JudikaturVwGH

Ra 2022/18/0171 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
29. August 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr. in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, in der Revisionssache des E N, vertreten durch Dr. in Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 2022, L530 2124232 1/74E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte am 10. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund brachte er vor, wegen eines Grundstücksstreits und weil er die „Anbetung von Götzen“ verweigere, verfolgt zu werden. Zudem sei er bisexuell und Mitglied der „Indigenous People of Biafra“ (IPOB).

2 Mit Bescheid vom 17. März 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung mehrerer Tagsatzungen mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Die Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte es gemäß § 25a VwGG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, dass es dem Fluchtvorbringen zu seiner Sexualität keinen Glauben schenke und nicht feststellt werden könne, dass der Revisionswerber eine homosexuelle Beziehung mit einem anderen (Anm.: als Zeugen einvernommenen) nigerianischen Asylwerber geführt habe. Auch sei er nicht wegen seiner Weigerung, Götzen anzubeten, oder wegen seines Engagements für IPOB in Nigeria verfolgt worden. Ihm drohe keine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr.

5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 29. April 2022, E 1038/2022 6, ablehnte und sie mit Beschluss vom 24. Mai 2022, E 1038/2022 8, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

6 In der nunmehr vorliegenden außerordentlichen Revision wird zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen geltend gemacht, das BVwG habe eine unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb einem psychisch kranken Zeugen uneingeschränkt Glauben geschenkt wurde, während dem Revisionswerber die Glaubwürdigkeit zur Gänze abgesprochen wurde. Das BVwG habe sich auch nur mit der Frage einer Beziehung zwischen dem Revisionswerber und dem Zeugen auseinandergesetzt, aber nicht dargelegt, ob es von der Bisexualität des Revisionswerbers ausgehe. Das BVwG habe zudem Ergebnisse der Erstbefragung, konkret die unterbliebene Erwähnung der Bisexualität, unreflektiert verwertet und dabei nicht beachtet, dass es sich um ein höchstpersönliches Thema handle. Weiters habe das BVwG bei der Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK nicht sämtliche maßgeblichen Kriterien beachtet und vertretbar gewürdigt. Es liege eine unvertretbare, überlange Verfahrensdauer vor, die nicht dem Revisionswerber zurechenbar sei. Der Revisionswerber habe sich wegen des ihm durch die Verfahrensdauer vermittelten Eindrucks eines nicht völlig aussichtlosen Verfahrens ein schützenswertes Privatleben aufgebaut.

7 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.

8 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

9 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

10 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

11 Soweit die Revision geltend macht, dass die Beweiswürdigung gänzlich unvertretbar erfolgt sei, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung der Verwaltungsgerichte eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 11.7.2022, Ra 2022/18/0143, mwN).

12 Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass die Asylbehörden die Aussagen eines (behauptetermaßen homosexuellen) Asylwerbers nicht allein deshalb für nicht glaubhaft erachten dürfen, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht habe. Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere seine Sexualität, betreffen, könne allein daraus, dass diese Person, weil sie zögerte, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben habe, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig sei (vgl. VwGH 4.8.2021, Ra 2021/18/0024, mit Verweis auf EuGH 2.12.2014, Rechtssache A., B., C., C 148/13, C 149/13, C 150/13; insbesondere Rn. 69 und 72).

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat ebenso wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Gleichwohl ist es aber nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 26.8.2020, Ra 2020/18/0132, mwN).

14 Im Einklang mit dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das BVwG die Ergebnisse der Erstbefragung nicht unreflektiert verwertet oder sich allein auf diese gestützt, sondern eine umfassende Würdigung der Verfahrensergebnisse durchgeführt: Nach Durchführung mehrerer Tagsatzungen, in denen der Revisionswerber wiederholt zu seinem Fluchtvorbringen befragt wurde, gelangte es zum Ergebnis, dass dessen Vorbringen in seiner Gesamtheit nicht glaubhaft sei. In seiner Begründung stützte sich das BVwG zwar auch auf die Nichterwähnung der Bisexualität im Rahmen der Erstbefragung, aber vor allem darauf, dass der Revisionswerber abwechselnd drei Fluchtgründe genannt habe, wobei das Vorbringen bei verschiedenen Gelegenheiten variiert habe. Darüber hinaus habe der maßgebliche Zeuge in der Tagsatzung am 9. März 2022 eingeräumt, er habe dem Revisionswerber nur helfen wollen und deshalb tatsachenwidrig angegeben, mit ihm eine Beziehung zu führen. Die Einvernahmefähigkeit dieses Zeugen wurde dabei in der Verhandlung thematisiert und als gegeben erachtet. Dass sie tatsächlich nicht gegeben gewesen wäre, vermag die Revision nicht nachvollziehbar darzulegen. Dass auch dem Zeugen in dessen Verfahren keine Glaubwürdigkeit geschenkt wurde, steht dazu nicht im Widerspruch. Das Bestehen einer Beziehung zwischen dem Zeugen und dem Revisionswerber verneinte das BVwG nämlich in beiden Verfahren. Die Mitgliedschaft des Revisionswerbers bei der „Homosexuellen Initiative Wien“ wurde vom BVwG ebenso nachvollziehbar als nicht relevant erachtet, weil man dort unabhängig von der sexuellen Orientierung Mitglied werden könne. Insgesamt erweist sich Beweiswürdigung des BVwG zur sexuellen Orientierung des Revisionswerbers nicht als unvertretbar.

15 Sofern die Revision eine Aktenwidrigkeit darin erblickt, dass der Revisionswerber bereits in der Tagsatzung vom 14. Juli 2016 und nicht erst am 4. November 2019 davon berichtet habe, von einem Freund in ein Hotel in Abuja eingeladen worden zu sein, übersieht sie, dass sich das BVwG beweiswürdigend nicht auf die erstmalige Erwähnung des Hotelbesuchs an sich bezieht, sondern in Übereinstimmung mit der Aktenlage darauf, dass er erstmals in der Tagsatzung vom 4. November 2019 davon berichtet habe, im Hotel „erwischt“ worden zu sein.

16 Die Revision macht zudem geltend, dass das BVwG nicht darlegte, ob es von einer Bisexualität des Revisionswerbers ausging oder nicht. Auch wenn der Revision einzuräumen ist, dass das BVwG keine explizite Feststellung zur sexuellen Orientierung des Revisionswerbers getroffen hat, geht aus dem angefochtenen Erkenntnis insgesamt klar hervor, dass das BVwG dem Fluchtvorbringen der Bisexualität des Revisionswerbers keinen Glauben schenkte. Ein relevanter Verfahrensmangel wird daher auch in diesem Punkt von der Revision nicht aufgezeigt.

17 Weiters wendet sich die Revision gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung erfolgte Interessenabwägung nach § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG). Die vom BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 23.6.2021, Ra 2021/18/0219, mwN).

18 Das BVwG erwog, dass sich der Revisionswerber seit über sechseinhalb Jahren im Bundesgebiet aufhalte, über Deutschkenntnisse (Niveau A1) verfüge und einer (zeitlich beschränkten) Beschäftigung als Erntehelfer nachgegangen sei. Ein geschütztes Familienleben führe er in Österreich nicht; ein maßgeblicher Grad der Integration könne nicht erkannt werden. Dass das BVwG dabei einzelne Aspekte in unverhältnismäßiger Weise gewichtet hätte, ist nicht zu erkennen. Auch die von der Revision ins Treffen geführte lange Verfahrensdauer ist nur einer von mehreren Aspekten, der bei der Interessenabwägung des Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen ist. Dass dieser Umstand hier entscheidend ins Gewicht fiele, vermag die Revision nicht darzulegen (vgl. VwGH 27.12.2021, Ra 2021/18/0307, mwN).

19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 29. August 2022

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