JudikaturVwGH

Ro 2022/21/0003 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
21. März 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revisionen 1. der S F, und 2. des S F, beide vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Bruno Marek Allee 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Februar 2022, W251 2225799 1/22E und W251 2225798 1/43E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerber sind afghanische Staatsangehörige, die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des volljährigen Zweitrevisionswerbers.

2 Nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet stellten die Revisionswerber am 24. Juni 2015 jeweils Anträge auf internationalen Schutz, die im Beschwerdeweg mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 3. April 2018 jeweils rechtskräftig abgewiesen wurden.

3 Die zweiten Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz vom 7. August 2018 wurden mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 9. Jänner 2019 jeweils wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde den Revisionswerbern (von Amts wegen) nicht erteilt. Weiters wurde gegen die Revisionswerber jeweils gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerber nach Afghanistan zulässig sei. Gegen diese Bescheide erhobene Beschwerden der Revisionswerber wies das BVwG mit Erkenntnissen vom 4. bzw. 12. Februar 2019 als unbegründet ab.

4 Anfang April 2019 reisten die Revisionswerber nach Deutschland. Am 13. August 2019 stellten sie nach ihrer Rücküberstellung nach Österreich jeweils einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz.

5 In der Folge wurde mit mündlich verkündeten Bescheiden des BFA vom 5. September 2019 jeweils der faktische Abschiebeschutz für die Revisionswerber gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben. Ebenfalls am 5. September 2019 wurde über die Revisionswerber jeweils gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG mit Mandatsbescheiden des BFA die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung verhängt.

6 Am 6. September 2019 legte das BFA die Akten zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes dem BVwG vor. Mit Beschluss vom 10. September 2019 stellte das BVwG deren Rechtmäßigkeit fest.

7 Am 9. Oktober 2019 wurde für die Revisionswerber jeweils ein EU Laissez Passer ausgestellt, die Abschiebungen wurden für den 16. Oktober 2019 in Aussicht genommen. Nachdem die afghanischen Behörden dem BFA am 15. Oktober 2019 mitgeteilt hatten, dass den Revisionswerbern die Einreise nach Afghanistan nicht gewährt werde, um diese nicht von der in Österreich lebenden volljährigen Tochter der Erstrevisionswerberin und Schwester des Zweitrevisionswerbers zu trennen, wurden die Revisionswerber noch am selben Tag unter Anordnung eines gelinderen Mittels aus der Schubhaft entlassen.

8 Am 25. November 2019 erhoben die Revisionswerber Beschwerden gegen die Bescheide vom 5. September 2019 sowie die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. Februar 2022 wies das BVwG diese Beschwerden ab, es erklärte die Anhaltung der Revisionswerber in Schubhaft von 5. September 2019 bis 15. Oktober 2019 für rechtmäßig und traf entsprechende Kostenentscheidungen.

9 In seiner Entscheidungsbegründung kam das BVwG mit jeweils näherer Begründung zu dem Ergebnis, dass die Revisionswerber haftfähig gewesen seien, Fluchtgefahr sowie ein Sicherungsbedarf bestanden habe und es bejahte die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft. Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung ging das BVwG davon aus, die Verhängung der Schubhaft über die Revisionswerber habe entgegen dem Vorbringen in den Beschwerden auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt werden dürfen. Zwar stehe ein Bleiberecht aufgrund eines Antrages auf internationalen Schutz einer Schubhaft auf Basis von Art. 15 der Richtlinie 2008/15 (Rückführungs RL) und damit auf Grundlage von § 76 Abs. 2 Z 2 FPG entgegen. Allerdings räume Art. 41 der Richtlinie 2013/32 (Verfahrens RL) den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, Ausnahmen vom Bleiberecht bei Folgeanträgen vorzusehen. Bei ersten Folgeanträgen sei dies im Einklang mit Art. 41 Abs. 1 lit. a der Verfahrens RL nur bei Bestehen von „Missbrauchsabsicht“ zulässig. Art. 41 Abs. 1 lit. b der Verfahrens RL sehe jedoch vor, dass aufgrund nationaler Bestimmungen das Bleiberecht ausgeschlossen werden könne, wenn nach einem als unbegründet oder unzulässig abgelehnten Folgeantrag ein weiterer Folgeantrag gestellt werde. Fallbezogen hätte es sich bei den Anträgen auf internationalen Schutz vom 13. August 2019 in Österreich bereits um den jeweils zweiten Folgeantrag der Revisionswerber gehandelt. Deshalb sei die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes durch das BFA und somit ein Verlust des Bleiberechts unabhängig davon, dass die „offenkundig vorliegende Missbrauchsabsicht“ nicht explizit im Schubhaftbescheid festgestellt worden sei im Einklang mit der Rückführungs RL und der Verfahrens RL vorgenommen worden. Es sei davon auszugehen, dass den Revisionswerbern trotz ihres zweiten Folgeantrages auf internationalen Schutz aufgrund der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durch das BFA kein Bleiberecht mehr zugekommen sei, weshalb die Schubhaft richtigerweise auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt habe werden können.

10 Die im angefochtenen Erkenntnis gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ausgesprochene Zulässigkeit der (ordentlichen) Revision begründete das BVwG in erster Linie damit, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage fehle, ob einem Drittstaatsangehörigen bei einem zweiten Folgeantrag und einer Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a AsylG 2005 durch das BFA kein Bleiberecht mehr zukomme und die Schubhaft daher wirksam aufgrund von § 76 Abs. 2 Z 2 FPG angeordnet werden könne.

11 Gegen dieses Erkenntnis richten sich die vorliegenden ordentlichen Revisionen, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Verbindung der Revisionssachen zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung erwogen hat:

12 Zur Begründung der Zulässigkeit ihrer Revisionen verweisen die Revisionswerber insbesondere auf die wiedergegebene Zulassungsbegründung des BVwG. Damit erweisen sich die vorliegenden ordentlichen Revisionen als zulässig; sie sind auch berechtigt.

13 Das BVwG legte dem angefochtenen Erkenntnis die Annahme zu Grunde, den Revisionswerbern sei schon aufgrund der Entscheidung des BFA vom 5. September 2019 über die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes kein Bleiberecht mehr zugekommen, weshalb die Schubhaftverhängung rechtsrichtig auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützt habe werden können. Das setzte am Maßstab der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0177, Rn. 11/12) voraus, dass die Revisionswerber bereits unter das Regime der Rückführungs RL fielen und nicht mehr jenem der RL 2013/33 (Aufnahme RL) unterlagen; sonst hätten nur die für Asylwerber geltenden Schubhafttatbestände nach § 76 Abs. 2 Z 1 oder 3 FPG herangezogen werden dürfen, die aber fallbezogen von vornherein nicht in Betracht gekommen wären. Maßgebliches Abgrenzungskriterium hierfür ist, ob den Revisionswerbern im Zeitpunkt der Schubhaftverhängung noch ein Bleiberecht zukam.

14 Das erkannte das BVwG zwar, übersah dabei jedoch, dass die Entscheidung über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht zum sofortigen Verlust des aufgrund der Asylantragstellung bestehenden Bleiberechts führt. Nach § 22 Abs. 2 erster Satz BFA VG sind die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 und eine aufrechte Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG zwar mit der Erlassung der Entscheidung gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durchsetzbar. Allerdings ist gemäß § 22 Abs. 2 zweiter Satz BFA VG mit der Durchführung der die Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung gemäß § 46 FPG bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der vom BFA zu übermittelnden Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung des BVwG zuzuwarten. Für diesen Zeitraum kommt einem Asylwerber somit ungeachtet der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durch das BFA weiterhin ein Bleiberecht zu (zur insoweit vergleichbaren Rechtslage bei Aberkennung der aufschiebenden Wirkung für eine Beschwerde, wonach gemäß § 16 Abs. 4 zweiter Satz BFA VG eine siebentägige Wartefrist ab Einlangen der Beschwerde beim BVwG besteht, siehe grundlegend VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0009, Rn. 9).

15 Nach dem Beschluss des BFA über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes für die Revisionswerber vom 5. September 2019 langten die Akten zur Überprüfung dieser Entscheidung am 6. September 2019 (Freitag) beim BVwG ein. Aufgrund des § 22 Abs. 2 zweiter Satz BFA VG durften die Revisionswerber somit im Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft am 5. September 2021 nicht abgeschoben werden; ihnen kam weiterhin ein Bleiberecht zu. Die Anordnung der Schubhaft über die Revisionswerber auf Grundlage des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG am 5. September 2019 erweist sich daher mangels durchführbarer Abschiebung zu diesem Zeitpunkt als rechtswidrig.

16 Diese Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides bewirkt auch, dass ungeachtet dessen, dass schon mit Beschluss des BVwG vom 10. September 2019 (ohnehin innerhalb der genannten dreitägigen Frist) die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BFA über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes bestätigt wurde, die Anhaltung der Revisionswerber in Schubhaft über den gesamten Zeitraum bis 15. Oktober 2019 rechtswidrig war.

17 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann nämlich ein einmal rechtswidriger Schubhaftbescheid nicht quasi partiell für einen „Teilzeitraum“ konvalidieren, zumal dies im Ergebnis einer im Gesetz insoweit nicht vorgesehenen Schubhaftverhängung „auf Vorrat“ gleichkommen würde. War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die gesamte Zeit der auf ihn gestützten Anhaltung gelten (so schon VwGH 11.6.2013, 2012/21/0114, mwN).

18 Das angefochtene Erkenntnis war daher nach Durchführung eines Verfahrens gemäß § 30a Abs. 4 bis 6 VwGG durch das BVwG, im Zuge dessen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auch auf § 53 Abs. 2 VwGG, iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

20 Von der in den Revisionen beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 21. März 2024

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