Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Straßegger, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Ortner, über die Revision des M Y in S, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Juni 2014, Zl. I407 1435145-1/20E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Der Revisionswerber, ein ägyptischer Staatsangehöriger, stellte am 19. April 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen bei seinen Vernehmungen damit, dass er in Ägypten an einer Demonstration gegen die Muslimbruderschaft teilgenommen habe und dabei von der Polizei festgenommen worden sei. Er sei zwei Monate in Haft gewesen und während dieser Zeit gefoltert und geschlagen worden. In der Haft sei er damit bedroht worden, dass er - wenn er nochmals an einer Demonstration teilnehme - umgebracht werde. Nach seiner Freilassung habe er sich aus Angst um sein Leben zur Flucht entschlossen.
Mit Bescheid vom 29. April 2013 wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) mit Spruchpunkt I. den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) sowie mit Spruchpunkt II. den Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab und sprach mit Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 die Ausweisung des Revisionswerbers aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ägypten aus.
Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass der Revisionswerber keinen asylrelevanten Fluchtgrund habe glaubhaft machen können, weil sich sein Vorbringen als gesteigert und vage dargestellt habe. Auch das Vorliegen einer Gefahr im Sinn des § 8 AsylG 2005 habe nicht festgestellt werden können, weshalb dem Revisionswerber kein subsidiärer Schutz gewährt werden könne.
In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde an den Asylgerichtshof brachte der Revisionswerber erneut seine Verfolgung durch die Muslimbrüder, die Teilnahme an einer Demonstration, seine anschließende Verhaftung sowie seine Misshandlung in der Haft vor.
Das Verfahren über die Beschwerde wurde gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht zu Ende geführt.
Dieses informierte den Revisionswerber mit Schreiben vom 24. Februar 2014 vom Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme. Es wurde dem Revisionswerber zur Kenntnis gebracht, dass beabsichtigt sei, Feststellungen zur Sicherheitslage in Ägypten zu treffen, die auf die in diesem Schreiben genannten Beweismittel gegründet werden sollten.
Dazu nahm der Revisionswerber mit Schreiben vom 6. März 2014 Stellung, in dem er vorbrachte, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Ägypten zum Wehrdienst einberufen werde, aus Gewissensgründen dem Einberufungsbefehl jedoch nicht Folge leisten könne. Als Kriegsdienstverweigerer drohe ihm in Ägypten eine unverhältnismäßig lange Haftstrafe. In einem in Übersetzung vorliegenden, eigenhändig geschriebenen und der Stellungnahme beigelegten Schreiben führte der Revisionswerber noch zusätzlich aus, dass die Lage in Ägypten und seine Probleme auf die Muslimbrüder zurückzuführen seien, sowie dass er bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten habe, er jedoch wegen der schwierigen Situation in Ägypten zum Militärdienst nicht angetreten sei, weshalb er eine Gesetzesverletzung in seinem Heimatland begangen habe.
Am 5. Juni 2014 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, bei der der Revisionswerber im Wesentlichen seine bisherigen Angaben zur Verfolgung durch die Muslimbrüder wiederholte. Darüber hinaus gab er an, dass er während seines Aufenthaltes in Österreich in der Zeit, als die Muslimbrüder an der Macht gewesen seien, mehrere Stellungsbefehle vom Militär erhalten habe. Er habe Angst, bei seiner Rückkehr nach Ägypten zum Militär einberufen zu werden und gegen Al Kaida kämpfen zu müssen.
Mit dem nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof in Revision gezogenen Erkenntnis vom 11. Juni 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigen und des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte A I. und II.). Gleichzeitig verwies es das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück (Spruchpunkt A III.). Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B I.).
Das Bundesverwaltungsgericht stellte - soweit hier von Relevanz - fest, dass der Revisionswerber Mitglied der Nationaldemokratischen Partei Ägyptens sei. Er habe sich zu den Länderfeststellungen "auch geäußert. Er hat darin Bedenken gegen seine Einberufung zum ägyptischen Militär vorgebracht." Der Revisionswerber habe an mehreren Demonstrationen gegen die Muslimbrüder und deren Machtergreifung teilgenommen und sei wegen dieser Teilnahme in Haft genommen, misshandelt und verletzt worden. Aufgrund des Machtwechsels im Sommer 2013 seien die Muslimbrüder abgelöst worden, was zu einer erheblichen Verschiebung der Sicherheits- und Menschenrechtslage geführt habe. Davor seien meist Sympathisanten von säkularen Parteien im Rahmen von Demonstrationen misshandelt und verhaftet worden, jetzt vor allem Führungspersönlichkeiten der Muslimbruderschaft. Auch wenn die Armee in jüngster Zeit zur Bekämpfung Aufständischer eingesetzt werde, sei doch eine weitgehende Stabilisierung der Sicherheitslage in einem Ausmaß feststellbar, welches eine bloß vorübergehende Veränderung übersteige. Zum Zeitpunkt der Entscheidung könne daher keine aktuelle asylrelevante Verfolgungsgefahr angenommen werden, weiters könne auch nicht festgestellt werden, dass in die gemäß Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte des Revisionswerbers eingegriffen werde.
Rechtlich führte es diesbezüglich aus, dass das Prüfen des Vorliegens einer Verfolgungsgefahr zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung unterbleiben könne, weil sich durch die grundlegenden politischen Veränderungen in Ägypten in der Mitte des Jahres 2013 keine asylrelevanten Bedrohungen von staatlicher oder dritter Seite für den Revisionswerber erwarten ließen. Eine Prognoseentscheidung falle daher dahingehend aus, dass im Falle seiner Rückkehr von keiner asylrelevanten Verfolgung auszugehen sei. Die Furcht vor Ableistung des Militärdienstes stelle grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar, ebenso wenig eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes oder wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung.
Dem Revisionswerber sei auch kein subsidiärer Schutz zu gewähren. So lägen im gegenständlichen Fall keinerlei Umstände vor, welche ein Refoulement des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat Ägypten als unzulässig erscheinen ließen, nachdem weder eine objektiv extreme Gefahrenlage noch eine konkrete Gefährdung aus in der Person des Revisionswerbers gelegenen Gründen zu befürchten sei.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben durch das Bundesverwaltungsgericht, Beischaffung der Verfahrensakten und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:
Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit der Revision u. a. geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, indem es in gravierender Weise gegen die Ermittlungspflicht verstoßen habe. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes leide unter gravierenden Feststellungsmängeln zum gesamten Fragenkomplex, ob dem Revisionswerber in Ägypten insbesondere wegen seiner Wehrdienstpflicht und den damit zusammenhängenden Gefährdungen unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohe. Dabei wäre insbesondere auch zu berücksichtigen gewesen, dass der Revisionswerber erwiesenermaßen Mitglied der Partei des Langzeitpräsidenten gewesen sei. Es bestehe die konkrete Gefahr, dass dem Revisionswerber im Hinblick auf seine Wehrdienstentziehung seitens des Militärgerichts eine politische Motivation unterstellt werde.
Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.
Der Revisionswerber hat in seinem - eigenhändig geschriebenen, der Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme beigelegten - Schreiben vom 6. März 2014 angeführt, dass er bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten habe, er wegen der unter Hinweis auf die durch die Muslimbrüder verursachte "schlechte Situation" in Ägypten den Militärdienst jedoch nicht angetreten habe, weshalb er eine Gesetzesverletzung in seinem Heimatland begangen habe. In der genannten Stellungnahme selbst brachte er vor, ihm drohe als Kriegsdienstverweigerer in Ägypten eine unverhältnismäßig lange Haftstrafe. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wiederholte der Revisionswerber - auf die Frage des Richters, ob er einen Einberufungsbefehl erhalten habe - sein diesbezügliches Vorbringen und gab an, dass er nach der Machtübernahme durch die Muslimbrüder mehrere Ladungen bekommen habe, aber erst als er in Österreich gewesen sei. Es seien immer "Security" zu ihm nach Hause gekommen und hätten ihn mitnehmen wollen. Wenn er mitgegangen wäre, hätte er zum Militär müssen.
Das Bundesverwaltungsgericht führte diesbezüglich im Rahmen der rechtlichen Beurteilung betreffend die Gewährung von Asyl unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, dass die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes ebenso wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes oder wegen Desertion drohende Bestrafung grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft darstelle. Davon, dass das auf die Wehrdienstverweigerung Bezug nehmende Vorbringen gegen § 20 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz verstoßen hätte, ging das Bundesverwaltungsgericht nicht aus.
Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits mehrfach mit der möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerungen auseinandergesetzt. Demnach kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine "bloße" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. zum Ganzen das hg Erkenntnis vom 27. April 2011, Zl. 2008/23/0124, mwN). Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen wiederholt unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK gewürdigt (vgl. dazu das den Iran betreffende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Oktober 2006, Zl. 2005/20/0496, mwN).
Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt im gegenständlichen Fall trotz des Vorbringens des Revisionswerbers, wonach er bereits durch die Nichtbefolgung der Einberufungsbefehle eine Gesetzesverletzung begangen habe und ihm eine unverhältnismäßig lange Haftstrafe drohe, Feststellungen zu treffen, welche Konsequenzen die Nichtbefolgung der bereits erhaltenen Einberufungsbefehle zur Folge hat und ob dabei allenfalls - angesichts der getroffenen Feststellungen zur Parteimitgliedschaft des Revisionswerbers - dessen (möglicherweise unterstellte) politische Überzeugung als asylrelevantes Kriterium -
wie im oben genannten Begleitschreiben vom 6. März 2014 erkennbar - von Bedeutung ist. Die ins Treffen geführte Veränderung der Sicherheits- und Menschenrechtslage nach der Ablöse der Muslimbruderschaft allein vermag Feststellungen dazu, ob und welche Wirkung die Nichtbefolgung von unter dem Regime der Muslimbrüder ergangenen Einberufungsbefehlen zeitigt, nicht zu ersetzen.
Da in Bezug auf die der Entscheidung zur Frage der Zuerkennung des subsidiären Schutzes zu Grunde liegenden Feststellungen zu den Haftbedingungen in Ägypten nicht von vornherein auszuschließen ist, dass diese eine den Art. 3 EMRK verletzende Behandlung darstellen, hätte das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen auch konkrete Feststellungen darüber zu treffen gehabt, ob der Revisionswerber im Falle einer Abschiebung nach Ägypten aufgrund der in seiner Abwesenheit ergangenen Einberufungsbefehle eine Haftstrafe zu befürchten und mit welcher Dauer derselben er zu rechnen hätte. Dadurch lässt das Bundesverwaltungsgericht unberücksichtigt, dass im vorliegenden Fall eine Verletzung des Art. 3 EMRK daraus folgen kann, dass der Revisionswerber im Falle der Verbüßung einer Haftstrafe in Ägypten aufgrund seines Wehrdienstentzuges unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte.
Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. März 2015