E1223/2020 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 90/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 agen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer (geb. 2002) ist Staatsangehöriger Afghanistans und stammt aus der Provinz Baghlan, wo er bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 gelebt hat. Am 28. Oktober 2015 stellte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, dass die Sicherheitslage in seiner Heimatregion sehr schlecht sei. Er sei von einer Granate am rechten Bein getroffen worden und habe Verletzungen erlitten. Der Mullah hätte ihn aufgefordert, sich den Taliban anzuschließen, um zu Ausbildungszwecken nach Pakistan zu reisen und am Jihad teilzunehmen. Eines Nachts seien die Taliban auch in das Haus seiner Familie gekommen und hätten seinen Vater bedroht. Der Vater des Beschwerdeführers habe daraufhin beschlossen, dass die ganze Familie ausreisen solle. An der iranisch-türkischen Grenze habe der Beschwerdeführer seine Familie verloren.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. November 2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Asylstatus abgewiesen, ihm aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er vorbrachte, dass er mittlerweile erfahren habe, dass sein Vater für die Regierung gearbeitet habe und getötet worden sei. Es sei ihm auch gelungen, wieder Kontakt zu seiner Mutter herzustellen.
3. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Erkenntnis vom 8. Jänner 2020 – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 2019 – ab. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sei, zumal er seine Fluchtgeschichte "emotions- und teilnahmslos" geschildert habe. Im Übrigen sei zu erwarten, dass die Taliban Strafen bzw Gewaltmaßnahmen durchführten, wenn man sich einer Rekrutierung widersetze. Es sei daher nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer erst ein Monat nach der angeblichen Bedrohung ausgereist sei. Schließlich hätte der Beschwerdeführer einerseits angegeben, über eine Facebook-Gruppe vom Tod seines Vaters erfahren zu haben; andererseits hätte er behauptet, dass ihm seine Mutter vom Tod seines Vaters erzählt hätte. Für das Bundesverwaltungsgericht sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer seine Mutter zu den näheren Umständen des Todes seines Vaters nicht befragt hätte, zumal der Beschwerdeführer doch mit entsprechenden Fragen von Seiten des Bundesverwaltungsgerichtes anlässlich der mündlichen Verhandlung rechnen hätte müssen. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Minderjährigkeit nicht in der Lage gewesen wäre, die relevanten Geschehnisse ausreichend wahrzunehmen, zu erinnern und wiederzugeben.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG BGBl 390/1973) sowie in den gemäß Art24 Abs2 GRC und Art1 Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Das Bundesverwaltungsgericht führt aus, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen gesteigert hätte, indem er in der mündlichen Verhandlung erstmals angegeben hätte, dass die Taliban "um Mitternacht" zu ihm nach Hause gekommen wären. Der Beschwerdeführer hat allerdings bereits vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgebracht, dass die Taliban "in der Nacht" bei ihm zu Hause gewesen wären. Die Formulierung "um Mitternacht" präzisiert die Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl "in der Nacht" und kann daher – insbesondere unter Berücksichtigung der Beiziehung eines Dolmetschers – nicht ohne weiteres als Steigerung des Fluchtvorbringens gewertet werden.
2.2. Außerdem geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass zu erwarten wäre, dass seitens der Taliban Strafen bzw Gewaltmaßnahmen durchgeführt würden, wenn man den "Wünschen der Taliban bezüglich einer Rekrutierung nicht nachkommt". Diese Ausführung findet in den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten keine Deckung und erweist sich daher als spekulativ (vgl VfGH 21.9.2017, E786/2017). Hinzukommt, dass der Beschwerdeführer dieser Annahme sowohl in seiner schriftlichen Stellungnahme als auch in der mündlichen Verhandlung entgegentritt, indem er auf näher bezeichnete Länderberichte verweist und ausführt, dass die Taliban eigene Verfahren für derartige Konstellationen etabliert hätten. Das Bundesverwaltungsgericht hat es verabsäumt, sich mit diesem Vorbringen auseinanderzusetzen.
2.3. Im Zusammenhang mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers, er sei bei einer Schießerei zwischen den Taliban und der Polizei von einer Granate getroffen worden und hätte Verbrennungen erlitten, führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass dies keine typischen Verletzungen seien, die von Granaten stammten. Wie es zu diesem Schluss gelangt, legt das Bundesverwaltungsgericht aber nicht dar. Auch diese Begründung ist daher nicht nachvollziehbar.
2.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat überdies weder bei der Befragung in der mündlichen Verhandlung, noch in der Begründung seines Erkenntnisses ausreichend berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Einvernahmen minderjährig war (vgl zur Berücksichtigung der Minderjährigkeit im Rahmen der Beweiswürdigung VfGH 8.6.2020, E1043/2020).
3. Damit erweist sich die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes in wesentlichen Teilen als nicht nachvollziehbar und spekulativ, wodurch das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet wird.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.