubstantiiert, lasse sich nur theoretisch mit den Länderinformationsberichten in Einklang bringen, aber weder „mit dem Verfahrensgang, noch mit den Umständen, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkte dieses Vorfalles 3 beziehungsweise 4 Jahre jung war und erst über 20 Jahre später ausreiste“. Es sei kein Grund erdenklich, weswegen der Revisionswerber vor der belangten Behörde die Unwahrheit gesagt und die in der Beschwerde vordringlich dargetane Verfolgung durch Private verschwiegen haben solle. Auch gebe es näher genannte Widersprüche des Beschwerdevorbringens zum Vorbringen vor der belangten Behörde hinsichtlich des Wohnsitzes in der Türkei und den vorgebrachten Problemen mit staatlichen Institutionen und Privatpersonen. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung führte das BVwG aus, dass der Sachverhalt durch die belangte Behörde vollständig erhoben worden sei und die nötige Aktualität aufweise. Der erkennende Richter habe sich den tragenden Erwägungen der belangten Behörde vollinhaltlich angeschlossen.

8 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die ihre Zulässigkeit zusammengefasst mit der Verletzung der Verhandlungspflicht durch das BVwG begründet und dazu fallbezogen vorbringt, dass die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA VG zur Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen wären.

9 Der Verwaltungsgerichtshof führte nach Vorlage der Verfahrensakten ein Vorverfahren durch. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet:

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

12 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFAVG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 14.3.2025, Ra 2024/14/0405, mwN).

13Schließt das BVwG sich nicht nur der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde an, sondern zeigt darüber hinaus in seiner Beweiswürdigung noch weitere bedeutsame Aspekte auf, mit welchen es die Widersprüchlichkeit des Vorbringens begründet, nimmt es damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. aus vielen erneut VwGH 14.3.2025, Ra 2024/14/0405, mwN).

14 Im vorliegenden Fall nahm das BVwG Vorbringen des Revisionswerbers, das bereits vor dem BFA erstattet, aber von diesem nicht in seiner Beweiswürdigung aufgenommen worden war, sowie das Beschwerdevorbringen zum Anlass, sich erstmals beweiswürdigend damit auseinander zu setzen und ergänzte die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung damit nicht bloß unwesentlich. Dies zeigt die Revision zutreffend auf. Sohin lagen die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung schon deshalb nicht vor.

15Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und wie hier gegebendes Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. abermals VwGH 14.3.2025, Ra 2024/14/0405, mwN).

16Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. Juli 2025