JudikaturVwGH

Ra 2022/20/0201 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
19. Januar 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann Preschnofsky, in den Rechtssachen der Revisionen 1. der A S, 2. der M S, 3. der S S, und 4. des Y S, alle in Wien, alle vertreten durch Mag. Wolfgang Hoefert, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Zollergasse 13/4, dieser vertreten durch Mag. a Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngasse 23/3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 3. Juni 2022, 1. W220 2218535 1/12E, 2. W220 2218537 1/11E, 3. W220 2218538 1/10E und 4. W220 2244757 1/6E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revisionsverfahren werden bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 und C 609/22 über die mit den Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes je vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der weiteren in den Jahren 2009, 2017 und 2021 geborenen revisionswerbenden Parteien. Alle sind Staatsangehörige von Afghanistan.

2 Der Ehemann der Erstrevisionswerberin der Vater der übrigen revisionswerbenden Parteien reiste im Jahr 2011 in das Bundesgebiet ein und stellte hier im August 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Mit Bescheid vom 17. Juni 2014 wurde ihm vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt, die bereits mehrfach (zuletzt mit Gültigkeit bis zum 17. Juni 2023) verlängert wurde.

3 Die Erst- bis Drittrevisionswerberinnen reisten am 2. März 2019 mit für sie ausgestellten Visa in das Bundesgebiet ein. Sie stellen am 4. März 2019 Anträge auf internationalen Schutz. Am 16.6.2021 wurde für den im Mai 2021 in Österreich geborenen Viertrevisionswerber von dessen Vater ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies die von den revisionswerbenden Parteien gestellten Anträge, soweit damit die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten beantragt worden war, mit den Bescheiden vom 11. September 2019 (betreffend die Erst- bis Drittrevisionswerberinnen) sowie vom 24. Juni 2021 (betreffend den Viertrevisionswerber) ab. Allerdings wurde den revisionswerbenden Parteien unter Anwendung der Vorschriften des § 34 AsylG 2005 über das Familienverfahren der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen jeweils die für solche vorgesehene befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

5 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen diese Bescheide, soweit ihnen die Gewährung von Asyl versagt blieb, Beschwerden. Im Rahmen der Beschwerdeverfahren verwiesen sie in einer von ihnen eingebrachten Stellungnahme auf die in Afghanistan erfolgte Machtübernahme durch die Taliban. In diesem Zusammenhang brachten sie auch vor, den Erst- bis Drittrevisionswerberinnen drohe nunmehr in Afghanistan wegen ihrer Eigenschaft als Frau Verfolgung.

6 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerden nach Durchführung einer Verhandlung mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG jeweils nicht zulässig sei.

7 Die dagegen erhobenen Revisionen wurden vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen das Vorverfahren eingeleitet. Es wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet.

8 Die revisionswerbenden Parteien machen unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU geltend, die von den Taliban gegen Frauen verhängten Einschränkungen und Beschränkungen des täglichen Lebens gepaart mit den bei Zuwiderhandeln drohenden drakonischen Strafen seien als Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen. Als Frauen drohe den Erst- bis Drittrevisionswerberinnen im Hinblick auf die verschlechterte Lage in Afghanistan schon aufgrund ihrer „angeborenen Eigenschaft als Frauen“ asylrelevante Verfolgung. Sie wären ausgehend von den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen sowie anderen aktuellen Berichten zur Situation im Herkunftsstaat, der mittlerweile von den Taliban beherrscht werde, einer Kumulierung unterschiedlicher von den revisionswerbenden Parteien dargestellter Einschränkungen und Beschränkungen des täglichen Lebens gepaart mit Menschenrechtsverletzungen und drakonischen Strafen bei Zuwiderhandeln ausgesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher aufgrund der nun in Afghanistan unter der neuerlichen Herrschaft der Taliban gegebenen aktuellen Situation der Frauen zum Schluss kommen müssen, dass die Erst- bis Drittrevisionswerberinnen allein auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im Herkunftsstaat asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

- der Zugang zu Bildung gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) verwehrt wird,

- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

- keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

10 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat dem Verwaltungsgerichtshof mitgeteilt, dass die bei ihm unter den Zlen. C 608/22 und C 609/22 registrierten Verfahren zur gemeinsamen Verfahrensführung und Entscheidung verbunden wurden.

11 Der Beantwortung der dargestellten Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revisionen im Hinblick auf § 34 AsylG 2005 auch in Bezug auf den (im Jahr 2021 geborenen) Viertrevisionswerber ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen sohin die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb die Revisionsverfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat auszusetzen waren (vgl. VwGH 15.12.2022, Ra 2021/20/0487 bis 0490, mwN).

Wien, am 19. Jänner 2023

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