Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma und die Hofrätin Dr. Reinbacher sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Finanzamtes Österreich (Dienststelle Innsbruck) in Innsbruck, Innrain 32, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 28. April 2023, RV/3100492/2022, betreffend Familienbeihilfe (mitbeteiligte Partei: G L, vertreten durch MMag. Dr. Stefan Dorner, Rechtsanwalt in Innsbruck), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich, mit dem ihr Antrag auf Gewährung von Familienbeihilfe samt Erhöhungsbetrag wegen Vorliegen einer erheblichen Behinderung abgewiesen wurde, Folge und hob diesen Bescheid auf. Es sprach weiters aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
2 Das Bundesfinanzgericht führte nach Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens und auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die Mitbeteiligte sei im Oktober 1974 geboren (habe somit im Oktober 1995 das 21. Lebensjahr vollendet) und habe im Alter von 46 Jahren den Eigenantrag auf Zuerkennung der erhöhten Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung gestellt.
3 Sie habe im Jahr 1993 die schulische Ausbildung mit Ablegung der Reifeprüfung beendet und anschließend eine berufliche Tätigkeit als Sekretärin aufgenommen, wo sie nach etwa eineinhalb Jahren (Mitte 1995) wegen psychischer Probleme (mit der Folge von Unkonzentriertheit, Fehleranfälligkeit, Schlafstörungen, mangelnder sozialer Kontaktfähigkeit) gekündigt worden sei.
4 In der Folge sei die Mitbeteiligte für etwa zwei Jahre in Paris bei verschiedenen Gastfamilien als „Au pair“ tätig gewesen, wo sie daneben Sprachkurse absolviert und Prüfungen abgelegt habe. Die dort beabsichtigte Ausbildung in einem Wirtschaftsberuf habe aufgrund anhaltender psychischer Beeinträchtigung nicht abgeschlossen werden können, weshalb sie im Herbst 1997 nach Österreich zurückgekehrt sei. Weitere Arbeitsversuche seien fehlgeschlagen.
5 Ab Juni 1998 sei die Mitbeteiligte wegen ihrer gesundheitlichen Probleme in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung gewesen und im Juni 2000 sei der erste von rund 15 voll und teilstationären Aufenthalten mit psychiatrischer Behandlung samt antipsychotischer Medikation erfolgt.
6 Im September 2012 sei für die Mitbeteiligte mit Gerichtsbeschluss ein (damals) Sachwalter (nunmehr Erwachsenenvertreter) bestellt worden. Sie sei in den Jahren 2011 und 2012 für mehrere Monate obdachlos gewesen und ab Oktober 2012 bis Dezember 2017 in verschiedenen sozialen Betreuungseinrichtungen untergebracht worden. Seit März 2020 werde sie an ihrem Wohnsitz bei der Lebensführung mehrere Stunden pro Woche sozialpsychiatrisch durch eine näher genannte Einrichtung betreut. Sie befinde sich mittlerweile in Pension und beziehe eine Berufsunfähigkeitspension.
7 In beiden jeweils durch einen Facharzt für Psychiatrie nach Untersuchung erstellten Gutachten des Sozialministeriumservice (vom 1. August 2021 und vom 25. Jänner 2022) werde im Rahmen der Anamnesen zunächst ausdrücklich festgehalten, dass bei der Mitbeteiligten bereits im Jugendalter erste psychiatrische Auffälligkeiten mit sozialem Rückzug, Schlafproblemen und depressiver Symptomatik aufgetreten seien, und werde im Ergebnis das Vorliegen einer „Paranoiden Schizophrenie“ samt einem Grad der Behinderung im Ausmaß von 70 % und die dauernde Erwerbsunfähigkeit bescheinigt.
8 Im Zweitgutachten habe der Sachverständige auf Grundlage des neu vorgelegten Befundes bzw. der Bestätigung des behandelnden Psychiaters (die Mitbeteiligte sei dort von Juni 1998 bis Mai 2000 in Behandlung gewesen) den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit bei der Mitbeteiligten ausdrücklich „spätestens ab Juni 1998“ festgestellt.
9 Laut eigenen Angaben (der Mitbeteiligten) seien für den Zeitraum vor Oktober 1995 keine Unterlagen, Befunde o.ä. mehr vorhanden bzw. seien diese mittlerweile vernichtet worden.
10 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, in beiden Sachverständigengutachten werde offenkundig davon ausgegangen, dass bei der Mitbeteiligten bereits seit Jugendalter eine psychische Erkrankung mit vielfältigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgelegen sei, die sich letztlich chronifiziert und als „Paranoide Schizophrenie“ manifestiert habe.
11 Im „letztgültigen“ Zweitgutachten sei anhand des nunmehr vorliegenden Befundes eines näher genannten Psychiaters, der die Mitbeteiligte langjährig behandelt habe, ein Grad der Behinderung von 70 % sowie der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit spätestens ab Juni 1998 attestiert worden. Zu dieser Zeit sei die Mitbeteiligte 23 Jahre alt gewesen.
12 Nach der näher genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes könne die Feststellung des tatsächlichen Eintritts der Erwerbsunfähigkeit immer nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen. Mangels Befunden vor einem bestimmten Zeitraum sei es dem Gutachter an sich nicht möglich, davor die Erwerbsunfähigkeit festzustellen.
13 Dem Gutachter des Sozialministeriumservice sei es zwar gegenständlich mangels noch vorhandener Befunde o.ä. aus dieser Zeit verwehrt gewesen, für den Zeitraum vor Oktober 1995 (somit vor vollendetem 21. Lebensjahr) eine bereits dazumal eingetretene Erwerbsunfähigkeit der Mitbeteiligten festzustellen. Zugleich sei es aber nicht zu übersehen, dass er den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mit „spätestens“ ab Juni 1998 samt einem zu diesem Zeitpunkt bereits eher hohen Grad der Behinderung von 70 % bescheinigt habe. Dabei gelte neben der bereits seit Jugendalter attestierten psychischen Erkrankung wohl auch zu beachten, dass das Alter der Mitbeteiligten von 23 Jahren im Juni 1998 zeitlich relativ nahe zur gesetzlich maßgeblichen Vollendung des 21. Lebensjahres gelegen sei.
14 Nach Ansicht des Bundesfinanzgerichtes könne hier im Einzelfall unter Bedachtnahme auf alle obgenannten Umstände und dabei insbesondere auf die Aussage des Gutachters, die Erwerbsunfähigkeit sei spätestens mit Juni 1998 eingetreten, wohl mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Erwerbsunfähigkeit schon vor dem vollendeten 21. Lebensjahr der Mitbeteiligten vorgelegen gewesen sei.
15 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die das Bundesfinanzgericht unter Anschluss der Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt hat.
16 In der Zulässigkeitsbegründung wendet sich das revisionswerbende Finanzamt im Ergebnis gegen die Beweiswürdigung des Bundesfinanzgerichtes und macht Begründungsmängel sowie einen Verstoß gegen die Bindungswirkung des Sachverständigengutachtens geltend.
17Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem von der Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
18 Die Revision ist zulässig und begründet.
19 Strittig ist im vorliegenden Fall lediglich die Frage, ob die MitbeteiligteiSd § 6 Abs. 1 und Abs. 2 lit. d sowie Abs. 5 iVm § 2 Abs. 1 lit. c FLAG bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres aufgrund einer Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande war, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
20 Bei der Antwort auf diese Frage ob eine solche körperliche oder geistige Behinderung, die zur (dauernden) Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, führt, vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder allenfalls während einer Berufsausbildung vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetreten istsind die Abgabenbehörde und das Bundesfinanzgericht nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes an die der Bescheinigung des Sozialministeriumservice zugrunde liegenden Gutachten (§ 8 Abs. 6 FLAG) gebunden und dürfen diese nur insoweit prüfen, ob sie schlüssig und vollständig sind und im Falle mehrerer Gutachten nicht einander widersprechen (vgl. etwa VwGH 17.12.2024, Ra 2024/16/0034, mwN).
21In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof auch bereits mehrfach ausgesprochen, dass eine zu einer (dauernden) Erwerbsunfähigkeit führende geistige oder körperliche Behinderung Folge einer Krankheit sein kann, die schon seit längerem vorliegt. Erst wenn diese Krankheit zu einer derart erheblichen Behinderung führt, welche die (dauernde) Erwerbsunfähigkeit bewirkt, ist der Tatbestand des § 2 Abs. 1 lit. c FLAG erfüllt. Mithin kommt es weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend)einer Behinderung führt (vgl. dazu VwGH 5.4.2011, 2010/16/0220, wonach die Beurteilung, ob eine Person voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, nicht anhand des Grades der Behinderung vorzunehmen ist). Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem diejenige Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die (dauernde) Erwerbsunfähigkeit bewirkt (vgl. zur ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 28.4.2021, Ra 2018/16/0022, mwN).
22 Ist der Sachverständige wie im vorliegenden Fall, insbesondere wegen des lange zurückliegenden Zeitraums und fehlender Befunde aus dieser Zeitnicht in der Lage, im Gutachten eine Feststellung darüber zu treffen, wann die (dauernde) Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist bzw. ob sie vor Vollendung des 21. Lebensjahres der untersuchten Person eingetreten ist (vgl. zu einem derartigen Fall etwa VwGH 29.6.1999, 99/14/0057; vgl. auch VwGH 27.9.2012, 2010/16/0261), ist es dem Bundesfinanzgericht aufgrund der Bindungswirkung des Gutachtens verwehrt, diese Feststellung auf Grundlage eigener beweiswürdigender Erwägungen - selbst unter Bezugnahme auf die Krankengeschichte der betroffenen Person - zu treffen (vgl. zur Frage des „Wahrscheinlichkeitsmaßstabes“ bei Feststellung des Zeitpunktes des Eintritts der dauernden Erwerbsunfähigkeit VwGH 30.3.2017, Ra 2017/16/0023, mwN).
23 Im vorliegenden Revisionsfall wurde im ersten erstellten Gutachten vom 1. August 2021 eine dauernde Erwerbsunfähigkeit „frühestens“ mit Juni 2000 festgestellt. Im zweiten Gutachten vom 25. Jänner 2022 hat der Sachverständige aufgrund neu vorgelegter Befunde des damals behandelnden Arztes aus dem Zeitraum Juni 1998 bis Mai 2000 das Eintreten der dauerhaften Erwerbsunfähigkeit an mehreren Stellen des Gutachtens ab Juni 1998 festgestellt. In einer abschließenden Anmerkung hat er ausgeführt, die neu vorgelegten Befunde würden dafür sprechen, dass die Erwerbsunfähigkeit spätestens ab Juni 1998 vorgelegen sei.
24 Diese Feststellung hat das Bundesfinanzgericht im Ergebnis zutreffend dahingehend gedeutet, dass im Gutachten das Vorliegen der dauernden Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres der Mitbeteiligten nicht festgestellt wurde. Indem das Bundesfinanzgericht dennochauf Grundlage eigener beweiswürdigender Erwägungen und ohne allenfalls eine Ergänzung des Gutachtens zu veranlassen (vgl. VwGH 30.5.2017, Ro 2017/16/0009) die Feststellung getroffen hat, dass „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ davon ausgegangen werden könne, die dauernde Erwerbsunfähigkeit sei schon vor dem vollendeten 21. Lebensjahr der Mitbeteiligten eingetreten, hat es die Bindungswirkung des der Bescheinigung des Sozialministeriumservice zugrunde liegenden Gutachtens verkannt.
25Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
Wien, am 28. August 2025