Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. September 2020, W261 2188382 1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: H A in K, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf Dietrich Straße 19/5), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 21. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er damit, dass sein Vater wegen Grundstücksstreitigkeiten von einer benachbarten Familie verletzt und sein Großvater ermordet worden sei. Daraufhin sei die Familie des Mitbeteiligten von der verfeindeten, benachbarten Familie kontinuierlich bedroht worden.
2 Mit Bescheid vom 29. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 3. September 2020 statt, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die ordentliche Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte habe glaubhaft gemacht, dass ihm im Fall einer Rückkehr Verfolgung durch die Nachbarsfamilie drohen würde. Da die Gründe, weshalb die verfeindete Familie den Mitbeteiligen verfolgen würde, zur Gänze auf die Zugehörigkeit zur Familie seines Vaters beziehungsweise Großvaters zurückzuführen seien, drohe dem Mitbeteiligten Verfolgung auf Grund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie. Angesichts der volatilen allgemeinen Lage in Kabul sowie der Tatsache, dass der Mitbeteiligte unmittelbar aus einem an die Stadt Herat grenzenden Distrikt stamme und ihn die verfeindete Familie auch dort finden würde, stehe dem Mitbeteiligten in diesen Städten keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Eine solche scheide zudem auch in Mazar e Sharif aus, weil unter Berücksichtigung der Zugehörigkeit der verfeindeten Familie zur selben ethnischen und religiösen Minderheit wie jener des Mitbeteiligten sowie der Kontakte dieser Familie zum afghanischen Sicherheitsapparat nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Mitbeteiligte auf Dauer vor einer, möglicherweise auch zufälligen, Entdeckung durch seine Verfolger sicher wäre.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision. Im eingeleiteten Vorverfahren erstattete der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung, in der die kostenpflichtige Zurückweisung der Revision beantragt wird.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG habe sich nicht mit den von der Rechtsprechung des EuGH geforderten Voraussetzungen für das Vorliegen einer sozialen Gruppe auseinandergesetzt. Demnach müsse eine Gruppe unter anderem eine deutlich abgegrenzte Identität aufweisen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als „andersartig“ betrachtet werde, um das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status RL zu bejahen. Das BVwG habe es jedoch unterlassen, entsprechende Feststellungen zu treffen.
8 Die Amtsrevision erweist sich in Hinblick auf dieses Vorbringen als zulässig und aus nachstehenden Erwägungen auch als begründet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG festgehalten, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in der Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 1.2.2022, Ra 2021/19/0056, mwN).
10 Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0576, mwN).
11 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status RL und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. zu alldem VwGH 17.2.2022, Ra 2021/20/0400, mwN).
12 Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass der Mitbeteiligte als Mitglied der sozialen Gruppe der Familie seines Vaters bzw. Großvaters und auf Grund der ihm deshalb unterstellten Absichten begründete Furcht vor Verfolgung durch eine verfeindete Familie habe und ihm deshalb der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei.
Wie die Amtsrevision zutreffend aufzeigt, hat sich das BVwG dabei jedoch nicht näher mit den einzelnen Voraussetzungen, die nach der Status RL erfüllt sein müssen, um eine „soziale Gruppe“ zu bilden, wie etwa der abgegrenzten Identität einer solchen, auseinandergesetzt. Folglich fehlt es im angefochtenen Erkenntnis an Feststellungen zu den Merkmalen und zur Identität einer solchen Gruppe sowie zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (nämlich dazu inwieweit die Verfolgung des Mitbeteiligten auf dessen Mitgliedschaft zur Familie beruht), die eine abschließende Beurteilung der Frage, ob dem Mitbeteiligten der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen sei, ermöglichen.
Dies ist mit der oben dargelegten Rechtsprechung nicht in Einklang zu bringen.
13 Da das BVwG somit in Verkennung der Rechtslage für die Entscheidung wesentliche Feststellungen nicht getroffen hat, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
Wien, am 11. Jänner 2023