Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Novak, Senatspräsident MMag. Maislinger, die Hofrätin Dr. in Lachmayer, den Hofrat Dr. Bodis und die Hofrätin Dr. in Wiesinger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., MA, über die Revision des Finanzamts Österreich gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 27. Jänner 2023, Zl. RV/7100930/2021, betreffend u.a. Umsatzsteuer 2019 (mitbeteiligte Partei: P, vertreten durch die LBG Burgenland Steuerberatung GmbH in Mattersburg), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Umsatzsteuer 2019) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Mit Bescheid vom 18. Jänner 2021 setzte das Finanzamt die Umsatzsteuer für das Jahr 2019 fest. In der Begründung wurde ausgeführt, die mitbeteiligte Partei (eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung) habe Erlöse aus Eintritten zu Indoor Spielplätzen mit 20% versteuert; die Umsatzsteuer sei auf den mit der Registrierkasse erstellten Belegen ausgewiesen. Eine nachträglich für das Jahr 2019 vorgenommene Berichtigung des Umsatzsteuersatzes von 20% auf 10% sei nicht zulässig, weil weder die Rechnungen berichtigt noch die aus der Umsatzsteuerdifferenz entstehenden Gutschriften an die Kunden des Unternehmens weitergeleitet werden könnten. Die Umsatzsteuer von 20% sei daher aufgrund der Rechnungslegung und auch aufgrund der unberechtigten Bereicherung nach § 239a BAO vorzuschreiben.
2 Die mitbeteiligte Partei erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Sie machte geltend, die Leistungen seien „praktisch ausschließlich“ an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Privatpersonen erbracht worden. Eine Gefährdung des Steueraufkommens sei somit auszuschließen. Damit sei eine formale Rechnungskorrektur samt Übermittlung der Korrektur an den Rechnungsempfänger nicht erforderlich.
3 Das Finanzamt legte die Beschwerde wie darin beantragt ohne Beschwerdevorentscheidung dem Bundesfinanzgericht vor.
4 Mit Beschluss vom 21. Juni 2021 richtete das Bundesfinanzgericht ein Ersuchen um Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Union.
5 Mit Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) , C 378/21, sprach der Gerichtshof der Europäischen Union aus:
„Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates vom 27. Juni 2016 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Dienstleistung erbracht hat und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, nach dieser Bestimmung den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, wenn keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt, weil diese Dienstleistung ausschließlich an Endverbraucher erbracht wurde, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind.“
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis änderte das Bundesfinanzgericht den Umsatzsteuerbescheid 2019 ab. Es sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig sei.
7 Nach Schilderung des Verfahrensgeschehens führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, die mitbeteiligte Partei betreibe einen Indoor Freizeitpark. Sie habe die Eintrittsgelder im Jahr 2019 dem Normalsteuersatz von 20% unterzogen. Die mitbeteiligte Partei habe ihre Umsatzsteuererklärung korrigiert, weil auf die Eintrittsgelder der ermäßigte Steuersatz von 13% anzuwenden sei. Die von der mitbeteiligten Partei ausgestellten Registrierkassenbelege seien Kleinbetragsrechnungen gemäß § 11 Abs. 6 UStG 1994. Abseits einer Schätzung in Höhe von 0,5% des auf den Indoor Freizeitpark entfallenden Umsatzes liege keine Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens vor. Die mitbeteiligte Partei habe sich „unmittelbar auf Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG berufen“.
8 Dass grundsätzlich keine Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens vorliege, ergebe sich aus der Erklärung des Geschäftsführers der mitbeteiligten Partei, wonach im Jahr 2019 die Abnehmer der Leistungen der mitbeteiligten Partei lediglich nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Endverbraucher seien. Es habe weder Reise noch Besorgungsleistungen gegeben. Die Gefährdung des Steueraufkommens entstehe lediglich durch das Recht auf Vorsteuerabzug der Leistungsempfänger. Da nicht vollkommen ausgeschlossen sei, dass Kunden der mitbeteiligten Partei (zu Recht oder zu Unrecht) einen Vorsteuerabzug aus den Rechnungen vorgenommen hätten, sei eine Schätzung vorzunehmen. Aufgrund der überragenden Wahrscheinlichkeit, dass die Leistungen der mitbeteiligten Partei für den privaten Gebrauch des Kunden erbracht worden seien, schätze das Bundesfinanzgericht 0,5% des Umsatzes, für den eine Steuerschuld kraft Rechnungslegung bestehe. Das betreffe, bezogen auf die ausgestellten Belege (insgesamt 22.557 Rechnungen), etwa 112 Rechnungen, aus denen (zu Recht oder zu Unrecht) ein Vorsteuerabzug vorgenommen worden sei.
9 Die Tätigkeit der mitbeteiligten Partei unterliege gemäß § 10 Abs. 3 Z 8 UStG 1994 dem ermäßigten Steuersatz von 13%.
10 Die Leistungen der mitbeteiligten Partei seien „(fast) ausschließlich“ von Kunden in Anspruch genommen worden, die als Endverbraucher keinen Vorsteuerabzug geltend machen könnten. Damit liege kein Anwendungsfall des Art. 203 der Richtlinie 2006/112 vor. § 11 Abs. 12 UStG 1994 sei richtlinienkonform dahin eingeschränkt zu interpretieren, dass diese Bestimmung nur im Falle der Gefährdung des Steueraufkommens anwendbar sei. Weiters sei Art. 203 der Richtlinie auch unmittelbar anwendbar; die mitbeteiligte Partei habe sich (vorsichtshalber) auch auf diese Bestimmung berufen. Damit sei der Umsatzsteuerbescheid zu Gunsten der mitbeteiligten Partei abzuändern. Im Lichte der Feststellungen seien 0,5% der Umsätze, die auf den Indoor Freizeitpark entfielen, als Grundlage für eine Steuerschuld kraft Rechnungslegung anzusetzen.
11 Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu fehle, ob eine Steuerschuld kraft Rechnungslegung entstehe, selbst wenn eine Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen sei. Auch sei die Revision zulässig, weil unklar sei, ob § 11 Abs. 12 UStG 1994 eingeschränkt richtlinienkonform interpretierbar sei; die Rechtsprechung sei insoweit uneinheitlich (Hinweis auf VwGH Ro 2019/19/0006 einerseits und VwGH Ro 2017/13/0015 anderseits).
12 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision des Finanzamts.
13 Die mitbeteiligte Partei hat eine Revisionsbeantwortung eingebracht.
14 Mit Beschluss vom 14. Dezember 2023, EU 2023/0009, legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vor.
15 Mit Urteil vom 1. August 2025, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer II) , C 794/23, hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden:
„1. Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom 16. November 2018 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Leistung erbracht und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, den einem Nichtsteuerpflichtigen zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, selbst wenn er gleichartige Leistungen auch an andere Steuerpflichtige erbracht hat.
2. Die Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2018/1695 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass nur nicht steuerpflichtige Personen als ‚Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind‘, im Sinne des Urteils vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C 378/21, EU:C:2022:968), einzustufen sind. Somit fallen Steuerpflichtige, die in einer bestimmten Situation nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, nicht unter diese Wendung.
3. Die Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2018/1695 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegensteht, dass im Fall einer vereinfachten Rechnungslegung gemäß Art. 238 der Richtlinie 2006/112 in geänderter Fassung eine Steuerbehörde oder ein nationales Gericht durch Schätzung ermittelt, für welchen Anteil der Rechnungen ein Steuerpflichtiger, der zu Unrecht Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, diese Steuer nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 in geänderter Fassung schuldet, sofern bei einer solchen Schätzung alle relevanten Umstände berücksichtigt werden und der Steuerpflichtige unter Beachtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Verteidigungsrechte die Möglichkeit hat, die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse in Frage zu stellen.“
16 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
17 Die Revision ist zulässig und im Ergebnis begründet.
18 Hat ein Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen Steuerbetrag, den er nach diesem Bundesgesetz für den Umsatz nicht schuldet, gesondert ausgewiesen, so schuldet er gemäß § 11 Abs. 12 UStG 1994 (in der hier anwendbaren Fassung vor BGBl. I Nr. 110/2023) diesen Betrag auf Grund der Rechnung, wenn er sie nicht gegenüber dem Abnehmer der Lieferung oder dem Empfänger der sonstigen Leistung entsprechend berichtigt. Im Falle der Berichtigung gilt § 16 Abs. 1 UStG 1994 sinngemäß.
19 Unionsrechtliche Grundlage dieser Bestimmung ist (nunmehr) Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG (vgl. Ruppe/Achatz , UStG 6 , § 11 Tz 116/1). Demnach wird die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist. Diese Bestimmung ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Leistung erbracht und in seiner Rechnung (auch entsprechend einer vereinfachten Rechnungslegung nach Art. 238 der Richtlinie 2006/112/EG) einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, den einem Nichtsteuerpflichtigen zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, selbst wenn er gleichartige Leistungen auch an andere Steuerpflichtige erbracht hat. Es ist demnach entgegen dem Standpunkt des revisionswerbenden Finanzamts auf der Grundlage jeder konkreten Rechnung zu beurteilen, ob eine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt (vgl. EuGH 1.8.2025, C 794/23, Rn. 38). Eine „Infektionswirkung“ (vgl. dazu die Schlussanträge der Generalanwältin, 19.12.2024, C 794/23, Rn. 30 f; sowie bereits die Schlussanträge der Generalanwältin, 8.9.2022, C 378/21, Rn. 40) von Rechnungen, die an Steuerpflichtige gerichtet sind, auf Rechnungen, die an Nichtsteuerpflichtige gerichtet sind, liegt nicht vor.
20 Es kann hier offenbleiben, ob § 11 Abs. 12 UStG 1994 richtlinienkonform auslegbar ist. Die mitbeteiligte Partei hat sich (auch) auf die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinienbestimmung, also auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form berufen (vgl. dazu EuGH 11.4.2013, Rusedespred , C 138/12, Rn. 40); die unmittelbare Anwendbarkeit dieser Bestimmung wird in der Revision (zu Recht) nicht bestritten. Es sei aber darauf hingewiesen, dass entgegen der Behauptung des Bundesfinanzgerichts keineswegs eine uneinheitliche Rechtsprechung zur Frage der richtlinienkonformen Interpretation vorliegt. Es entspricht vielmehr der einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine richtlinienkonforme (unionsrechtskonforme) Interpretation nur dann möglich ist, wenn sich das unionsrechtlich gebotene Interpretationsergebnis bei Auslegung des nationalen Rechts nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln erzielen lässt. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, kann aber nur für die jeweilige konkrete Regelung beantwortet werden. Daraus, dass der Verwaltungsgerichtshof einerseits zum Ergebnis gelangte, dass § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht richtlinienkonform auslegbar ist (vgl. VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006), anderseits aber darlegte, dass § 6 Abs. 1 Z 19 UStG 1994 (idF vor dem Abgabenänderungsgesetz 2012, BGBl. I Nr. 112) „bis zu einem gewissen Grad“ richtlinienkonform auslegbar ist (vgl. VwGH 13.9.2017, Ro 2017/13/0015), kann daher nicht abgeleitet werden, dass eine uneinheitliche Rechtsprechung vorläge.
21 Dass die mitbeteiligte Partei ihre Leistungen (in einem geringen Ausmaß) auch an Steuerpflichtige erbracht hat, steht somit dem nicht entgegen, dass die mitbeteiligte Partei den an Nichtsteuerpflichtige zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet.
22 Soweit das Verwaltungsgericht die Grundlagen für die Abgabenerhebung nicht ermitteln oder berechnen kann, hat sie diese gemäß § 269 Abs. 1 BAO iVm § 184 Abs. 1 BAO zu schätzen. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Das Unionsrecht steht einer derartigen Schätzung in der vorliegenden Fallkonstellation nicht entgegen.
23 Eine Gefährdung des Steueraufkommens liegt vor, wenn der Empfänger einer fehlerhaften Rechnung (mehrwert)steuerpflichtig ist, und zwar selbst dann, wenn dieser Empfänger die betreffende Leistung möglicherweise für private Zwecke oder für sonstige nicht zum Vorsteuerabzug berechtigende Zwecke in Anspruch nimmt (vgl. EuGH C 794/23, Rn. 30 f). Die Schätzung des Bundesfinanzgerichts zur Ermittlung des Anteils der Rechnungen, bei denen eine derartige Gefährdung durch Geltendmachung eines (im Hinblick auf den unzutreffend verzeichneten Steuersatz) überhöhten Vorsteuerabzugs besteht, basiert aber offenkundig auf der Überlegung, zu welchem Anteil Leistungen für den (nicht )privaten Gebrauch von Kunden erbracht wurden. Entscheidend ist hingegen, zu welchem Anteil Leistungen an Unternehmer („Steuerpflichtige“, auch für deren private oder für sonstige nicht zum Vorsteuerabzug berechtigende Zwecke) erbracht wurden.
24 Da die Schätzung des Bundesfinanzgerichts insoweit auf einer unrichtigen Rechtsansicht basierte, war das angefochtene Erkenntnis im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 30. September 2025