G590/2023 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Leitsatz
Abweisung eines Gerichtsantrags auf Aufhebung einer Bestimmung des SPG und des WaffenG betreffend die Verpflichtung des Gefährders zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung sowie das damit ex lege eintretende vorläufige Waffenverbot nach Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbots; erweiterte Rechtsfolgen des Betretungs- und Annäherungsverbots nicht von Justiz- und Verfahrensgrundrecht erfasst; kein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) der — hinreichend determinierten — präventiven Administrativmaßnahmen zur Vermeidung von Gewalttaten; verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Prognoseentscheidung der Sicherheitsorgane auf Grundlage der maßgeblichen dokumentierten Umstände gegeben; Verhältnismäßigkeit des vorläufigen Waffenverbots vor dem Hintergrund zunehmender Gewaltbereitschaft
Der Antrag des LVwG Niederösterreich auf Aufhebung des §38a SPG idF BGBl I 206/2021 sowie des §13 Abs1 zweiter Satz WaffenG idF BGBl I 211/2021 wird abgewiesen.
Der VfGH verkennt nicht, dass die Ersteinschätzung der Sicherheitsorgane nicht immer zweifelsfrei zu fällen ist und gerade im Rahmen einer häuslichen Konfliktsituation oft sich die an dem Konflikt Beteiligten mit "Aussage gegen Aussage" gegenüberstehen. Gerade in solchen Situationen besteht für die einschreitenden Organe jedoch die Verpflichtung, auf Basis des sich ihnen bietenden Gesamtbildes ex ante einzuschätzen, ob mit einiger Wahrscheinlichkeit ein gefährlicher Angriff – also ein Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit (zumindest) einer gefährdeten Person – durch den Wegzuweisenden bevorstehen könnte. Dass dabei vom Wissenstand des Beamten zum Zeitpunkt des Einschreitens und der dabei zu fällenden Prognoseentscheidung auszugehen ist, setzt §38a SPG voraus; auch – und nichts Anderes kann dem Gesetzgeber unterstellt werden, wenn er Regelungen zur Vermeidung von Gewalt im häuslichen Umfeld trifft – nimmt die Regelung zur Vermeidung von Gewalteskalationen hin, dass diese Prognose in Einzelfällen unscharf sein kann. Neben zahlreichen Verpflichtungen, etwa über die Rechtsfolgen des Betretungs- und Annäherungsverbotes aufzuklären, sind auch gemäß §38a Abs6 SPG die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände (für sich anschließende Verfahren) zu dokumentieren. Diese Dokumentation beschreibt somit die für die Verhängung des Betretungs- und Annäherungsverbotes maßgeblichen Umstände.
Kein Verstoß gegen Art6 EMRK:
Art6 EMRK gewährleistet ein Justiz- und Verfahrensgrundrecht, dessen Anwendungsbereich auf Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche oder die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage begrenzt ist. Beim Betretungs- und Annäherungsverbot (und auch der Wegweisung) handelt es sich – nach der Rsp des VwGH – um eine administrativ-rechtliche Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung und nicht um eine strafrechtliche Anklage iSd Art6 EMRK. Auch eine Betroffenheit in zivilrechtlichen Ansprüchen iSd Art6 EMRK wird nicht schon per se durch ein solches Verbot hergestellt.
Wenn das LVwG unter Bezugnahme auf das Urteil des EGMR vom 23.02.2017, 43.395/09, De Tommaso, davon ausgeht, dass die Rechtsfolgen eines Betretungs- und Annäherungsverbotes derart weitreichend sind, dass Art6 EMRK anzuwenden ist, übersieht es, dass die Sach- und Rechtslage hier mit jener dem Fall De Tommaso zu Grunde liegenden nicht vergleichbar ist: Das im Fall De Tommaso anzuwendende italienische Gesetz ermöglicht die Verhängung vorbeugender Maßnahmen gegen Personen, die eine Gefahr für die Sicherheit und öffentliche Moral darstellen. Der Beschwerdeführer in dieser Rechtssache war nach Verbüßung einer Haftstrafe wegen mehrerer Verurteilungen wegen Tabakschmuggels, Drogenhandels und Umganges mit illegalen Waffen durch staatsanwaltliche Anordnung einer zweijährigen polizeilichen Überwachung unterstellt worden. Diese "vorbeugende Maßnahme" umfasste ua Meldeverpflichtungen, Ausgangsverbote sowie Ausgangsbeschränkungen, Handyverbote und zahlreiche weitere Einschränkungen, wie beispielsweise sogar das Verbot der Teilnahme an öffentlichen Versammlungen, die damit begründet wurden, dass der Beschwerdeführer den Großteil seines Lebensunterhaltes durch eine hohe kriminelle Aktivität erworben habe.
Der EGMR schloss in diesem Fall zunächst die Anwendbarkeit des Art5 EMRK aus und erkannte in Folge, dass in Bezug auf Art2 des 4. ZPEMRK eine Verletzung stattgefunden habe, da der Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit auf Grund der Unbestimmtheit der gesetzlichen Grundlage nicht auf gesetzlichen Normen beruhte. In Bezug auf Art6 EMRK sprach der EGMR aus, eine Anwendung des zivilrechtlichen Zweiges von Art6 EMRK sei auch auf Fälle möglich, die zunächst kein ziviles Recht zu betreffen scheinen, die aber direkte und bedeutsame Auswirkungen auf ein persönliches Recht eines Individuums haben können. Die nach dem italienischen Gesetz verhängten vorbeugenden Maßnahmen griffen nach Auffassung des EGMR derart intensiv in die persönlichen Rechte des Betroffenen ein, dass der Anwendungsbereich des Art6 EMRK im vorliegenden Fall eröffnet war und auch eine Verletzung teilweise bejaht wurde. Eine Verletzung von Art13 EMRK konnte der EGMR in der Folge allerdings nicht erkennen.
Dieser Fall ist weder hinsichtlich der Sach- noch der Rechtslage mit Blick auf die Dauer und Intensität der vorbeugenden Maßnahmen mit den Rechtsfolgen, die in §38a SPG vorgesehen sind, vergleichbar.
Die mit der Novelle 2019, BGBl I 105, in §38a SPG normierten Weiterungen bei der Verhängung von Betretungs- und Annäherungsverboten haben – trotz der neu eingeführten Rechtsfolgen, nämlich der verpflichtenden Teilnahme an einer Beratung und eines vorläufigen Waffenverbotes – an der Beurteilung, dass das Verfahren gemäß §38a SPG nicht dem Art6 EMRK unterfällt, nichts geändert. Mit der im Gesetz vorgesehenen Administrativmaßnahme des §38a SPG, die allein präventiven Charakter hat, soll sichergestellt werden, dass die einschreitenden Sicherheitsorgane eine Maßnahme zur Vermeidung von Gewalttaten ohne Verzögerung setzen können.
Zu dem vom LVwG vorgebrachten Argument von kurzfristigen Auswirkungen eines Betretungs- und Annäherungsverbotes auf die Verfügungsgewalt über Eigentum ist bloß darauf zu verweisen, dass dies Begleiterscheinungen sind, die (noch) nicht geeignet sind, die Anwendbarkeit des Art6 EMRK im Verfahren nach §38a SPG zu eröffnen. Aus §38a Abs10 SPG ergibt sich zudem, dass es sich um eine administrativrechtliche provisorische Maßnahme handelt.
Auf die angefochtene Regelung des §38a SPG ist daher weder Art6 EMRK noch Art47 Abs2 GRC anwendbar.
Kein Verstoß gegen Art130 Abs1 Z2 B‑VG:
Vorauszuschicken ist, dass das LVwG in Bezug auf sein Bedenken hinsichtlich der Beschränkung seiner Tatsachenkognitionsbefugnis den Sitz der Verfassungswidrigkeit ebenfalls in §38a SPG verortet, wobei es übersieht, dass diese Bestimmung keine Aussage über die Kognitionsbefugnis der LVwG im Rahmen der nachprüfenden Kontrolle enthält. Schon aus diesem Grund geht das Bedenken ins Leere.
Wenn das antragstellende Gericht davon ausgeht, es müsse von Verfassungs wegen zumindest dann, wenn ein behördlicher (Befehls- und Zwangs-)Akt bekämpft wird, dem eine Prognoseentscheidung des einschreitenden Organs zugrunde liegt, seine eigene Beurteilung an dessen Stelle setzen können, trifft dies nicht zu; es handelt sich um einen – wie auch in anderen Verfahren üblichen – dem Charakter der Prognoseentscheidung entsprechenden Prüfungsmaßstab, innerhalb dessen das Verwaltungsgericht die durch die einschreitenden Organe ausgesprochene Anordnung umfassend zu überprüfen hat.
Das Verfahren gemäß §38a SPG stellt jedenfalls sicher, dass die Kontrolle der vom Sicherheitsorgan verhängten Maßnahme dahingehend erfolgt, ob dessen Entscheidung dem Zweck des Gesetzes entsprechend (Gewaltprävention) und unter Einhaltung der im §38a SPG vorgegebenen Verfahren und deren Dokumentation – also rechtmäßig – erfolgt ist.
Jedoch ist dem LVwG insoweit zuzustimmen, als ein Verwaltungsgericht im Verfahren betreffend die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes die Anordnung zu überprüfen und allenfalls zu ermitteln hat, ob die einschreitenden Organe auf Grund bestimmter Tatsachen auf Basis des dokumentierten Sachverhaltes das Vorliegen einer Gefahrensituation annehmen konnten, welche die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes geboten hat.
In diese Rechtmäßigkeitskontrolle ist nur miteinzubeziehen, welche Sachverhaltselemente den einschreitenden Organen mit der im Hinblick auf den Zeitfaktor zumutbaren Sorgfalt im konkreten Kontext bekannt sein mussten.
Kein Verstoß gegen das Determinierungsgebot des Art18 Abs1 B‑VG:
Der zugrundeliegende Sachverhalt, der vom LVwG angezogenen Rechtssache De Tommaso, unterscheidet sich deutlich von den hier vorliegenden Sachverhalten und ist auch die der anzuordnenden Präventivmaßnahme zugrunde liegende Rechtslage eine völlig andere. §38a Abs1 SPG ermächtigt zur Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes, wenn "auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass [die als Gefährder bezeichnete Person] einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit, insbesondere in einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, begehen werde […]". Mit Blick auf die umfassende und gefestigte Rsp sowie auf die Erläuterungen ist der Begriff der "bestimmten Tatsachen" jedenfalls einer Auslegung zugänglich und daher iSd Art18 B‑VG hinreichend bestimmt.
Kein Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit:
Im Zusammenhang mit dem Betretungs- und Annäherungsverbot nach §38a SPG sowie der Verpflichtung zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung genügt es, auf E v 07.12.2023, G105/2023, zu verweisen: Die Gewaltpräventionsberatung stellt zunächst eine Beratungsleistung dar, die den Betroffenen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung – sowohl des aktuellen Konfliktes als auch zukünftiger Konflikte – aufzeigen und den Betroffenen Halt in Krisensituation geben soll. Der durch §38a Abs1 und Abs8 SPG bewirkte Eingriff in die Bewegungsfreiheit verfolgt das legitime Ziel des in §22 Abs2 und 4 SPG genannten Schutzes vor gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt, ist verhältnismäßig und auch erforderlich, um etwa im Bereich der häuslichen Gewalt rasch eine Deeskalation zu bewirken und letztlich die Begehung von Straftaten zu verhindern.
Kein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot:
Die insoweit vom LVwG behauptete Beschränkung der Kognitionsbefugnis liegt nicht vor. Zur sachlichen Rechtfertigung für die Normierung der gesetzlichen Rechtsfolgen der verpflichtenden Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung vgl E v 07.12.2023, G105/2023.
Kein Verstoß gegen Art13 EMRK bzw Art47 GRC sowie das Rechtsstaatsprinzip:
Der Umstand, dass nicht jede Rechtsfolge der Maßnahme (die Gewaltpräventionsberatung gemäß §38a Abs8 SPG sowie das vorläufige Waffenverbot nach §13 Abs1 zweiter Satz WaffG) gesondert anfechtbar ist bzw im Falle der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme nicht mehr lückenlos rückgängig gemacht werden kann, macht die Regelung als solche im gegebenen Zusammenhang nicht bereits verfassungswidrig.
In Bezug auf die Abnahme von Waffen (§13 Abs1 zweiter Satz WaffG) führt die Bundesregierung aus, dass diese Bestimmung im Rahmen der Umsetzung des zweiten Anti-Terror-Maßnahmenpaketes eingeführt wurde. Vor dem Hintergrund zunehmender Gewaltbereitschaft sollen laut den Materialien im Falle einer Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes die gleichen Rechtsfolgen wie bei alleiniger Aussprache eines vorläufigen Waffenverbotes eintreten, sodass die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in diesen Fällen ermächtigt sind, sämtliche Waffen, Munition und waffenrechtliche Urkunden des Betroffenen sicherzustellen und die Waffenbehörde über das vorläufige Waffenverbot zu informieren.
Im gegebenen Kontext kann der VfGH – auch mit Blick auf die Entscheidung des EGMR vom 04.07.2019, Appl 62.903/15, Kurt – nicht finden, dass das mit einem Betretungs- und Annäherungsverbot verbundene Waffenverbot unverhältnismäßig oder überschießend wäre; daher kann er auch dieses Bedenken nicht teilen.