Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des S W, vertreten durch Dr. Otto Urban, Mag. Andreas Meissner und Mag. Thomas Laherstorfer, Rechtsanwälte in 4840 Vöcklabruck, Feldgasse 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2023, G313 2253937 1/18E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Der 1971 geborene Revisionswerber, ein deutscher Staatsangehöriger, lebt seit Ende Dezember 2019 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, ebenfalls einer deutschen Staatsangehörigen, im österreichischen Bundesgebiet und ist seit Anfang 2020 durchgehend unselbständig erwerbstätig. Seit Juni 2020 verfügt er ebenso wie seine Lebensgefährtin über eine Anmeldebescheinigung.
2 Nachdem am 4. Juni 2021 eine Hausdurchsuchung von Organen der Landespolizeidirektion Oberösterreich in der Wohnung des Revisionswerbers und seiner Lebensgefährtin durchgeführt worden war, wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes Wels vom 23. September 2021 wegen des Vergehens des Verschaffens und Besitzes pornographischer Darstellungen Minderjähriger gemäß § 207a Abs. 3 zweiter Fall iVm Abs. 4 Z 1 und 3 lit. b StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von fünf Monaten rechtskräftig verurteilt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe sich von September 2020 bis Jänner 2021 vorsätzlich pornographische Darstellungen von unmündigen Personen (vor allem Oralverkehr unter Involvierung verschiedener unmündiger Mädchen) in Form eines Videozusammenschnittes durch das Anlegen eines eigenen Dropbox Accounts und durch den Zugriff auf den per Dropbox gespeicherten Videozusammenschnitt verschafft und besessen.
3 Daraufhin erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 3. März 2022 gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.
4 Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. Mai 2023 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende nach Ablehnung der Behandlung einer an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde und deren Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 19.9.2023, E 1920/2023 10) fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
6 In ihrer Zulässigkeitsbegründung wendet sich die Revision insbesondere gegen die Gefährdungsprognose des BVwG, die unter Zugrundelegung aktenwidriger Tatsachen vorgenommen worden sei. Damit erweist sich die Revision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
7 Das BVwG gründete die Gefährdungsprognose gemäß § 67 Abs. 1 FPG (tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt) auf das zur strafgerichtlichen Verurteilung vom 23. September 2021 führende Fehlverhalten des bis dahin unbescholtenen Revisionswerbers. Die Verhängung eines Aufenthaltsverbots sei notwendig, weil die Straftaten des Revisionswerbers „besonders schwerwiegende Merkmale“ aufweisen würden. Dazu führte das BVwG unter anderem aus, dass insgesamt 138.515 „einschlägige“ Videos sichergestellt worden seien. Zu seinen Ungunsten sei zu berücksichtigen, dass der Revisionswerber bei seiner Therapeutin selbst angegeben habe, bereits jahrelang Kinderpornographie konsumiert zu haben. Der Revisionswerber habe durch sein „zumindest viele Jahre andauerndes Verhalten“ bestätigt, dass er alleine nie damit aufgehört hätte und sein Fehlverhalten nur durch die Aufdeckung beendet worden sei. Nach allgemeiner Lebenserfahrung könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine derartige Neigung und die damit verbundene Gefahr nach so kurzer Zeit im Vergleich zum jahrelangen Fehlverhalten des Revisionswerbers „ab sofort“ nicht mehr bestehen werde.
8 Damit stützte das BVwG, das im Übrigen an einer Stelle unrichtig auch von der Verurteilung des Revisionswerbers zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren ausging, seine Gefährdungsprognose in tragender Weise sowohl auf aktenwidrige Annahmen als auch auf Umstände, die im Widerspruch zum festgestellten Sachverhalt stehen: So findet die Feststellung des BVwG, dass im Rahmen der Hausdurchsuchung am 4. Juni 2021 auf Datenträgern 138.515 „inkriminierende Videodateien“ sichergestellt worden seien, weder im Strafurteil noch im Verwaltungsakt ihren Niederschlag. Laut dem im Akt befindlichen Abschlussbericht der Landespolizeidirektion Oberösterreich vom 16. August 2021 hätten abgesehen von dem auf der Dropbox des Revisionswerbers gesicherten Videomaterial auf den sichergestellten Datenträgern keine Hinweise auf pornographische Darstellungen Minderjähriger festgestellt werden können. Auch die strafgerichtliche Verurteilung erfolgte wegen des Verschaffens und des Besitzes einer einzigen, wenn auch umfangreichen Videodatei. Überdies findet auch der vom BVwG mehrmals zu Lasten des Revisionswerbers hervorgehobene „jahrelange Konsum von Kinderpornographie“ in dem vom BVwG dazu ins Treffen geführten Bericht der behandelnden Psychotherapeutin keine Deckung. Entgegen den Ausführungen des BVwG wird in diesem Bericht nicht eine „seit Jahren bestehende Sucht nach kinderpornographischem Material“, sondern lediglich eine Sucht des Revisionswerbers nach pornographischem Filmmaterial (ohne Bezug zu Minderjährigen) erwähnt. Somit erweisen sich die zur Begründung der Gefährdungsprognose vom BVwG in den Vordergrund gerückte Vielzahl an Videodateien und ein jahrelanger Tatzeitraum als aktenwidrig.
9 Schließlich steht auch der Annahme des BVwG, das Fehlverhalten des Revisionswerbers sei nicht von ihm selbst, sondern nur durch die Aufdeckung der Straftaten beendet worden, die vom BVwG im angefochtenen Erkenntnis auch getroffene Feststellung entgegen, dass der Revisionswerber „die Dropbox“ schon im Jänner 2021 somit mehrere Monate vor der Hausdurchsuchung am 4. Juni 2021 „von seinem Handy entfernt“ habe. Diesen Umstand hätte das BVwG im Übrigen ebenso wie die Tatsache, dass sich die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe im unteren Bereich des Strafrahmens bewegte und auch (anders als das BVwG meint) nicht die Grenze des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erreicht in die Gefährdungsprognose einzubeziehen gehabt. Dies gilt gleichermaßen für die (freiwillige) Absolvierung einer Psychotherapie seit Mitte 2021.
10 Da folglich wesentliche, auch Aktenwidrigkeiten beinhaltende Begründungsmängel vorliegen, wurde das BVwG dem Anspruch einer das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht ziehenden Gefährdungsprognose im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht gerecht (vgl. etwa VwGH 21.12.2022, Ra 2022/21/0213, Rn. 14, mwN). Schon deshalb war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a, b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
11 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
12 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, soweit der als Schriftsatzaufwand verzeichnete Betrag den Pauschalsatz nach § 1 Z 1 lit a erster Satz der genannten Verordnung übersteigt. Die ebenfalls geltend gemachte Umsatzsteuer und der ERV Zuschlag sind in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung bereits enthalten.
Wien, am 18. Jänner 2024