JudikaturVwGH

Ra 2022/08/0020 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
10. April 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Lehofer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Rieder, über die Revision des Ing. H S in W, vertreten durch Dr. Anton Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2 4/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. September 2021, W145 22403931/4E, betreffend rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands nach § 101 ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Pensionsversicherungsanstalt; weitere Partei: Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1Mit dem an die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) gerichteten Antrag vom 8. Mai 2020 begehrte der Revisionswerber gemäß § 101 ASVG die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes im Hinblick auf zwei Bescheide der PVA, mit denen Anträge des Revisionswerbers auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension „abgelehnt“ worden waren, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Der Antrag vom 8. Mai 2020 bezog sich einerseits auf den Bescheid der PVA vom 27. April 2016 (Ablehnung des Antrages auf Berufsunfähigkeitspension vom 9. Dezember 2015) und andererseits auf den Bescheid der PVA vom 5. April 2017 (Ablehnung des Antrages auf Berufsunfähigkeitspension vom 8. Februar 2017). Entgegen den irrtumsbehafteten Befunden, die den genannten Bescheiden der PVA zugrunde gelegen seien, so das Vorbringen des Revisionswerbers in seinem Antrag vom 8. Mai 2020 sei der Revisionswerber berufsunfähig, weil er an einem zervikozephalen Syndrom („Barré Lieou Syndrom“) leide, das erstmals in einem Befund des Facharztes für Anästhesiologie und Intensivmedizin Dr. I vom 6. Dezember 2017 diagnostiziert worden sei. Diesem Befund zufolge gehe dieses Syndrom auf einen am 20. Jänner 2007 erlittenen Auffahrunfall zurück. Die Berufsunfähigkeit des Revisionswerbers ergebe sich auch aus dem „schmerzmedizinischen Befund und schmerzmedizinischen Gutachten“ des Facharztes für Anästhesiologie und Intensivmedizin Dr. G vom 19. April 2020.

2 Mit Bescheid vom 14. Dezember 2020 lehnte die PVA den Antrag des Revisionswerbers vom 8. Mai 2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes „betreffend den Antrag vom 9.12.2015“ ab und wies ihn „betreffend den Antrag vom 8.2.2017“ zurück.

3In der Begründung dieses Bescheides hielt die PVA fest, gegen den Bescheid vom 5. April 2017, mit dem über den Berufsunfähigkeitspensionsantrag vom 8. Februar 2017 entschieden worden sei, habe der Revisionswerber Klage erhoben, weshalb dieser Bescheid gemäß § 71 ASGG außer Kraft getreten sei. § 101 ASVG betreffe jedoch nur rechtskräftige Bescheide, sodass der Antrag auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes insoweit zurückzuweisen gewesen sei.

4 Zur Begründung der „Ablehnung“ des Antrags auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes „betreffend den Antrag vom 9.12.2015“ führte die PVA aus, zum nunmehr diagnostizierten „Barré-Lieou-Syndrom“ habe der Sachverständige Dr. T im sozialgerichtlichen Verfahren vor dem Landesgericht Korneuburg [gemeint: über die Klage des Revisionswerbers gegen den Bescheid der PVA vom 5. April 2017] am 11. Dezember 2017 umfassend Stellung genommen, wobei er insbesondere den Befund des Dr. I vom 6. Dezember 2017 ausführlich kommentiert und die Behauptung, das „Barré Lieou Syndrom“ habe eine Berufsunfähigkeit verursacht, entkräftet habe. Wenngleich die Leidenszustände des Revisionswerbers erst nach der Begutachtung im Jahr 2016 der medizinischen Diagnose „Barré Lieou Syndrom“ zugeordnet werden hätten können, seien die sich daraus ergebenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen bereits zum Zeitpunkt der damaligen Begutachtung bekannt gewesen, vom Revisionswerber auch geltend gemacht worden und hätten in die medizinische Einschätzung entsprechend Eingang gefunden. Bei der Erlassung des Bescheides vom 27. April 2016 (Ablehnung des Antrages auf Berufsunfähigkeitspension vom 9. Dezember 2015) habe sich die PVA in keinem wesentlichen Irrtum über den Sachverhalt befunden und sei ihr auch kein offenkundiges Versehen unterlaufen; eine unvollständige Befundaufnahme sei nicht ersichtlich, zumal sich auch aus dem nunmehr vorgelegten Gutachten [gemeint offenbar das Gutachten des Facharztes für Anästhesiologie und Intensivmedizin Dr. G vom 19. April 2020] keine zusätzlichen (noch nicht bekannten) Aufschlüsse betreffend das Vorliegen von Berufsunfähigkeit ergäben.

5In der dagegen gerichteten Beschwerde brachte der Revisionswerber gegen die Zurückweisung seines Antrages auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes „betreffend den Antrag vom 8.2.2017“ vor, es sei zwar richtig, dass er gegen den Bescheid der PVA vom 5. April 2017 Klage erhoben habe. Im darüber abgeführten Verfahren vor dem Landesgericht Korneuburg habe er diese Klage jedoch während der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am 11. Dezember 2017 zurückgezogen. Die gegen den Bescheid vom 5. April 2017 „eingebracht gewesene“ Klage stehe einer rückwirkenden Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG nicht entgegen.

6 Im Übrigen bezog sich die Beschwerde (ausschließlich) auf die Sachverhaltsannahmen, die dem Bescheid der PVA vom 5. April 2017 zugrunde lagen, indem sie vorbrachte, es sei „völlig verfehlt ein psychiatrischer Sachverhalt minderschwerer Natur ... anstatt eines neurologischen und physiologischen Sachverhalts, der medizinisch-tatsächlich betrachtet Berufsunfähigkeit verwirklicht“, angenommen worden. Die PVA glaube, sich mit dem Verweis auf die Kommentierung des im sozialgerichtlichen Verfahren vorgelegten Gutachtens des Dr. I durch den vom Gericht bestellten Sachverständigen Dr. T der Verpflichtung zur Durchführung eines Ermittlungsverfahrens entledigen zu können. Die Erkenntnisse des Dr. T seien durch neuere medizinisch-sachverständige Erkenntnisse, die der Revisionswerber in das Verfahren zur rückwirkenden Herstellung des gesetzlichen Zustandes eingebracht habe, überholt. Beim Gutachten des Gerichtsgutachters Dr. T handle es sich wie auch bei sämtlichen Gutachten des Verfahrens vor der PVA um Falschgutachten. Deren Diagnose einer „Konversionsstörung“ erfolge mit einer rein psychiatrischen Begründung, die die reale neurologisch physiologische Ursache der vom Revisionswerber geschilderten Symptome leugne, um ihm die Berufsunfähigkeitspension zu verweigern. Die „neurologische Problemstellung“ sei lange Jahre übersehen bzw. nicht erkannt worden. Diverse im Einzelnen genannte „Befunde und Begutachtungen“ zum Krankheitsbild des Revisionswerbers wären den vom Verwaltungsgericht beizuziehenden Sachverständigen vorzulegen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

8 Als entscheidungswesentlichen Sachverhalt stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, im Rahmen des Verfahrens zur Erlassung des vom Revisionswerber nicht mit Rechtsmitteln bekämpften Bescheides vom 27. April 2016 habe die PVA zwei ärztliche Gutachten eingeholt, die jeweils nach Untersuchungen des Revisionswerbers erstellt worden seien, und zwar das Gutachten des Dr. P J aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie und das Gutachten der Dr. A P aus dem Fachgebiet der inneren Medizin. In beiden Gutachten seien beim Revisionswerber eine Konversionsstörung und ein Cervikalsyndrom ohne neurologische Ausfälle diagnostiziert worden. In einer chefärztlichen Stellungnahme habe Dr. A L die Diagnosen zusammengefasst und festgestellt, dass das Gesamtleistungskalkül für den vom Revisionswerber ausgeübten Beruf bzw. die zumutbare Verweisungstätigkeit ausreiche.

9 Im Verfahren zur Erlassung des Bescheides vom 5. April 2017 habe die PVA erneut zwei jeweils nach Untersuchung des Revisionswerbers erstellte ärztliche Sachverständigengutachten eingeholt. Das Gutachten der Dr. G L aus dem Fachbereich der Psychiatrie habe die Diagnosen Konversionsstörung sowie Hypochondrie ergeben und die Frage, ob „die Tätigkeit im umseitigen Leistungskalkül möglich und zumutbar ist“, bejaht. Das Gutachten des Dr. M F aus dem Fachbereich Orthopädie und orthopädische Chirurgie führe als Hauptdiagnose ebenfalls eine Konversionsstörung sowie Hypochondrie an. Weiters leide der Revisionswerber unter einem Cervikalsyndrom mit geringem Schulter/Armsyndrom bei degenerativen Veränderungen und Bandscheibenschädigung. Der Revisionswerber sei aus orthopädischer Sicht für mittelschwere Tätigkeiten entsprechend dem Leistungskalkül geeignet. Eine chefärztliche Stellungnahme der Dr. G S habe das Leistungskalkül bestätigt und als Hauptdiagnose eine Konversionsstörung sowie als Nebendiagnose ein Cervikalsyndrom mit geringem Schulter/Armsyndrom bei degenerativen Veränderungen und Bandscheibenschädigungen angenommen. Gegen den Bescheid vom 5. April 2017 sei kein Rechtsmittel erhoben worden und dieser sei in Rechtskraft erwachsen.

10 Laut dem vom Revisionswerber eingeholten Gutachten des Facharztes für Anästhesiologie und Intensivmedizin Dr. I vom 6. Dezember 2017 so die Sachverhaltsfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses weiter leide der Revisionswerber an einem sogenannten „Barré Lieou Syndrom“. Ein Hinweis auf eine Minderung der Erwerbsfähigkeit oder eine Berufsunfähigkeit aufgrund dieses Syndroms sei in diesem Gutachten sowie im schmerzmedizinischen Gutachten des Dr. G vom 19. April 2020 nicht enthalten.

11 Unter dem Titel „Beweiswürdigung“ führte das Bundesverwaltungsgericht aus, alle Gutachter der Verfahren vor der PVA hätten immer dieselbe Diagnose gestellt. Der [in einer Eingabe während des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht erhobene] Vorwurf des Revisionswerbers, diese Gutachter, die ihm allem Anschein nach zuvor persönlich unbekannt gewesen seien, hätten ein persönliches Interesse daran, ihm eine Berufsunfähigkeitspension zu verwehren, indem sie bewusst eine falsche Diagnose gestellt hätten, sei nicht nachvollziehbar. Die vom Revisionswerber vorgelegten Gutachten gingen von einer anderen Diagnose aus, wobei anzumerken sei, dass eines der Gutachten ohne persönliche Untersuchung des Revisionswerbers erstellt worden sei. Es liege kein Grund für die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes vor, wenn ein anderer Sachverständiger lediglich zu einer anderen Diagnose komme. Den Ausführungen des Revisionswerbers sei zu entnehmen, dass es sich beim „Barré Lieou Syndrom“ um ein sehr kompliziertes, nicht leicht erkennbares Krankheitsbild handle. Dieses Syndrom sei erst nach jahrelangem Suchen im Dezember 2017, also nach beiden Verfahren vor der PVA über die Berufsunfähigkeitspensionsanträge des Revisionswerbers, entdeckt worden. Es sei daher offenkundig, dass im Rahmen der Begutachtungen im Zuge der Verfahren vor der PVA weder gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft außer Acht gelassen worden seien noch ein offenkundiges Versehen vorgelegen sei.

12 In der rechtlichen Beurteilung hielt das Bundesverwaltungsgericht der Sache nach zur Begründung der Bestätigung der Zurückweisung des Antrags des Revisionswerbers auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes „betreffend den Antrag vom 8.2.2017“ durch den vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochtenen Bescheid in Widerspruch zu den zuvor getroffenen Feststellungen fest, der Revisionswerber habe gegen den Bescheid der PVA vom 5. April 2017 Klage an das Landesgericht Korneuburg erhoben, diese jedoch wieder zurückgezogen. Durch die Zurücknahme der Klage trete der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid nicht wieder in Kraft und gelte der Antrag des Versicherten soweit als zurückgezogen, als der darüber ergangene Bescheid durch die Klage außer Kraft getreten sei (Hinweis auf OGH 18.3.2003, 10 ObS 50/03f).

13 Im Übrigen also der Sache nach zur Begründung der „Ablehnung“ des Antrags des Revisionswerbers auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes „betreffend den Antrag vom 9.12.2015“führte das Bundesverwaltungsgericht u.a. aus, die Voraussetzungen des § 101 ASVG seien insbesondere dann erfüllt, wenn der für die rechtliche Beurteilung maßgebliche Sachverhalt im seinerzeitigen Verfahren nicht ermittelt worden sei. Auch in Tatfragen, deren Beantwortung einem Sachverständigen überlassen bleiben müsse, könne ein Irrtum vorliegen, etwa wenn der Sachverständige bei Erstellung von Befund und Gutachten eine gesicherte Erkenntnis seines Faches bzw. die Regeln der Wissenschaft nicht beachtet habe. Der Irrtum sei dann als wesentlich im Sinne des § 101 ASVG anzusehen, wenn er für die rechtliche Beurteilung des den Gegenstand des Verwaltungsverfahrens bildenden Leistungsanspruches Bedeutung erlange (Hinweis auf VwGH 28.3.2012, 2012/08/0047, und VwGH 4.5.1999, 97/08/0061). Sei das Ergebnis des Verfahrens wie vorliegend von medizinischen Fragen und damit von Sachverständigengutachten abhängig, dann könne in der Außerachtlassung einer gesicherten Erkenntnis des Faches ein offenkundiges Versehen liegen. § 101 ASVG biete allerdings keine Handhabe dafür, jede Fehleinschätzung im Tatsachenbereich, insbesondere auch die Beweiswürdigung, im Nachhinein (auch mehrfach) neu aufzurollen.

14 Anlässlich der beiden Berufsunfähigkeitspensionsanträge des Revisionswerbers habe die PVA jeweils zwei Sachverständigengutachten aus verschiedenen Fachrichtungen eingeholt. Alle vier Sachverständigen seien nach persönlicher Untersuchung des Revisionswerbers zu denselben Diagnosen gekommen. Das vom Revisionswerber vorgelegte Gutachten des Dr. I diagnostiziere zwar ein sogenanntes „Barré Lieou Syndrom“ und das außerdem vorgelegte Gutachten des Dr. G das nicht nach einer persönlichen Untersuchung des Revisionswerbers erstellt worden sei spreche von außergewöhnlichen Schmerzen als Begleitsymptom einer Vollausbildung eines „Barré Lieou Syndroms“. Weder in diesen Gutachten noch in der Beschwerde werde jedoch von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit beziehungsweise von einer Berufsunfähigkeit aufgrund des in den Gutachten genannten Syndroms gesprochen, sondern lediglich ausgeführt, dass der Revisionswerber unter diesem Syndrom leide.

15Wenn eine Krankheit aus Gründen, die nicht als offenkundiges Versehen im Sinne des § 101 ASVG zu werten seien, anlässlich eines (ersten) Antrages auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension nicht festgestellt werden habe können, dann könne dies nach § 101 ASVG im Nachhinein nicht mehr aufgegriffen werden, wenn die Krankheit später erkennbar wird und Gründe zu der Annahme bestehen, sie sei schon seinerzeit (freilich unerkannt) vorgelegen (Hinweis auf VwGH 27.7.2001, 2001/08/0040).

16 Die PVA habe gestützt auf die von ihr eingeholten Sachverständigengutachteneinen Akt der Beweiswürdigung gesetzt, der als solcher im Rahmen des § 101 ASVG nicht ohne Weiteres neu aufgerollt werden könne. Es liege sohin kein wesentlicher Sachverhaltsirrtum vor. Auch sehe das Bundesverwaltungsgericht nicht, dass die von der PVA herangezogenen Sachverständigen bei Erstellung von Befund und Gutachten eine gesicherte Erkenntnis des Faches außer Acht gelassen oder die Regeln der Wissenschaft nicht beachtet hätten. Dies werde vom Revisionswerber auch nicht behauptet.

17 Zur Begründung des Entfalls der mündlichen Verhandlung führte das Bundesverwaltungsgericht insbesondere aus, der Sachverhalt habe sich aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als hinreichend geklärt dargestellt. Der Revisionswerber habe „zudem auch keinen Antrag gestellt“. Die PVA habe ein ordnungsgemäßes Beweisverfahren durchgeführt. Der Sachverhalt sei weder in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig gewesen, noch sei er in entscheidenden Punkten als „nicht richtig“ erschienen. Es seien keine Rechts und Tatsachenfragen aufgeworfen worden, deren Lösung eine mündliche Verhandlung erfordert hätte; eine mündliche Verhandlung könne unterbleiben, wenn der Sachverhalt unbestritten und die Rechtslage von keiner besonderen Komplexität sei.

18 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 30. November 2021, E 3912/2021 6, ablehnte. Mit Beschluss vom 5. Jänner 2022, E 3912/2021 8, trat der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde über nachträglichen Antrag des Revisionswerbers dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

19 Daraufhin wurde die vorliegende außerordentliche Revision eingebracht.

20 Die PVA erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragte.

21 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

22Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 BVG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

23Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 BVG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

24 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Zurückweisung seines Antrages vom 8. Mai 2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes „betreffend den Antrag [auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension] vom 8.2.2017“ richtet, Folgendes vor:

25Der Revisionswerber habe gegen den Bescheid der PVA vom 5. April 2017, mit dem sein Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension vom 8. Februar 2017 abgelehnt wurde, Klage erhoben, diese jedoch in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vor dem Landesgericht Korneuburg am 11. Dezember 2017 zurückgezogen. Damit sei „die infolge Erhebung einer Klage stattgefundene Außerkraftsetzung des Bescheides beseitigt“ und das Verfahren vor der PVA über den Antrag vom 8. Februar 2017 als mit dem Bescheid vom 5. April 2017 abgeschlossen zu betrachten. Die gegen diesen Bescheid eingebracht gewesene Klage stehe einer Antragstellung nach § 101 ASVG nicht entgegen; die Zurückweisung des auf diese Bestimmung gestützten Antrages des Revisionswerbers vom 8. Mai 2020 sei zu Unrecht erfolgt. Es fehle an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Anwendbarkeit des § 101 ASVG nach Klagszurückziehung.

26 Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Revisionswerber den in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses enthaltenen Widerspruch, wonach zunächst festgestellt wurde, dass der Bescheid vom 5. April 2017 in Rechtskraft erwachsen sei, im Zuge der rechtlichen Beurteilung aber auch die gegen diesen Bescheid erhobene Klage und deren Zurückziehung thematisiert wird, nicht aufgreift und selbst ausführt, dass die gegen diesen Bescheid von ihm erhobene Klage zurückgezogen wurde.

27Davon ausgehend ist festzuhalten, dass nach den eindeutigen Regelungen des ASGG der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft tritt, wenn in einer Leistungssache wie der hier in Rede stehenden die Klage rechtzeitig erhoben wird (vgl. § 71 Abs. 1 leg.cit.), und durch die Zurücknahme der Klage nicht wieder in Kraft tritt (vgl. § 72 Z 1 leg.cit.). Nimmt ein Versicherter seine Klage zurück, gilt sein Antrag soweit als zurückgezogen, als der darüber ergangene Bescheid durch die Klage außer Kraft getreten ist (vgl. § 72 Z 2 lit. b leg.cit.).

28Der Behauptung des Revisionswerbers, die Zurückziehung seiner Klage gegen den Bescheid der PVA vom 5. April 2017 habe die infolge der Klageerhebung stattgefundene Außerkraftsetzung des Bescheides beseitigt, widerspricht somit der klaren und eindeutigen Rechtslage nach dem ASGG, der zufolge der Bescheid durch die Zurücknahme der Klage nicht wieder in Kraft getreten ist und der Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension als zurückgezogen gilt. Ebenso klar und eindeutig setzt § 101 ASVG für eine rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes jedoch (u.a.) eine bescheidmäßig erfolgte Ablehnung einer Geldleistung voraus. Ist die Rechtslage nach den in Betracht kommenden Normen wie vorliegend klar und eindeutig, liegt keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 BVG vor, auch wenn zu einer Frage der Auslegung der anzuwendenden Normen noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergangen ist (vgl. etwa VwGH 2.10.2024, Ro 2021/08/0018, mwN).

29 Soweit die Revision in unklarer Weisedavon auszugehen scheint, dass nach der Zurückziehung der Klage des Revisionswerbers von der PVA gemäß § 72 Z 2 lit. c ASGG ein „sogenannter Wiederholungsbescheid“ zu erlassen gewesen wäre, gibt sie zwar den Wortlaut dieser Bestimmung wieder, legt aber in keiner Weise dar, dass die dort genannten gesetzlichen Voraussetzungen für einen „Wiederholungsbescheid“ im vorliegenden Fall erfüllt gewesen wären.

30 Die Revision behauptet darüber hinaus eine dem Unions und dem Verfassungsrecht widersprechende „Ungleichbehandlung und Diskriminierung“, wenn der Revisionswerber „in Ansehung des Antrages vom 8. Februar 2017“ und des Verfahrens vor dem Landesgericht Korneuburg über seine Klage gegen den Bescheid der PVA vom 5. April 2017 darauf verwiesen sein sollte, nur eine „Nichtigkeitsund Wiederaufnahmsklage“ nach den §§ 529, 530 ZPO erheben zu können, zumal nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes „eine einfache Falschbegutachtung durch Sachverständige kein Wiederaufnahmegrund sei“, was einen „diametralen Gegensatz zu § 101 ASVG und dessen Sinn und Zweck“ schaffe.

31Dieses Vorbringen ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil nach der Zurückziehung der Klage durch den Revisionswerber nicht nur keine rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG (vgl. oben), sondern mangels einer die Sache erledigenden gerichtlichen Entscheidung auch keine Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Landesgericht Korneuburg bzw. eine Nichtigkeitsklage in Frage kommt; eine „Ungleichbehandlung“, weil der Revisionswerber auf eine „Nichtigkeits und Wiederaufnahmsklage“ verwiesen wäre, ist nicht ersichtlich.

32Soweit die Revision vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe entgegen im Einzelnen dargestellter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seine Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung verletzt, ist einzuräumen, dass das Absehen von der Verhandlung im angefochtenen Erkenntnis unter anderem damit begründet wurde, der Revisionswerber habe „keinen Antrag gestellt“, obwohl der Revisionswerber in der Beschwerde tatsächlich ausdrücklich beantragt hat, gemäß § 24 VwGVG eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

33Allerdings kann gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung dann absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

34Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch im § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen oder Parteien und auch von der Nachvollziehbarkeit einer Stellungnahme durch einen Sachverständigen zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. VwGH 29.1.2019, Ra 2018/08/0238, mwN).

35 Im vorliegenden Fall lagen jedoch keine widersprechenden prozessrelevanten Behauptungen in diesem Sinn vor:

36 Der Revisionswerber warf in der Beschwerde gegen den Bescheid der PVA vom 14. Dezember 2020 konkret ausschließlich Fragen des Bestehens eines wesentlichen Irrtums oder eines offenkundigen Versehens im Hinblick auf solche Sachverhaltsannahmen auf, die dem Bescheid der PVA vom 5. April 2017 zugrunde lagen. Gegen diesen Bescheid hatte der Revisionswerber wie dargelegt zunächst Klage erhoben, diese jedoch während des sozialgerichtlichen Verfahrens zurückgezogen, weshalb die PVA den Antrag des Revisionswerbers auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes diesbezüglich zurückwies, was das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis in Übereinstimmung mit der eindeutigen Rechtslage (vgl. oben) auch bestätigte. In der Sache einzugehen hatte das Bundesverwaltungsgericht daher nur auf die Frage der Wiederherstellung des gesetzlichen Zustandes im Hinblick auf den Bescheid der PVA vom 27. April 2016 (Ablehnung des Antrages auf Berufsunfähigkeitspension vom 9. Dezember 2015); dass die diesem Bescheid der PVA zugrunde gelegten Sachverhaltsannahmen mit einem wesentlichen Irrtum behaftet oder dieser Bescheid von einem offenkundigen Versehen betroffen gewesen wären, hat der Revisionswerber in der Beschwerde gegen den Bescheid der PVA vom 14. Dezember 2020 jedoch wie dargelegt nicht durch eine konkrete Bestreitung des maßgeblichen Sachverhaltes geltend gemacht.

37 Im Übrigen hat auch der Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 30. November 2021, E 3912/2021 6, darauf hingewiesen, dass das Bundesverwaltungsgericht angesichts der von ihm zu beurteilenden Sach- und Rechtsfragen in vertretbarer Weise von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

38 Auch soweit die Revision darüber hinaus weitere Verfahrensmängel (nämlich die mangelnde Auseinandersetzung mit vom Revisionswerber vorgelegten Gutachten, die Unterlassung der Einholung beantragter Sachverständigenbeweise aus Radiologie, Neurologie und Orthopädie) behauptet, greift sie im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit den Befundaufnahmen und Begutachtungen des Verfahrens zur Erlassung des Bescheides der PVA vom 5. April 2017 sowie des darauf folgenden sozialgerichtlichen Verfahrens an, das wie dargelegtmit der Zurückziehung der Klage durch den Revisionswerber geendet hat. Dass eine Vermeidung der behaupteten Verfahrensfehler zu einer anderen Beurteilung der Frage der rückwirkenden Herstellung des gesetzlichen Zustandes im Hinblick auf den Bescheid der PVA vom 27. April 2016 (Ablehnung des Antrages auf Berufsunfähigkeitspension vom 9. Dezember 2015) führen hätte können, wird nicht konkret dargelegt (zur Notwendigkeit, schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, darzutun vgl. etwa VwGH 19.10.2023, Ra 2021/08/0064, mwN).

39 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 10. April 2025