Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. April 2022, W274 2216155 1/38E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M R, in S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten III. und IV. (Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist; Erteilung eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung“) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der im Jahr 1999 geborene Mitbeteiligte, ein iranischer Staatsangehöriger, reiste am 29. März 2018 in das Bundesgebiet ein und beantragte internationalen Schutz.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag im Beschwerdeverfahren zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Gleichzeitig stellte es fest, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA VG auf Dauer unzulässig sei (Spruchpunkt III.) und erteilte dem Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend führte das BVwG soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung aus, der Mitbeteiligte entstamme einer persisch-schiitischen Familie aus Isfahan. Sein Vater und seine Schwester lebten nach wie vor im Iran. Er habe im Iran nach 11 Schuljahren das Gymnasium abgeschlossen, daran anschließend eine Fortbildung als Koch gemacht und ein halbes Jahr Praxis in einem Selbstbedienungsrestaurant. Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet gemeinsam mit seiner Mutter sei er zunächst in einem Asylquartier im Lungau (April bis Dezember 2018) aufhältig gewesen, danach in unterschiedlichen Asylquartieren in Salzburg. Zuletzt sei eine Wohnsitzanmeldung am 24. März 2022 an der Adresse seiner Mutter erfolgt, die mittlerweile in Österreich den Status der Asylberechtigten erlangt habe. Der Mitbeteiligte sei unterbrochen von zeitweiligen Abmeldungen bis dato in Grundversorgung. Er habe den Deutschkurs A1 samt Prüfung absolviert; er sei unbescholten.
4 Rechtlich folgerte das BVwG zur Rückkehrentscheidung und zum Aufenthaltstitel, ein Familienleben des Mitbeteiligten in Österreich bestehe insofern, als seine Mutter asylberechtigt sei und er mit ihr nunmehr in der gemeinsamen Wohnung lebe. Nach der vorzunehmenden Interessenabwägung schlage der Umstand, dass seine Mutter in Österreich asylberechtigt sei, der Mitbeteiligte mit dieser während fast des gesamten Aufenthalts am selben Ort Kontakt hatte und nun mit ihr in der gleichen Wohnung wohne im Zusammenhalt mit seiner Unbescholtenheit und des gut 4 jährigen Aufenthalts in Österreich dahingehend durch, dass von einem hinreichend schützenswerten Privatleben des Mitbeteiligten auszugehen sei, wobei dieses bereits vor der Einreise nach Österreich und somit zu einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen seien.
5 Gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Erkenntnisses wendet sich die (außerordentliche) Amtsrevision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Sie macht zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend, das BVwG sei mit seiner Entscheidung von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen. Danach fielen familiäre Beziehungen unter Erwachsenen nur dann unter den Schutz des Familienlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten würden, was gegenständlich nicht festgestellt worden sei. Im Übrigen begründeten die vom BVwG festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten keine außergewöhnliche Konstellation, die im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seinen Verbleib in Österreich rechtfertigen würden.
6 Der Mitbeteiligte hat zu dieser Amtsrevision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fallen familiäre Beziehungen unter Erwachsenen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über übliche Bindungen hinausgehen (vgl. etwa VwGH, 17.12.2019, Ro 2019/18/0006; VwGH 2.3.2021, Ra 2020/18/0385, mwN).
10 Zutreffend macht die Amtsrevision geltend, dass dem angefochtenen Erkenntnis keine Feststellungen entnommen werden können, die ein schützenswertes Familienleben des Mitbeteiligten mit seiner Mutter im Sinne dieser rechtlichen Leitlinien darlegen würden.
11 Das BVwG hat die Beziehungen des Mitbeteiligten zu seiner Mutter auch nur als ein Element der Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK (bzw. § 9 Abs. 2 BFA VG) zur Frage eines schützenswerten Privatlebens gewertet.
12 Dazu ist festzuhalten, dass sich der Mitbeteiligte zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG erst vier Jahre in Österreich aufgehalten hat. Dieser relativ kurzen Aufenthaltsdauer (von nicht einmal fünf Jahren) kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der durchzuführenden Interessenabwägung für sich genommen noch keine maßgebliche Bedeutung im Zusammenhang mit den privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich zu.
13 Liegt wie im vorliegenden Fall eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. zum Ganzen erneut etwa VwGH 17.12.2019, Ro 2019/18/0006, mwN).
14 Zu Recht macht die Amtsrevision geltend, dass die getroffenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis die Annahme einer außergewöhnlichen Konstellation im oben beschriebenen Sinne nicht decken. Die festgestellten Kenntnisse der deutschen Sprache durch den Mitbeteiligten sind gering, eine besondere berufliche oder soziale Integration wurde nicht festgestellt.
15 Im Ergebnis stützt das BVwG sich tragend nur auf die familiären Beziehungen des Mitbeteiligten zu seiner (asylberechtigten) Mutter, mit welcher der Mitbeteiligte allerdings nach den getroffenen Feststellungen auch erst seit Kurzem (wieder) zusammenlebt. Dass dieser Kontakt zu einem Elternteil (sein Vater und seine Schwester wohnen demgegenüber noch im Iran, wo der Mitbeteiligte aufgewachsen und sozialisiert wurde) sämtliche gegen einen Verbleib des erwachsenen Mitbeteiligten in Österreich sprechenden Umstände überwiegen sollte, ist nach der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nicht zu erkennen.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 5. September 2022