G873/2023 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Leitsatz
Abweisung eines Antrags auf Aufhebung von Bestimmungen des ABGB, des ErwachsenenschutzvereinsG, des AußStrG sowie des GGG betreffend Notare, Rechtsanwälte, Vereine sowie deren ehrenamtliche Mitarbeiter als gerichtliche Erwachsenenvertreter; Sachlichkeit der Verpflichtung zur Übernahme von Vertretungen durch Notare und Rechtsanwälte auf Grund ihrer (freiwilligen) Eintragung in die Liste zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen; Entschädigung der gerichtlichen Erwachsenenvertreter durch das Einkommen bzw Vermögen der Betroffenen sowie Finanzierung von Erwachsenenschutzvereinen durch Mittel des Bundes bzw durch Gebühreneinnahmen aus Pflegschaftsverfahren im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers; keine Möglichkeit eines Vergleichs der Bestimmungen betreffend eine mit dem Erwachsenenschutzverein zu vereinbarende Aufwandsentschädigung ehrenamtlicher Mitarbeiter und der (geringeren) Entschädigung gerichtlicher Erwachsenenvertreter; kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot hinsichtlich der Bestellung eines Erwachsenenschutzvereins auf Grund "besonderer Anforderungen" an die Erwachsenenvertretung, die Kenntnisse aus Sozialarbeit oder psychologische Fähigkeiten seitens der Erwachsenenschutzvereine erfordern; kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch allfällige – faktische – Kapazitätsgrenzen der Erwachsenenschutzvereine
Abweisung des Antrags eines Landesgerichts (LG) auf Aufhebung der §§274 Abs3 bis 5, 275 und 276 ABGB idF BGBl I 59/2017 sowie der §§8 Abs1, 9 und 10 ErwachsenenschutzvereinsG (ErwSchVG) idF BGBl I 59/2017 und §137 Abs2 2. Satz AußStrG idF BGBl I 58/2018 sowie Anmerkung 9 zu Tarifpost 7 GGG idF BGBl I 58/2018.
Keine Unsachlichkeit der §274 Abs3, Abs4 und Abs5 sowie des §275 ABGB:
Es liegt grundsätzlich im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, die Versorgung mit Erwachsenenvertretern einerseits durch ideelle Erwachsenenschutzvereine und andererseits durch Notare (Notariatskandidaten) oder Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsanwärter) oder andere geeignete Personen gemäß §274 ABGB sicherzustellen (VfSlg 20.412/2020; zur Sachlichkeit der subsidiären Bestellung von Notaren oder Rechtsanwälten als gerichtliche Erwachsenenvertreter bzw Sachwalter s VfSlg 20.188/2017).
Der Umstand, dass Notare (Notariatskandidaten) oder Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsanwärter), die aufrecht in der Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten oder Notaren eingetragen sind, gemäß §275 ABGB (im Umkehrschluss) eine Vertretung aus den in der Bestimmung genannten Gründen nicht ablehnen können, vermag die Unsachlichkeit der Bestimmung des §275 ABGB nicht zu begründen. Es obliegt der freien Entscheidung von Notaren (Notariatskandidaten) und Rechtsanwälten (Rechtsanwaltsanwärtern), sich in der Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten oder Notaren eintragen zu lassen.
Der VfGH hat in diesem Zusammenhang bereits mehrfach klargestellt, dass es sich bei der (Verpflichtung zur) Übernahme der Tätigkeit als Erwachsenenvertreter (vormals Sachwalter) vorrangig um eine aus der sozialen Verantwortung der Gesellschaft für besonders schutzbedürftige Personen abgeleitete Bürgerpflicht handelt.
Beim Vorbringen des LG, "in der Praxis" würden Erwachsenenschutzvereine ihre Vertretung oftmals "mangels Kapazität" ablehnen, obwohl es Aufgabe des Staates bzw des Gesetzgebers sei, für eine hinreichende Versorgung der Betroffenen mit Erwachsenenvertretern zu sorgen, stellt das LG rechtspolitische Überlegungen an, macht der Sache nach aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken geltend. Selbst wenn die angefochtenen Bestimmungen nicht in jeder Konstellation geeignet sein sollten, die Vertretung Betroffener in erster Linie durch einen Erwachsenenschutzverein sicherzustellen, ist auf die Rsp des VfGH zu verweisen, wonach eine allenfalls unzweckmäßige Regelung für sich genommen noch keinen Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot des Art7 B‑VG bewirkt. Ob die Regelung zweckmäßig ist und das Ergebnis in allen Fällen als befriedigend empfunden wird, kann nicht mit dem Maß des Gleichheitsgrundsatzes gemessen werden.
Keine Gleichheitswidrigkeit der Bestimmungen über die Entschädigung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters nach §276 ABGB:
Es sprechen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, wenn der Gesetzgeber den Betroffenen, für den Leistungen eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters erbracht worden sind, zur Finanzierung der Leistungen nach Maßgabe seines Einkommens sowie seines Vermögens heranzieht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sichergestellt ist, dass das dem Betroffenen Zumutbare auf der einen und die Grenze der Angemessenheit der Entschädigung nach Maßgabe der erbrachten Leistungen auf der anderen Seite jeweils nicht überschritten werden. Der VfGH sieht sich nicht veranlasst, von seiner Rsp abzugehen.
Vor diesem Hintergrund vermag auch der vom LG angestellte Vergleich der Bestimmungen über die Entschädigung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters nach §276 ABGB mit den Regelungen über die Finanzierung von Erwachsenenschutzvereinen nach §8 Abs1 ErwSchVG und Anmerkung 9 zu Tarifpost 7 des Gerichtsgebührengesetzes einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nicht aufzuzeigen. Es liegt im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, (ideelle) Erwachsenenschutzvereine anders – nämlich durch Mittel des Bundes bzw durch Gebühreneinnahmen aus Pflegschaftsverfahren – als Rechtsanwälte (bzw Notare) für Erwachsenenvertretungen zu entschädigen.
Keine Gleichheitswidrigkeit des §276 ABGB im Vergleich mit den Bestimmungen über die Entschädigung ehrenamtlicher Mitarbeiter von Erwachsenenschutzvereinen nach §9 ErwSchVG:
Ein (isolierter) Vergleich der Bestimmungen über die Aufwandsentschädigung von ehrenamtlichen Mitarbeitern von Erwachsenenschutzvereinen nach §9 ErwSchVG einerseits und die Entschädigung von gerichtlichen Erwachsenenvertretern nach §276 ABGB andererseits kommt von vornherein nicht in Betracht. Ehrenamtlich tätige Personen können als gerichtliche Erwachsenvertreter nicht bestellt werden, sondern können für den Erwachsenenschutzverein neben der Wahrnehmung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung (für den bestellten Verein) unterschiedliche Tätigkeiten ausüben. Ein Anspruch auf Entschädigung für ehrenamtliche Tätigkeiten besteht gegenüber dem Erwachsenenschutzverein nicht; gemäß §9 ErwSchVG "kann" der Verein mit der ehrenamtlich tätigen Person vereinbaren, dass er ihnen Entschädigung sowie Ersatz der Barauslagen und Reisekosten leistet. Der vom LG angestellte (isolierte) Vergleich der Höhe der Entschädigung für den im Anlassfall bestellten gerichtlichen Erwachsenenvertreter mit der hypothetischen Entschädigung eines allenfalls für den Erwachsenenschutzverein ehrenamtlich tätigen Mitarbeiters vermag die Gleichheitswidrigkeit des §276 ABGB nicht aufzuzeigen.
Kein Verstoß einer Wortfolge des §274 Abs5 ABGB gegen das Bestimmtheitsgebot gemäß Art18 Abs1 B‑VG:
Gemäß §274 Abs5 ABGB ist vorrangig ein Notar (Notariatskandidat) oder ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter zu bestellen, wenn die Besorgung der Angelegenheiten vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert; ein Erwachsenenschutzverein ist "vor allem dann, [zu bestellen,] wenn sonst besondere Anforderungen mit der Erwachsenenvertretung verbunden sind". Bereits anhand des Wortlautes und der Systematik der Bestimmung des §274 ABGB ist unmissverständlich, dass mit sonstigen "besonderen Anforderungen" all jene (verbleibenden) Aufgaben von Erwachsenenvertretern gemeint sind, die nicht in erster Linie Rechtskenntnisse erfordern. Solche besonderen Anforderungen in Pflegschaftssachen sind allen voran Kenntnisse aus der Sozialarbeit oder psychologische Fähigkeiten. Das in Bezug auf die mangelnde Bestimmtheit der Wortfolge "besondere Anforderungen" in §274 Abs5 ABGB gehegte Bedenken geht daher ins Leere.
Der monierte Umstand, dass Erwachsenenschutzvereine ihrer Bestellung zum Erwachsenenvertreter gemäß §274 Abs3 ABGB "in der Praxis" oftmals mangels Kapazität nicht zustimmten und deshalb ein Notar (Notariatskandidat) oder Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) bestellt werde, obwohl die Besorgung der Angelegenheit nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordere, begründet nicht die Unbestimmtheit der angefochtenen Bestimmung des §274 Abs3 ABGB.