10Rs16/25h – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Atria als Vorsitzenden, die Richterin Mag. Oberbauer und den Richter Mag. Schmoliner sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Helmut Oberzaucher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Elisabeth Schubert (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb. **, **, vertreten durch Mag. Johannes Polt, Rechtsanwalt in Horn, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, **, wegen Invaliditätspension und Rehabilitationsgeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 10.10.2024, GZ **-18, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Berufung selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am ** geborene Kläger hat keinen Lehrberuf erlernt und einen solchen in den letzten 15 Jahren vor dem 1.10.2023 auch nicht ausgeübt. Er hat insgesamt 153 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach dem ASVG erworben.
Aufgrund diverser Leiden ist er in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Vom 1.10.2023 bis Anfang Juli 2024 waren ihm leichte und mittelschwere Arbeiten ganztägig bei den üblichen Pausen zumutbar. Von Anfang Juli 2024 bis Anfang Oktober 2024 war er aufgrund einer depressiven Erkrankung in Kombination mit einer Persönlichkeitsakzentuierung nicht arbeitsfähig. Seit Anfang Oktober 2024 sind ihm wieder alle leichten und mittelschweren Arbeiten ganztägig unter den üblichen Pausen zumutbar; ausgeschlossen bleiben ein mehr als durchschnittlicher Zeitdruck (bei zehnprozentiger Überschreitungsmöglichkeit) bei knapp durchschnittlicher psychischer Belastbarkeit sowie Nachtarbeit. Das geistige Leistungsvermögen des Klägers ist mäßig schwierig. Zumutbar sind Aufsichtstätigkeiten nur in kleinen Gruppen und nicht belastender Kundenkontakt. Der Anmarschweg zur Arbeitsstätte ist gegeben, wobei Umzug und Wochenpendeln sowie Tagespendeln zumutbar sind. Unter Einhaltung dieses Leistungskalküls sind keine Krankenstände zu erwarten; es liegt auch keine Leidensbeeinflussung oder -potenzierung vor. Mit diesem Leistungskalkül ist der Kläger als Lagerarbeiter oder Staplerfahrer in Umschlagslagern, in einer Speditionslogistik oder in Produktions- und Handelsbetrieben sowie als Industriereinigungskraft einsetzbar.
Mit Bescheid vom 12.3.2024 (Beilage ./A) wies die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach aus, dass kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung sowie auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
Dagegen richtet sich die vorliegende Klage mit dem Antrag, dem Kläger ab 1.10.2023 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen. Er sei nicht in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, weil er überhaupt nicht belastbar sei.
Die Beklagte wandte ein, der Kläger sei im Beobachtungszeitraum nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig gewesen. Er sei infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht außer Stande, durch eine Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertet werde und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden könne, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflege.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Begehren auf Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.10.2023 sowie das „implizit erhobene Begehren“ auf Gewährung von Rehabilitationsgeld ab 1.10.2023 im gesetzlichen Ausmaß aufgrund einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit ab. Es traf dazu neben dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt die aus den Urteilsseiten 3 und 4 ersichtlichen Feststellungen, die durchwegs unbekämpft geblieben sind und auf welche verwiesen wird.
Rechtlich folgerte es, der Kläger genieße keinen Berufsschutz, weil er in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nicht 90 Monate hindurch einen Lehrberuf ausgeübt habe. Seine Arbeitsunfähigkeit sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen und er könne auf den gesamten Arbeitsmarkt verwiesen werden. Da es dem Kläger möglich sei, als Staplerfahrer oder Industriereinigungskraft tätig zu werden, liege eine Invalidität im Sinne der zitierten Bestimmung nicht vor. Es bestehe auch kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld, weil keine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Monaten vorliege.
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers ausschließlich wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, das Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern, hilfsweise es aufzuheben und die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beteiligte sich nicht am Berufungsverfahren.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt .
1. Nach der Berufung sei das erstinstanzliche Verfahren mangelhaft geblieben, weil das Erstgericht entgegen der es treffenden Anleitungspflicht dem Kläger nicht aufgetragen habe, den Befund der ihn behandelnden Fachärztin Dr. B* vom 7.10.2024 vorzulegen und daran anschließend eine Ergänzung der eingeholten Sachverständigengutachten, insbesondere jenem aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie, unterlassen habe.
§ 39 Abs 2 Z 1 ASGG sieht eine erweiterte richterliche Anleitungspflicht vor, deren Verletzung einen Verfahrensmangel bewirken kann ( Neumayr in Neumayr / Reissner , ZellKomm 3§ 39 ASGG Rz 4; RS0109338).
Medizinische Fachfragen sind im sozialgerichtlichen Verfahren durch Sachverständige zu klären; der Versicherte muss allerdings die Möglichkeit haben, seine Beschwerden und Befindlichkeiten dem medizinischen Sachverständigen vorzutragen. Privatärztliche Befunde können grundsätzlich ein Gutachten des im Gerichtsverfahren bestellten Sachverständigen nicht entkräften, sie dürfen aber im Verfahren nicht übergangen werden, sondern sind diesem zur Einsicht vorzulegen, damit er dazu überprüfbar Stellung nimmt ( NeumayraaO § 75 ASGG Rz 8 mwN; OLG Wien 10 Rs 335/02m = SVSlg 50.101 ua).
Vorliegend hat der Kläger in der Verhandlung vom 10.10.2024 (ON 15.1, PS 2) den Befund der ihn behandelnden Fachärztin Dr. B* vom 7.10.2024 in Form eines auf seinem Handy gespeicherten Fotos der Gerichtssachverständigen aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie Dr. C* gezeigt. Diese hat sich in Folge mit diesem Befund auseinandergesetzt und dahingehend Stellung genommen, dass dieser nur die subjektiven Angaben des Klägers wiedergebe, weshalb sie ihre gutachterliche Einschätzung, nach der beim Kläger eine deutliche Besserung eingetreten sei, aufrecht erhalte. Aus ihrer Sicht bestehe auch keine Notwendigkeit einer Nachuntersuchung. Warum die Sachverständige zu einer anderen Einschätzung gelangt wäre, wenn das Erstgericht dem Kläger aufgetragen hätte, diesen Befund als Urkunde vorzulegen und die Gerichtssachverständige damit – anstelle bloß mit dem abfotografierten Befund auf dem Handy des Klägers – zu befassen, legt die Berufung nicht näher dar.
Im Übrigen kann im Allgemeinen davon ausgegangen werden, dass medizinische Sachverständige die Notwendigkeit allfälliger weiterer Untersuchungen beurteilen können (OLG Wien 8 Rs 75/01k = SVSlg 50.069; 9 Rs 103/04i = SVSlg 50.447; NeumayraaO § 75 ASGG Rz 9). Eine solche Notwendigkeit sah die Sachverständige hier trotz Kenntnis des privatärztlichen Befundes vom 7.10.2024 nicht.
Ein relevanter Verfahrensmangel liegt damit nicht vor.
2.Eine Rechtsrüge enthält die Berufung nicht. Mit dem Hinweis auf die zutreffenden rechtlichen Ausführungen des Erstgerichts (§ 500a ZPO) hat es damit sein Bewenden. Die Berufung musste daher insgesamt erfolglos bleiben.
3.Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG wurden in der Berufung nicht vorgebracht und sind aus dem Akteninhalt nicht zu erkennen. Der Kläger hat daher die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
4.Da auch in Sozialrechtssachen ein Mangel des Verfahrens erster Instanz, dessen Vorliegen vom Berufungsgericht verneint wurde, mit Revision nicht mehr geltend gemacht werden kann (RS0043061) und sich im Übrigen keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO stellen, ist die ordentliche Revision nicht zulässig.