JudikaturVfGH

E3411/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
06. Juni 2025
Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Mali und (gemäß einem vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in Auftrag gegebenen medizinischen Gutachten zur Feststellung des Mindestalters des Beschwerdeführers) am 8. September 2004 geboren.

Am 24. Jänner 2022 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung am selben Tag und seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 23. März 2024 gab er im Wesentlichen an, der Volksgruppe der Peulh anzugehören und aus D'Ogossagou zu stammen. Als seine Eltern bei einem Angriff auf seinen Herkunftsort getötet worden seien, sei er mit seinem Onkel geflüchtet. Bei der Überfahrt nach Spanien sei sein Onkel ertrunken. In Mali habe er niemanden mehr. Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte er einen Ausdruck eines Wikipedia-Artikels über das "Massaker von Ogassogou" vor.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 2. Juli 2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ua ihm keine Aufenthaltsberechtigung erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Mali zulässig sei.

Nach Ansicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl seien die Ausführungen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft. Begründend führte es im Wesentlichen aus, dass er sein Geburtsdatum in Täuschungsabsicht mit 28. April 2004 angegeben habe, weswegen auch zweifelhaft sei, dass der Beschwerdeführer aus der von ihm bezeichneten Region stamme. Außerdem seien seine Angaben zum Herkunftsort nicht eigenständig und kohärent gewesen, als er aufgefordert worden sei, ihm bekannte Orte auf "Google Maps" zu zeigen und Wege zu beschreiben. Seine Angaben zu seinen Lebensumständen seien unspezifisch und geradezu nichtssagend. Weiters ging das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass der Beschwerdeführer Verwandte in Mali habe, weil – so die Begründung – die Fertilitätsrate in Mali mit etwa 6,4 Kinder pro Frau hoch sowie die Bedeutung der erweiterten Großfamilie in traditionell geprägten Gesellschaften groß sei. Die fehlende Glaubwürdigkeit hinsichtlich seiner Angaben zu seinem Herkunftsort schlage auf das Fluchtvorbringen durch und entziehe diesem die logische Grundlage. Zudem sei es pauschal, detailarm und nicht lebensnah, was sich vor allem im Fehlen von beschreibenden Adjektiven zeige. Auch habe der Beschwerdeführer die Motive für den angeblichen Übergriff nur unvollständig und unzutreffend angegeben.

3. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer ua vor, dass er jenes Alter wiedergegeben habe, das ihm gesagt worden sei, in seiner Herkunftsregion keine präzise Altersfeststellung erfolge und er das festgestellte (höhere) Alter nie bestritten habe. Seine Schulbildung habe sich auf das Erlernen des "Lesens und Zählens" beschränkt. Das Konzept der Himmelsrichtungen habe er nie gelernt und Karten könne er nicht lesen. Vor seiner Flucht habe er Mali nicht verlassen und sich nur in seiner Herkunftsregion aufgehalten. Dass er ein Einzelkind sei und sein Vater bei seiner Zeugung schon sehr alt gewesen sei, habe er bereits in seiner behördlichen Einvernahme angegeben.

4. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Es folgte im Wesentlichen der behördlichen Beweiswürdigung und gab diese im Erkenntnis auszugsweise wieder. Es ging wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von einer Täuschungsabsicht des Beschwerdeführers hinsichtlich seines Geburtsdatums aus und folgte der Behörde auch darin, dass der Beschwerdeführer nicht aus dem angegebenen Herkunftsort stamme. Unter Verweis auf die behördliche Beweiswürdigung führte es aus, seine zahlreichen widersprüchlichen Angaben zu seinem Herkunftsort seien selbst unter Würdigung des niedrigen Bildungsgrades des Beschwerdeführers und seiner mangelnden "Kartenlesekunst" sowie des Umstandes, Mali nicht bereist zu haben, nicht wegzudiskutieren. Diese Angaben ließen auf ein Gedankenkonstrukt und nicht auf eigenes Erlebtes schließen. Unter weiteren Verweis auf die im Bescheid angeführte hohe Fertilitätsrate in Mali erachtete es das Bundesverwaltungsgericht für nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer keine Familienangehörigen in Mali habe. Auch sei der Behörde nicht entgegenzutreten, wenn sie das Vorbringen zum "Massaker" als nicht glaubhaft, sondern als gedankliches Konstrukt gewürdigt habe. Der Beschwerdeführer habe auf Grund der widersprüchlichen Angaben zu seinem Herkunftsort nicht vermocht, eine persönliche Verbindung zu diesem Massaker herzustellen.

Von einer mündlichen Verhandlung sah das Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung ab, dass der Sachverhalt vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vollständig erhobenen worden sei und zwischen seiner Entscheidung und dem Bescheid lediglich rund vier Wochen gelegen seien.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Geltend gemacht wird im Wesentlichen, dass den Feststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in der Beschwerde substantiiert entgegengetreten worden sei, weshalb das Bundesverwaltungsgericht nicht von einem geklärten Sachverhalt hätte ausgehen dürfen. Es hätte sich vielmehr in einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer verschaffen müssen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses, der Flucht sowie der Erstbefragung noch minderjährig gewesen sei.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Behördenakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es den Beschwerdeausführungen entgegentritt und ua beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1.1. Für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer den Anforderungen des Art47 Abs2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua; 26.6.2013, U1257/2012; 27.11.2019, E2252/2018; 17.3.2022, E4359/2021).

1.2. Eine solche Verletzung in Art47 Abs2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:

Das Bundesverwaltungsgericht übernimmt im Wesentlichen die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und geht von der Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers aus. Eine mündliche Verhandlung zur Prüfung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers hat es hingegen nicht durchgeführt.

Zu berücksichtigen ist dabei der Umstand, dass der Beschwerdeführer, der unbegleitet nach Österreich gekommen ist, bei Verlassen seines Herkunftslandes erst 14 Jahre und bei seiner Einreise nach Österreich und der Erstbefragung erst 17 Jahre alt war. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist im Rahmen der asylrechtlichen Glaubwürdigkeitsprüfung erkennbar zu berücksichtigen, wenn ein Asylwerber im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses oder seiner Einvernahmen noch minderjährig war (vgl etwa VfGH 8.6.2020, E1043/2020; 23.2.2021, E1223/2020). Das Aussageverhalten eines Minderjährigen ist dahingehend zu würdigen, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können. Dabei darf nicht derselbe Maßstab wie bei erwachsenen Asylwerbern angelegt werden (s VfGH 26.6.2024, E3919/2023 mwN).

2. Die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur (Un-)Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers lassen nicht erkennen, dass es das Aussageverhalten anhand dieses Maßstabes beurteilt hat. Gerade die nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes bestehenden Widersprüche in den Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsort und zu dem mit diesem im Zusammenhang stehenden fluchtauslösenden Ereignis, die nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes durch den niedrigen Bildungsgrad des Beschwerdeführers und sein Unvermögen, Landkarten zu lesen, "nicht wegzudiskutieren" seien, wären angesichts des geringen Alters des Beschwerdeführers bei Verlassen seines Herkunftsortes und seiner Ersteinvernahme klärungsbedürftig gewesen, zumal auch gerade im Hinblick auf sein Herkunftsland nach den Länderberichten stark unterschiedliche Sicherheitslagen in den einzelnen Regionen bestehen (vgl VfGH 3.10.2019, E1533/2019). Der Hinweis auf die "hohe Fertilitätsrate" in Mali ist bezogen auf den hier allein zu beurteilenden Einzelfall ungeeignet, das Bestehen verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkte in Mali zu begründen.

Vor diesem Hintergrund wäre in der vorliegenden Konstellation die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten gewesen, um sich einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zu verschaffen (vgl VfGH 26.6.2024, E3919/2023; 11.6.2024, E173/2024).

Das Bundesverwaltungsgericht durfte daher nicht durch bloßes Aktenstudium davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens geklärt sei, und es hätte folglich nicht von einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden (vgl VfGH 26.6.2024, E3919/2023; 11.6.2024, E173/2024).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.