Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision 1. der H C, 2. des H Z C, 3. derL Z C, und 4. der L Z C, alle vertreten durch Dr. Horst Kilzer, Rechtsanwalt in 9500 Villach, Nikolaigasse 27, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Juli 2021, 1. W170 2156821 2/2E, 2. W170 2156822 2/2E, 3. W170 2170553 2/2E und 4. W170 2228230 2/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Die Revisionswerber sind iranische Staatsangehörige. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind miteinander verheiratet und stellten am 21. August 2015 in Österreich jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie unter anderem mit ihrer Konversion zum Christentum begründeten. Sie sind die Eltern der im Juni 2017 und September 2019 in Österreich geborenen minderjährigen Dritt- und Viertrevisionswerberinnen, für die am 4. Juli 2017 und am 13. September 2019 jeweils ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.
2 Mit Bescheiden vom 25. April 2017, vom 27. April 2017, vom 10. August 2017 und vom 23. Dezember 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber vollinhaltlich ab, erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Iran zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 8. Juni 2020 mit in Rechtskraft erwachsenem Erkenntnis vom 3. September 2020 als unbegründet ab.
4 Nachdem die Revisionswerber am 12. Oktober 2020 in Deutschland neuerlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt hatten, erklärte sich die Republik Österreich im Hinblick auf die ihr nach der Dublin III Verordnung zukommenden Zuständigkeit zur Wiederaufnahme der Revisionswerber bereit.
5 Im Rahmen der nach der Rückkehr nach Österreich am 25. Mai 2021 durchgeführten Erstbefragung verwiesen die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber auf die im vorangegangenen Asylverfahren geltend gemachten Fluchtgründe. Der Zweitrevisionswerber brachte darüber hinaus seine Ablehnung der politischen Verhältnisse in seiner Heimat sowie ferner vor, Mitarbeiter iranischer Behörden hätten seine Familie im Iran zweimal aufgesucht und einmal seinen Bruder zum Zweck der Befragung über ihn, den Zweitrevisionswerber, mitgenommen. In seiner Einvernahme vom 24. Juni 2021 führte der Zweitrevisionswerber diese Geschehnisse auf die seit 2016 auf seinem Instagram Account ersichtlichen christlichen und politischen Inhalte zurück und ordnete zeitlich den ersten Vorfall im Juli 2020 und den zweiten Vorfall, bei dem auch das Haus seiner Eltern durchsucht worden sei, fünf Monate danach ein. In ihrer Einvernahme (ebenfalls) vom 24. Juni 2021 erwähnte die Erstrevisionswerberin, dass der Bruder des Zweitrevisionswerbers festgenommen worden sei und eine Hausdurchsuchung stattgefunden habe.
6 Mit Bescheiden vom 7. Juli 2021 wies das BFA die Anträge der Revisionswerber sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Iran zulässig sei, und sprach aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe. Gegen die Erstrevisionswerberin und den Zweitrevisionswerber erließ das BFA jeweils unter einem ein für die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot wegen Mittellosigkeit.
7 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 22. Juli 2021 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 Begründend führte das BVwG aus, dass nicht nur die im ersten Asylverfahren behaupteten Fluchtgründe, sondern auch die von der Erstrevisionswerberin und dem Zweitrevisionswerber im Folgeantragsverfahren erstmals in der Einvernahme vom 24. Juni 2021 geschilderten Probleme mit iranischen Behörden einschließlich der Festnahme des Bruders des Zweitrevisionswerbers und der Durchsuchung des Hauses seiner Eltern von der Rechtskraft des Erkenntnisses des BVwG vom 3. September 2020 umfasst sei, weil „das Problem“ schon vor Erlassung dieses Erkenntnisses bestanden habe. Überdies komme diesem Vorbringen auch kein glaubhafter Kern zu, weil es nicht im vorangegangenen Asylverfahren von den Revisionswerbern erstattet worden sei, obwohl dies auch nach der mündlichen Verhandlung am 8. Juni 2020 noch mithilfe eines Schriftsatzes möglich gewesen wäre. Außerdem habe die Erstrevisionswerberin diese Vorfälle in der Heimat nicht bereits in der Erstbefragung erwähnt.
9 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, das BVwG habe den neu hinzugekommenen Sachverhalt übergangen und ihm zu Unrecht einen glaubhaften Kern abgesprochen.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision erweist sich als zulässig und auch als begründet.
12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Prüfung des Vorliegens der entschiedenen Sache von der rechtskräftigen Vorentscheidung auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit derselben nochmals zu überprüfen. Identität der Sache liegt dann vor, wenn sich gegenüber der früheren Entscheidung weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (vgl. zuletzt etwa VwGH 21.6.2022, Ra 2020/19/0234, mwN).
13 Im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt (vgl. etwa VwGH 18.5.2022, Ra 2019/19/0538, mwN).
14 Nach der in Anbetracht des Urteiles EuGH 9.9.2021, C 18/20, ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf ein Folgeantrag auf internationalen Schutz nicht allein deshalb wegen entschiedener Sache zurückgewiesen werden, weil der nunmehr vorgebrachte Sachverhalt von der Rechtskraft einer früheren Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz erfasst sei, ohne dass die Prüfung im Sinn des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) vorgenommen worden wäre, ob „neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“ (vgl. etwa VwGH 21.6.2022, Ra 2020/19/0234, unter Berufung auf VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006).
15 Im vorliegenden Fall haben sich die Revisionswerber zur Begründung ihrer Folgeanträge auf internationalen Schutz auch auf Umstände berufen, die im ersten Asylverfahren der Behörde und dem BVwG noch nicht bekannt waren und daher in diesem Verfahren auch keiner Überprüfung unterzogen wurden, ob ihnen deswegen ein Schutzstatus zuzuerkennen wäre. Insoweit wurden von ihnen neue Erkenntnisse vorgebracht, die ihrer Ansicht nach auf Grund der Situation im Herkunftsstaat in Bezug auf den dort gepflogenen Umgang mit zum Christentum konvertierten und mit politisch oppositionell gesinnten Personen eine asylrelevante Verfolgung hervorrufen und somit die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten rechtfertigen würden.
16 Soweit das BVwG die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung der Folgeanträge durch das BFA damit begründete, dass die erstmals im vorliegenden Verfahren vorgebrachten Umstände von der Rechtskraft des Erkenntnisses vom 3. September 2020 umfasst seien, widerspricht dies wie oben unter Rn. 14 dargelegt den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 40 der Verfahrensrichtlinie.
17 Das BVwG unterzog das neue Vorbringen zwar einer beweiswürdigenden Beurteilung und ging davon aus, es enthalte keinen glaubhaften Kern, begründete dies jedoch damit, dass „das Problem“ im ersten Verfahren vor Erlassung des Erkenntnisses vom 3. September 2020 nicht vorgebracht worden sei. Dem steht aber entgegen, dass zumindest einer der beiden Vorfälle nach den Angaben der Revisionswerber überhaupt erst nach der Zustellung des Erkenntnisses stattgefunden haben kann und von daher seine Geltendmachung mittels Schriftsatzes nach der mündlichen Verhandlung am 8. Juni 2020 jedenfalls ausscheidet. Auch hinsichtlich des Vorfalles, der sich vor Erlassung des ersten Erkenntnisses ereignet haben soll, reicht es fallbezogen nicht aus, von der bloßen Unterlassung der Ergänzung des Vorbringens nach der geschlossenen Verhandlung, in welcher der Schluss des Beweisverfahrens erklärt wurde, ohne Weiteres auf die Unglaubwürdigkeit des gesamten Vorbringens zu schließen.
18 Das angefochtene Erkenntnis ist daher in Bezug auf die Erstrevisionswerberin und den Zweitrevisionswerber schon deshalb mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet und schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die Dritt- und Viertrevisionswerberin durch. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben (vgl. VwGH 30.4.2021, Ra 2020/19/0269, mwN). Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren auf Zuspruch von 20 % Streitgenossenzuschlag findet in den anwendbaren Bestimmungen keine Deckung und war daher abzuweisen (vgl. VwGH 16.3.2022, Ra 2021/19/0083, mwN).
Wien, am 25. August 2022
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