JudikaturVwGH

Ra 2023/21/0089 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
12. Juni 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätinnen Dr. Wiesinger und Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des M G, vertreten durch Mag. Alexander Fuchs, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Lüfteneggerstraße 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27. April 2023, G316 2263949 1/21E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der 1994 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, hält sich seit seiner Geburt in Österreich durchgehend rechtmäßig hier auf, zuletzt aufgrund des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“. Der Revisionswerber wuchs bei einer Pflegefamilie auf, spricht kein Bosnisch und war noch nie in Bosnien und Herzegowina. Seine leibliche Schwester und sein Stiefbruder, bei denen der Revisionswerber tageweise wohnt, leben im Bundesgebiet. Der suchtmittelabhängige Revisionswerber, der über einen Lehrabschluss als Drechsler verfügt, ist Vater eines in Österreich bei der Kindesmutter lebenden, 2015 geborenen minderjährigen Sohnes, den er jedoch erst einmal getroffen hat; eine Intensivierung des Kontaktes ist aber für die Zeit nach Absolvierung einer Drogentherapie geplant.

2 Der Revisionswerber wurde beginnend im Jahr 2010 zunächst als Jugendlicher und junger Erwachsener, später als Erwachsener wegen zahlreicher Vergehen insbesondere Sachbeschädigung, (versuchter) Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, gefährlicher Drohung, Nötigung und unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften sowie wegen der Verbrechen des Widerstands gegen die Staatsgewalt und des Suchtgifthandels insgesamt elf Mal, davon einmal zu einer Zusatzstrafe, erstmals im September 2016, dann im Mai 2020 und September 2022 zu unbedingten Freiheitsstrafen, zuletzt im Ausmaß von zwei Jahren, verurteilt.

3 Wegen dieser Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 21. Oktober 2022 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach „Bosnien“ zulässig sei, und gewährte ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

4 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. April 2023 insoweit statt, als es die Dauer des Einreiseverbots auf zwei Jahre herabsetzte. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

6 Die Revision erweist sich wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

7 Das BVwG hat nämlich wie die Revision im Ergebnis zutreffend geltend macht dem Umstand, dass der Revisionswerber von klein auf in Österreich aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist und dass er überhaupt keine Bindungen zu seinem Herkunftsstaat aufweist und die bosnische Sprache nicht beherrscht, bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht die gebotene Bedeutung zugemessen.

8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA VG zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist nämlich (u.a.) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, wenn dadurch in das Privat oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Das gilt auch für das nur bei gleichzeitiger Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässige Einreiseverbot nach § 53 FPG (vgl. dazu etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, Rn. 11, mwN).

9 Im Rahmen der so gebotenen Interessenabwägung kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA VG) auch der Frage Bedeutung zukommen, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in diesen Staat eine Existenzgrundlage schaffen kann (vgl. etwa VwGH 17.4.2020, Ra 2019/21/0188, Rn. 15, mwN).

10 Das BVwG hat zwar den persönlichen Interessen des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet im Hinblick auf seine lange Aufenthaltsdauer ein „sehr großes Gewicht“ zugestanden, allerdings nicht erkennbar alle wesentlichen Ermittlungsergebnisse einbezogen. Der in Österreich geborene und bei einer Pflegefamilie aufgewachsene, suchtkranke Revisionswerber hat nämlich Bosnien und Herzegowina noch nie besucht, verfügt dort über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte und spricht auch kein Bosnisch. Hinzu kommt, dass nach den vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen die Sozialhilfe oftmals nicht ausgezahlt werden könne und 20 % der Bevölkerung in absoluter Armut lebe. Angesichts dessen hätte sich das BVwG nach der erwähnten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes fallbezogen näher mit der Frage befassen müssen, ob sich der Revisionswerber bei einer „Rückkehr“ nach Bosnien und Herzegowina eine Existenzgrundlage schaffen kann. Die vom BVwG in diesem Zusammenhang in den Raum gestellte Überlegung, ein in Österreich lebender bosnischer Freund des Revisionswerbers, der die bosnische Sprache beherrsche und aus der Nähe „des Herkunftsdorfes“ des Revisionswerbers komme, könne ihn bei der Rückkehr unterstützen, wird dem nicht gerecht und erscheint bloß spekulativ.

11 Im Übrigen ist die Interessenabwägung des BVwG aber auch in Bezug auf die Annahme, vom Revisionswerber gehe aufgrund seiner Straffälligkeit eine das Einreiseverbot trotz der Geburt in Österreich rechtfertigende spezifische Gefährdung aus, mangelhaft begründet.

12 Der Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG normierte nämlich bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der in Österreich von klein auf aufgewachsen und langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 30.11.2023, Ra 2022/21/0133, Rn. 18/19, mwN).

13 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste also angesichts der Geburt des Revisionswerbers in Österreich eine spezifische Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten von ihm ausgehen, die im Einzelfall trotz seines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts und der damit verbundenen Integration, insbesondere der persönlichen und familiären Bindungen in Österreich, und fallbezogenüberdies trotz der zur Gänze fehlenden Anknüpfungspunkte im „Herkunftsstaat“ dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFA VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist (vgl. idS VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 12 iVm Rn. 11).

14 Das BVwG referierte zwar die in Rn. 12/13 erwähnte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Berufung auf zahlreiche Judikate und ging in der Folge davon aus, die vom Revisionswerber verübten einzelnen Taten erreichten zwar für sich nicht die Schwelle der „besonders verwerflichen Straftaten“, jedoch seien sie im Hinblick auf ihre Quantität in ihrer Gesamtheit als derartige Straftaten zu qualifizieren. Das ist insbesondere bei der hier gegebenen zweimaligen Begehung auch des Verbrechens des Suchtgifthandels in Verbindung mit den übrigen Delikten nicht auszuschließen, hätte aber eine eingehendere Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles erfordert.

15 In diesem Zusammenhang hätte das BVwG zugunsten des Revisionswerbers zunächst berücksichtigen müssen, dass die ersten vier Verurteilungen wegen Jugendstraftaten bzw. Straftaten als junger Erwachsener erfolgten und zum Teil schon mehr als zehn Jahre zurücklagen. Dass die beiden letzten gravierenden Delikte des Suchtgifthandels auf die Drogenabhängigkeit des Revisionswerbers zurückzuführen sind, erkannte dann auch das BVwG, es erblickte aber wegen seines „immer wieder“ raschen Rückfalls und der Tatbegehung während offener Probezeiten keine Erfolgsaussichten auf eine „nachhaltige Drogenentwöhnung“ des Revisionswerbers. Dabei ließ es aber außer Acht, dass ihm in Bezug auf die letzte und schwerwiegendste strafgerichtliche Verurteilung ein Strafaufschub nach § 39 SMG gewährt wurde (vgl. VwGH 25.10.2023, Ra 2021/21/0296, Rn. 15), wobei das BVwG auch (vorläufige) Ergebnisse der Suchtentwöhnungstherapie einzubeziehen gehabt hätte (vgl. zu diesem Gesichtspunkt ergänzend VwGH 30.11.2023, Ra 2021/21/0111, Rn. 12). Im Übrigen war es auch unschlüssig, dass das BVwG in diesem Zusammenhang zu Lasten des Revisionswerbers offenbar nur wegen der durch den bloßen Wechsel der Therapieeinrichtung bedingten kurzfristigen Unterbrechung des stationären Aufenthalts vom Vorliegen „bislang erfolgloser Therapieversuche“ ausging.

16 Aufgrund der genannten Begründungsmängel war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 12. Juni 2025

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