JudikaturVwGH

Ra 2024/14/0453 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
01. September 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Mag. Dr. Maurer Kober sowie die Hofrätinnen Dr. in Sembacher und Mag. Dr. Kusznier als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. in Zeitfogel, in der Revisionssache 1. der J A, 2. des A A, 3. der A A, 4. der D A, 5. des H A, 6. des H A, 7. der S A, und 8. der S A, die Minderjährigen vertreten durch die Erstrevisionswerberin, alle vertreten durch Mag. Elisabeth Peck, Rechtsanwältin in Wien, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag. Nora Huemer Stolzenburg, Rechtsanwältin in Wien, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Juni 2024, 1. W175 2272944 1/4E, 2. W175 2272933 1/2E, 3. W175 2272935 1/2E, 4. W175 2272937 1/2E, 5. W175 2272939 1/2E, 6. W175 2272941 1/2E, 7. W175 2272945 1/2E und 8. W175 22729481/2E, betreffend Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichisches Generalkonsulat Istanbul), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der (zum Teil minderjährigen) Zweit- bis Achtrevisionswerber. Die Revisionswerber sind syrische Staatsangehörige und stellten am 3. Mai 2022 schriftlich und am 2. August 2022 persönlich beim Österreichischen Generalkonsulat Istanbul (im Folgenden: belangte Behörde) Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln gemäß § 35 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Bezugsperson gaben sie den Ehemann bzw. Vater, ebenfalls ein syrischer Staatsangehöriger, an, dem mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 28. März 2019 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Österreich zuerkannt worden war.

2In einer Mitteilung gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005 gab das BFA eine negative Wahrscheinlichkeitsprognose ab und begründete dies mit dem mangelnden Nachweis der Erfüllung der Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 (als ortsüblich angesehene Unterkunft) und § 60 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 (keine finanzielle Belastung einer Gebietskörperschaft) sowie mit der fehlenden Notwendigkeit der Einreise der Revisionswerber zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK. Aufgrund des Aufenthalts in der Türkei, aber auch „aufgrund der nicht vorhandenen exponentiellen Bedrohungsgefahr in Syrien und dem Umstand, dass die Revisionswerber in Syrien sozialisiert und mit den kulturellen Gegebenheiten vertraut“ seien, sei die Einreise nach Österreich nicht dringend geboten. Die Revisionswerber könnten ihr Leben im Herkunftsstaat bzw. in der Türkei fortsetzen.

3 Mit Stellungnahme vom 20. Februar 2023 führten die Revisionswerber aus, die Bezugsperson sei nun zusätzlich geringfügig beschäftigt und verfüge nach Abzug der Wohnungskosten über ein monatliches Einkommen von € 2.820,91. Die Anmietung einer über 100 m 2großen Wohnung sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll, weil sie die Mietkosten derzeit geringhalten wolle, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Es liege weiterhin ein Familienleben zwischen der Bezugsperson und den Revisionswerbern vor, dessen Aufrechterhaltung nach Art. 8 EMRK dringend geboten sei. Die Fortsetzung des Familienlebens sei weder in Syrien noch in der Türkei möglich.

4 Nach Aufrechterhaltung der negativen Wahrscheinlichkeitsprognose durch das BFA wies die belangte Behörde die Anträge der Revisionswerber mit Bescheid vom 28. Februar 2023 ab.

5Die dagegen erhobene Beschwerde wies die belangte Behörde mit Beschwerdevorentscheidung vom 25. April 2023 ab. Begründend führte sie aus, dass eine Stattgebung im Sinne des Art. 8 EMRK nicht geboten sei, weil „keine aus Asylgründen bedingte“ Trennung der Familie vorliege. Die Bezugsperson habe keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können und habe die Trennung von der Familie somit freiwillig herbeigeführt. Eine Fortsetzung des Familienlebens sei künftig auch außerhalb Österreichs möglich.

6 Nach fristgerechtem Vorlageantrag wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 20. Juni 2024 als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

7Begründend ging das BVwG im Wesentlichen davon aus, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 nicht erfüllt seien. Die Einkünfte der Bezugsperson seien nicht ausreichend, um annehmen zu können, dass der Aufenthalt der Revisionswerber zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führe, wobei die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Nachweise aufgrund des Neuerungsverbotes im Beschwerdeverfahren gemäß § 11a Abs. 2 FPG unbeachtlich seien. Zudem verfüge die Bezugsperson über keine für eine neunköpfige Familie ortsübliche Unterkunft.

8Die Stattgebung der Anträge sei auch nicht gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten. Es sei zu berücksichtigen, dass den Revisionswerbern der Weg über § 46 NAG offen stehe, um eine Familienzusammenführung zu erreichen. Der Beurteilung des BFA könne insoweit gefolgt werden, als das Vorliegen eines berücksichtigungswürdigen Familienlebens nicht erkennbar sei und daher die Voraussetzung, wonach zur Aufrechterhaltung des Familienlebens eine Familienzusammenführung dringend geboten wäre, nicht vorliege. Auch das Kindeswohl im Zusammenhalt mit Art. 8 EMRK verbürge nicht per se ein Recht auf Einreise.

9 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision sowie Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof.

10 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit soweit für das Revisionsverfahren relevant und auf das Wesentliche zusammengefassteine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter anderem mit der Begründung vor, das BVwG habe nicht geprüft, ob das Familienleben der Revisionswerber an einem anderen Ort fortgesetzt werden könne. Es seien die Nachsichtsgründe des § 35 Abs. 4 AsylG 2005 anzuwenden gewesen und den Revisionswerbern sei trotz unvollständiger Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 1 Z 1 bis 3 AsylG 2005 die Einreise zur gebotenen Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens zu gewähren gewesen. Damit richtet sich die Revision erkennbargegen die Vertretbarkeit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK.

11 Mit Beschluss vom 6. Juni 2025, E 3003 3010/2024 26, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen das Erkenntnis des BVwG gerichteten Beschwerde ab.

12Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem von der belangten Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13Die Revision erweist sich im Hinblick auf das Vorbringen, dass das BVwG gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 hätte überprüfen müssen, ob die Erteilung eines Einreisetitels unabhängig von der Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 aus Gründen des Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall geboten ist, als zulässig und ist auch begründet.

14Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits im Erkenntnis vom 31. Mai 2021, Ra 2020/01/0284 bis 0288, auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ausgeführt, dass der Gesetzgeber auch die Familienzusammenführung für Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten nicht im Rahmen des NAG, sondern über das AsylG 2005 regeln wollte.

15Zur Interessenabwägung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 legte der Verwaltungsgerichtshof mit näherer Begründung dar, dass der Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 (im Rahmen der nach dem Gesetz vorzunehmenden Gesamtabwägung) unter anderem voraussetzt, dass eine aus den Gründen, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz an die Bezugsperson geführt haben, bedingte Trennung der Familie vorliegt, der Nachzug das einzige Mittel darstellt, um das Familienleben wiederaufzunehmen, und das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens nie in Frage stand. Nur dann liegt ein besonders gelagerter Fall im Sinne des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vor, in dem „die Stattgebung des Antrages ... gemäß § 9 Abs. 2 BFAVG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten“ ist (vgl. erneut VwGH 31.5.2021, Ra 2020/01/0284 bis 0288, Rn. 32).

16Demnach setzt eine gesamtheitliche Abwägung der im Sinne von Art. 8 EMRK maßgeblichen Interessen im Rahmen der Beurteilung der Erteilungsvoraussetzung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 hinreichende Feststellungen zum Familienleben der subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson und ihrer die Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Abs. 2 AsylG 2005 beantragenden Familienangehörigen nach Abs. 5 leg. cit. vor deren Trennung, zu den Gründen der Trennung sowie zum Kontakt zwischen Antragsteller und Bezugsperson nach der Trennung voraus (vgl. nochmals VwGH 31.5.2021, Ra 2020/01/0284 bis 0288, Rn. 35 bzw. Rn. 34 zur Berücksichtigung des Kindeswohles).

17Das BVwG verwies bei seiner Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs nach Art. 8 EMRK auf die Begründung des BFA und ging somit davon aus, dass das gemeinsame Familienleben auch außerhalb Österreichs in der Türkei oder in Syrien geführt werden könne. Da der Bezugsperson der Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt, steht im vorliegenden Fall bereits fest, dass eine Fortsetzung des Familienlebens im gemeinsamen Herkunftsland Syrien zur Zeit nicht in Betracht kommt. Die Annahme, dass das gemeinsame Familienleben in der Türkei geführt werden könne, setzt voraus, dass dies auch tatsächlich möglich ist. Dies hätte wiederum Feststellungen darüber erfordert, inwieweit die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen, insbesondere das in der Türkei geltende Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht, eine nicht nur kurzfristige Niederlassung der Bezugsperson und der Revisionswerber dort zulassen und dies auch zumutbar ist. Darüber hinaus fehlen auch die für die Interessenabwägung erforderlichen Feststellungen zum Familienleben der Bezugsperson mit den Revisionswerbern vor deren Trennung, zu den Gründen der Trennung und dem tatsächlichen Bestehen eines Familienlebens durch Kontakte nach der Trennung (vgl. wiederum VwGH 31.5.2021, Ra 2020/01/0284 bis 0288, Rn. 40 f).

18Im Revisionsfall hat das BVwG die nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vorzunehmende Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK auf Grund der Berücksichtigung der für die Revisionswerber als Familienangehörige eines subsidiär Schutzberechtigten nicht in Betracht kommenden Möglichkeit einer Familienzusammenführung nach dem NAG in unvertretbarer Weise vorgenommen.

19Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Vorbringen in der Revision eingegangen werden musste.

20Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 1. September 2025