Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Christl, über die Revision des A S in W, vertreten durch Mag. Werner Tomanek, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Neutorgasse 13/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. August 2016, Zl. W199 2104612- 1/15E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte am 4. September 2014 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Mit Bescheid vom 6. März 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab, erkannte diesem gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005.
3 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, der Befürchtung des Revisionswerbers, noch als Reservist zum Wehrdienst einberufen zu werden, stehe entgegen, dass nach den Länderfeststellungen lediglich Männer zwischen achtzehn und vierzig Jahren für den Militärdienst in Frage kämen und der siebenundvierzigjährige Revisionswerber daher nicht mehr zum Wehrdienst herangezogen werden könne. Der Revisionswerber habe somit keinen Fluchtgrund im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) geltend gemacht.
4 In der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG), wandte sich unter anderem gegen die Feststellungen des BFA, dass er nicht mehr zum Wehrdienst eingezogen werden könne, und brachte dazu im Wesentlichen vor, dass die vom BFA herangezogenen Länderberichte aus dem Jahr 2012 bzw. 2013 stammten. Nicht berücksichtigt werde, dass die Regel, wonach lediglich Männer zwischen achtzehn und vierzig Jahren für den Militärdienst in Frage kämen, im Kriegszustand umgangen werden könne, um alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren. Dass diese Altersgrenze "nicht mehr in Stein gemeißelt" sei, lasse sich auch dem Bericht des Danish Immigration Service vom 26. Februar 2015 entnehmen. Wie sich aus den Feststellungen des BFA im angefochtenen Bescheid ergebe, würden Wehrdienstleistende gezwungen, auf unbewaffnete Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, zu schießen; im Fall ihrer Weigerung würden sie Gefahr laufen, selbst erschossen zu werden.
5 Mit Schreiben vom 1. Juli 2016 teilte das BVwG den Parteien mit, dass es beabsichtige, in seinem Erkenntnis Feststellungen zur Situation in Syrien zu treffen und sich dabei auf - näher genannte - Unterlagen und Berichte zu stützen. Das BVwG stellte den Parteien frei, dazu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen. Der Revisionswerber erstattete eine Stellungnahme.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.
7 Das BVwG stellte begründend fest, dass das syrische Militärdienstgesetz Militärdienst für Männer im Alter von achtzehn bis zweiundvierzig Jahren vorsehe. Allerdings sei die Altersgrenze nicht mehr fix; es gebe auch Beispiele von fünfundvierzigjährigen, die Reservedienst leisten würden. Das BVwG stellte auch fest, dass der Respekt für das Gesetz in den letzten Jahren stark nachgelassen habe und man "von einem bestimmten Maß an Willkür ausgehen" könne, wie Gesetze in Syrien "heutzutage" angewandt würden. Das Regime benötige Rekruten, und Leute, die sich bisher aufgrund von Ausnahmeregelungen sicher gefühlt hätten, täten dies nicht mehr, weil die Willkür stark zugenommen habe.
8 In seiner Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass sich auch aus dem vom Revisionswerber vorgelegten Bericht nicht nur ein rechtliches, sondern auch faktisches Höchstalter von zweiundvierzig Jahren ergebe, das in Einzelfällen überschritten worden sei.
9 In der rechtlichen Beurteilung ergänzte das BVwG, dass es nach oppositionellen syrischen Quellen Beispiele von Männern gebe, die fünfundvierzig Jahre alt gewesen und zum Militär einberufen worden seien. Es handle sich dabei offenbar um Einzelfälle, sodass nicht davon die Rede sein könne, dass die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohe. Auf die Frage, ob eine Einberufung zum Militärdienst asylrelevant wäre, brauche daher nicht eingegangen zu werden.
10 Eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 In der Revision wird zur Zulässigkeit u.a. vorgebracht, das Erkenntnis des BVwG verstoße gegen die - näher dargelegte - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht.
13 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, sind für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts folgende Kriterien beachtlich:
15 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
16 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen.
17 Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass der Revisionswerber in der Beschwerde und im Weiteren in seiner ergänzenden Stellungnahme nicht bloß unsubstantiiert, sondern konkret und unter Anbietung neuer für den Verfahrensgang relevanter Beweismittel den Feststellungen der Verwaltungsbehörde entgegengetreten ist. Das BVwG erkannte zudem selbst die Notwendigkeit, den Sachverhalt hinsichtlich der Länderberichte zu aktualisieren und gewährte hierzu schriftliches Parteiengehör. Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat der Revisionswerberin schriftlich Stellung zu nehmen, kann die Durchführung einer Verhandlung in einem Fall, wie er auch hier vorliegt, nicht ersetzen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 11. November 2015, Ra 2015/20/0179, 0180).
18 Das BVwG konnte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
19 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich daher schon aus diesem Grund als mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften behaftet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und lit. c VwGG aufzuheben war.
20 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. Mai 2017