JudikaturVfGH

G105/2023 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
Öffentliches Recht
07. Dezember 2023
Leitsatz

Kein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Verpflichtung des Gefährders zur Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung nach Ausspruch eines Betretungs- und Annäherungsverbots; Verhältnismäßigkeit der Rechtsfolgen des Eingriffs in die Rechte des Gefährders zur Hintanhaltung künftiger Gewaltsituationen

Abweisung von Gerichtsanträgen auf Aufhebung des §25 Abs4, näher bezeichneter Wortfolgen in §38a Abs2 Z 4, §38a Abs8 und §84 Abs1b Z3 SPG idF BGBI I 147/2022, sowie näher bezeichneter Wortfolgen in §382f Abs4 der EO idF BGBI I 202/2021.

Kein Verstoß gegen Art5 EMRK:

Aus §38a SPG ergibt sich, dass ein Betretungs- und Annäherungsverbot (ebenso wie eine Wegweisung) an die Voraussetzung geknüpft ist, dass auf Grund bestimmter Tatsachen (Vorfälle) anzunehmen ist, ein gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit einer gefährdeten Person stehe bevor.

Welche Tatsachen als solche iSd §38a SPG in Frage kommen, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Diese Tatsachen müssen (idR auf Grund bekannter Vorfälle) die Annahme rechtfertigen, dass plausibel und nachvollziehbar bestimmte künftige "gefährliche" Verhaltensweisen zu erwarten sein könnten. Auf Grund des sich den einschreitenden Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes bietenden Gesamtbildes muss mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, dass ein gefährlicher Angriff im genannten Sinn durch den "Gefährder" bevorstehe. Bei dieser Prognose ist vom Wissensstand des Beamten im Zeitpunkt des Einschreitens auszugehen. Der einschreitende Beamte hat somit rasch und situationsbezogen in einer bereits eskalierten Gesamtsituation mit zwei oder mehr Beteiligten zu handeln. Diese Ersteinschätzung durch die einschreitenden Sicherheitsorgane unterliegt innerhalb von drei Tagen einer Überprüfung durch die Sicherheitsbehörde.

Das Verwaltungsgericht hat die Rechtmäßigkeit eines gemäß §38a SPG angeordneten Betretungs- und Annäherungsverbots im Sinne einer objektivierten ex ante Betrachtung aus dem Blickwinkel der einschreitenden Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Zeitpunkt ihres Einschreitens zu prüfen.

Es liegt keine Verknüpfung der Sicherheitsmaßnahme mit einer "vorbeugenden, einer Bestrafung gleichkommenden Maßnahme" ohne "vorangegangenes faires Verfahren" vor.

Das Konzept von §38a SPG geht davon aus, dass die jeweiligen Streitparteien jedenfalls vorerst schnell voneinander zu trennen sind. Die präventive, unterstützende und begleitende Maßnahme der Gewaltpräventionsberatung, die spezifisch für Gewalt im häuslichen Bereich etabliert wurde, soll den Betroffenen Möglichkeiten aufzeigen, zukünftig Gewalt insbesondere im privaten Bereich zu vermeiden.

Der Gesetzgeber eröffnet an sich auch dem "Gefährdeten" Möglichkeiten einer entsprechenden Beratung und zudem werden Einrichtungen zum Schutz der von solchen Krisensituationen möglicherweise betroffenen Kinder aktiv. Nach §38a Abs4 SPG besteht eine Verpflichtung der einschreitenden Organe, einem "Gefährdeten" geeignete Opferschutzeinrichtungen als Ansprechstellen bekanntzugeben, und für den Fall, dass Minderjährige involviert sind, sind verpflichtend jene Personen, in deren Obhut sich diese regelmäßig befinden, bzw allenfalls der örtliche Kinder- und Jugendhilfeträger zu informieren. Dennoch ist festzuhalten, dass nach der Intention des Gesetzgebers zu "opferschutzorientierter Täterarbeit" §38a Abs8 SPG eben gerade darauf abstellt, dass zunächst der nach der Einschätzung der einschreitenden Sicherheitsorgane und Überprüfung durch die Sicherheitsbehörde als "Gefährder" Erkannte abgesondert und damit unverzüglich zu einer Beratung verpflichtet wird, dem "Gefährdeten" hingegen die Möglichkeit einer Beratung auf freiwilliger Basis immer offensteht (Interventionsstellen).

Bei einer Gesamtbetrachtung des Gesamtablaufes dieser Präventionsmaßnahme wird deutlich, dass – ungeachtet der Verpflichtung, sich dieser Maßnahme zu unterziehen – diese dadurch nicht den Charakter einer Strafe, wovon das antragstellende Gericht ausgeht, erhält.

Kein Verstoß gegen Art6 und Art8 EMRK:

In Bezug auf Art6 EMRK sind die allfälligen Auswirkungen eines Betretungs- und Annäherungsverbotes mit all seinen Rechtsfolgen auf den Betroffenen, von seinem Eigentum kurzfristig (§38a Abs10 SPG) keinen Gebrauch machen zu können bzw in seinen (übrigen) familiären Kontakten kurzfristig eingeschränkt zu sein, lediglich mittelbare und von ihrem Umfang und ihrer Intensität her im vorliegenden Fall noch nicht geeignet, eine Anwendbarkeit des Art6 EMRK zu eröffnen.

In Bezug auf Art8 EMRK ist anzumerken, dass der Staat mit der Präventionsmaßnahme – der Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbotes samt seinen Rechtsfolgen, insbesondere jener in §38a Abs8 SPG – auch seiner Schutzpflicht gegenüber Personen, deren physische Integrität beeinträchtigt wird, nachkommt.

Wenn das LVwG zudem auch der Auffassung ist, dass die Teilnahme an einer Gewaltpräventionsberatung rückwirkend, im Falle einer (nachträglichen) Behebung des Betretungs- und Annäherungsverbotes, nicht mehr folgenlos rückgängig gemacht werden könne, ist dem bloß entgegenzuhalten, dass vereinzelte Fälle, in denen ein Gefährdeter die Beratung gemäß §38a Abs8 SPG absolvieren musste, obwohl rückwirkend das Betretungs- und Annäherungsverbot behoben wurde – sei es wegen Rechtswidrigkeit seiner Verhängung, sei es wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften, etwa fehlende Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden innerhalb der gesetzlichen Frist nach §38a Abs7 SPG – (noch) keinen Verstoß des Regelungssystems an sich gegen Grundrechte bedeuten. Solche vereinzelten Fälle betreffen den Vollzug, führen jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.

(Vgl E v 07.12.2023, G590/2023 ua; Abweisung eines Gerichtsantrags auf Aufhebung des §38a SPG sowie des §13 Abs1 zweiter Satz WaffenG).