9Rs5/25h – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Pöhlmann als Vorsitzenden, die Richterin Mag.Dr. Vogler und den Richter Mag. Falmbigl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Rudolf North und Mag. Irene Holzbauer in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , **, vertreten durch Mag. Roman Maier, ebendort, wegen Pflegegeld über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 11.9.2024, **-14, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass es lautet:
„ Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1.4.2024 Pflegegeld der Stufe 6 von monatlich EUR 1.568,90 und EUR 1.641,10 ab 1.1.2025 zu zahlen und zwar die fälligen Differenzbeträge zum bereits ausbezahlten Pflegegeld binnen 14 Tagen und die künftig fällig werdenden Beträge jeweils am Ersten des Folgemonats im Nachhinein.
Das darüber hinausgehende Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei bereits ab 1.2.2024 ein höheres Pflegegeld, als jenes der Stufe 2 zu zahlen, wird abgewiesen. “
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin bezog laufend Pflegegeld der Stufe 2 und beantragte am 30.1.2024 dessen Erhöhung. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.4.2024 wies die Beklagte diesen Antrag ab.
Mit dem angefochtenen Urteil verpflichtete das Erstgericht die Beklagte zur Leistung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1.2.2024. Es traf die auf den S 2 bis 3 der Urteilsausfertigung ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen wird. Daraus wird hervorgehoben (die bekämpfte Feststellung ist unterstrichen):
„ Spätestens seit Jänner 2024 kann die Klägerin von den nachfolgenden Verrichtungen des täglichen Lebens die nachstehenden nicht mehr selbständig ausführen und benötigt daher im folgenden Ausmaß Hilfe und Betreuung (Pflegebedarf): tägliche Körperpflege, Zubereitung der Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft, An- und Auskleiden, Reinigung bei Inkontinenz, Einnahme von Medikamenten, Mobilitätshilfe im engeren Sinn, Herbeischaffung von Lebensmitteln und Medikamenten, Reinigung der Wohnung, Pflege der Leib- und Bettwäsche, Mobilitätshilfe im weiteren Sinn.
Die Klägerin leidet an einer Demenz vom Alzheimertyp, Schlafstörungen, Angststörung, wahnhafte Realitätsverarbeitung, Bluthochdruck, arterielle Verschlusskrankheit, Zustand nach Unterschenkelbruch 2013, Vitamin D-Mangel, Zustand nach Schrittmacherimplantation 1/2022 und zeitweise Herzrhythmusstörung.
Daraus resultiert eine schwere Verhaltensstörung und zwar Aggression gegen Mitbewohner, die Klägerin schmiert Stuhl, sie uriniert außerhalb der Toilette, sie ist stationsflüchtig, ihre Zimmernachbarin fürchtet sich vor ihr, und dadurch ist die Pflege erschwert.
Die Klägerin kann keinesfalls eine Stunde lang alleine gelassen werden. Es ist erforderlich, dass eine Betreuungsperson sich bei Tag und bei Nacht im Wohnbereich der Klägerin permanent aufhält, weil sowohl eine Selbst- als auch eine Fremdgefährdung besteht. “
Rechtlich folgerte das Erstgericht, gemäß den entsprechenden Bestimmungen des BPGG und der Einstufungsverordnung bestehe ein durchschnittlicher monatlicher Pflegebedarf der Klägerin von 228 Stunden. Es sei die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben sei, sodass der Klägerin Pflegegeld der Stufe 6 gebühre.
Die Berufung der Beklagten richtet sich ausschließlich gegen den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6 bereits ab 1.2.2024. Beantragt wird, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass Pflegegeld der Stufe 6 erst ab 1.4.2024 zu bezahlen sei. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Klägerin beteiligte sich nicht am Berufungsverfahren.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist berechtigt .
1. Mit ihrer Berufung wendet sich die Beklagte gegen die Feststellung des Erstgerichts, wonach bereits „spätestens seit Jänner 2024“ jener Pflegebedarf bestanden habe, der einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 begründet. Aus dem schriftlichen Gutachten ergebe sich, dass die Sachverständige den erhöhten Pflegebedarf erst mit einer Beurteilung ab März 2024 angenommen habe. In der mündlichen Verhandlung habe die Sachverständige erörtert, dass aus ihrer Sicht völlig nachvollziehbar sei, dass die Angehörigen mit dem Vorfall vom 18. März eine massive Verschlechterung des Zustands der Klägerin wahrgenommen hätten. Begehrt werde daher die Feststellung, dass der erhöhte Pflegebedarf (erst) seit 18.3.2024 bestanden habe.
2. Damit weist die Berufung im Ergebnis zutreffend auf eine dem Erstgericht offenbar irrtümlich unterlaufene Aktenwidrigkeit hin:
Das Erstgericht bestellte eine Sachverständige aus dem Fachgebiet der Allgemeinmedizin mit dem Auftrag, Befund und Gutachten über den Gesundheitszustand der Klägerin und ihren Pflegebedarf zu erstatten. In ihrem schriftlichen Gutachten vom 5.8.2024 überschrieb die Sachverständige ihre abschließende Aufstellung des Pflegebedarfs mit „Beurteilung ab März 2024:“ (ON 8, S 5). In der mündlichen Verhandlung vom 11.9.2024 wurde die Sachverständige zu ihrem Gutachten befragt. In diesem Rahmen wurde ihr die Angabe des Sohnes der Klägerin vorgehalten, wonach es am 18.3. einen Vorfall gegeben hätte und das der Zeitpunkt gewesen sei, wo sich aus Sicht der Angehörigen der Zustand der Klägerin massiv verschlechtert habe. Dazu erörterte die Sachverständige, dass diese Einschätzung auch aus ihrer – medizinischen – Sicht völlig nachvollziehbar sei (vgl ON 10.1, S 2).
In der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils stützt das Erstgericht seine Feststellungen ausschließlich auf das Gutachten der Sachverständigen.
Insbesondere im Zusammenhang mit dieser Beweiswürdigung zeigt sich, dass die Feststellung, der erhöhte Pflegebedarf habe bereits seit Jänner 2024 bestanden, offenbar einem Versehen entspringt. Die Feststellung steht im Widerspruch mit dem Akteninhalt, auf den sie sich gründet und gibt insbesondere das Sachverständigengutachten nicht korrekt wieder (vgl RS0043324).
3.Die demnach vorliegende Aktenwidrigkeit ist dadurch zu beheben, dass das Rechtsmittelgericht an die Stelle der aktenwidrigen die durch den Akteninhalt gedeckte Feststellung setzt und diese der rechtlichen Beurteilung unterzieht (RS0043324 [T9, T12], RS0110055).
Nach § 9 Abs 4 BPGG ist das Pflegegeld neu zu bemessen, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt. Gemäß § 9 Abs 5 BPGG wird die Neubemessung mit dem auf die wesentliche Veränderung folgenden Monat wirksam (vgl Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 Rz 4.141).
Ausgehend vom unstrittig erhöhten Pflegebedarf ab März 2024, hat die Klägerin daher (erst) mit dem folgenden Monat, also ab 1.4.2024 Anspruch auf höheres Pflegegeld (§ 9 Abs 5 BPGG). Somit war das Urteil des Erstgerichts im Sinn des Berufungsantrags dahin abzuändern, dass der Klägerin Pflegegeld der Stufe 6 (erst) ab 1.4.2024 zusteht, wobei der Zuspruch betragsmäßig zu erfolgen hatte (RS0107801). Das Mehrbegehren war abzuweisen.
Eine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO war nicht zu beurteilen, sodass die ordentliche Revision nicht zuzulassen war.