JudikaturVwGH

Ra 2021/19/0136 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
07. Dezember 2021

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, in der Revisionssache des M A (alias S A), geboren am 1. Jänner 1982, vertreten durch Dr. in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. März 2021, W159 2203344 1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 9. Oktober 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, seinen Herkunftsstaat aufgrund der schlechten Sicherheitslage und wegen den Taliban verlassen zu haben.

2 Mit Bescheid vom 2. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) ab, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3 Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er unter anderem eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Personen mit geistiger Behinderung vorbrachte.

4 Die Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 16. März 2021 als unbegründet ab und erklärte eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

5 In seiner Begründung traf das BVwG Länderfeststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan, insbesondere auch zur Situation psychisch erkrankter Personen, und ging unter anderem davon aus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen in Afghanistan keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt seien. Personen mit erworbenen Erkrankungen bzw. Defiziten würden nicht so schlecht behandelt werden, wie Personen, die mit einer Erkrankung geboren seien. Eine allfällige unmenschliche Behandlung des Revisionswerbers im Sinne des Art. 3 EMRK sei bereits mit der Zuerkennung subsidiären Schutzes berücksichtigt worden. Das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei darüber hinaus nicht glaubwürdig, wobei eine solche Beurteilung nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch bei Menschen mit psychischer Erkrankung bzw. geistiger Behinderung vorgenommen werden dürfe. Eine individuell konkrete Verfolgung des Revisionswerbers habe daher ebenfalls nicht festgestellt werden können. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt und die verfahrensrelevanten Rechtsfragen durch die Verwaltungsbehörde ausreichend geklärt gewesen seien. Im Hinblick auf die gegenüber dem bekämpften Bescheid aktualisierten Länderberichte führte das BVwG aus, dass sich in den asylrelevanten Teilen der Länderfeststellungen nichts geändert habe und daher die Gewährung von Parteiengehör habe unterbleiben können.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe.

8 Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

10 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 10.6.2021, Ra 2021/19/0133, mwN).

11 Diesen Grundsätzen hat das BVwG wie die Revision zutreffend aufzeigt im vorliegenden Fall nicht entsprochen:

12 In Anbetracht des seit der Erlassung des angefochtenen Bescheides verstrichenen Zeitraumes erachtete das BVwG zutreffend den durch das BFA festgestellten Sachverhalt nicht mehr als aktuell und vollständig, weshalb das BVwG zur allgemeinen Situation in Afghanistan aktuelle Länderberichte den Feststellungen zugrunde legte. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch bereits klargestellt, dass die vom BVwG erkannte Notwendigkeit, zur Situation im Herkunftsstaat eines Asylwerbers aktuelle Länderberichte einzuholen und die Feststellungen zu ergänzen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich macht (vgl. VwGH 16.4.2021, Ra 2020/19/0305, mwN).

13 Da der im angefochtenen Bescheid festgestellte Sachverhalt bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG nicht mehr die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufwies, lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung im vorliegenden Fall nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des wie hier gegeben Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH Ra 2021/19/0133, mwN).

14 Das angefochtene Erkenntnis des BVwG war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

15 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG auch Feststellungen über die familiären Verhältnisse des Revisionswerbers zu treffen haben, um sich mit den bei einer Rückkehr zu erwartenden persönlichen Lebensumständen des Revisionswerbers vor dem Hintergrund der in den Länderberichten dargestellten Situation psychisch erkrankter Personen in Afghanistan auseinander setzen zu können (vgl. VwGH 14.2.2019, Ra 2018/18/0442).

16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. Dezember 2021

Rückverweise