JudikaturOLG Wien

8Ra102/24i – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
Arbeitsrecht
29. Januar 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Mag. Zacek als Vorsitzende, die Richter Mag. Zechmeister und MMag. Popelka sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Marianne Zeckl-Draxler und Michael Grandinger in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A*, geboren am **,** , vertreten durch die Brandstätter Scherbaum Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei B* GmbH Co KG, **, vertreten durch die Fellner Wratzfeld Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4.9.2024, GZ **-20, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am ** geborene Kläger hat von September 1988 bis Juli 2003 ein Bundesrealgymnasium und von September 2003 bis Juni 2004 eine Handelsschule besucht. Eine Mechatroniklehre von September 2005 bis Juni 2007 hat er nicht abgeschlossen.

Er war von Mai 2009 bis November 2010 als Hilfsarbeiter/Pflasterer, von Februar 2011 bis Mai 2014 im Bereich Lagerlogistik und Versand und von Mai 2014 bis September 2017 im Bereich Dekoration und Montage tätig.

Seit Oktober 2010 war er bei der Beklagten als C*-Fahrer tätig. Der Aufgabenbereich umfasste „insbesondere die Tätigkeit eines C*-Fahrers sowie mit dem C*-Betrieb zusammenhängende Tätigkeiten“. Auf das Dienstverhältnis ist der Kollektivvertrag der D* anwendbar.

Mit Schreiben vom 12.7.2023 kündigte die Beklagte das Dienstverhältnis zum 30.9.2023.

Der Kläger bezog von der Beklagten zuletzt ein Bruttomonatsgehalt von EUR 2.500,39, 14 Mal jährlich, sowie eine Fahrdienstzulage von EUR 29,65, 12 Mal jährlich.

Er ist österreichischer Staatsbürger, verheiratet und sorgepflichtig für zwei minderjährige Kinder (geboren ** und **). Seine Gattin arbeitet in Teilzeit und verdient monatlich rund EUR 660,00 netto.

Der Kläger kann bei intensiver persönlicher Arbeitsplatzsuche im Zeitraum ab der Kündigung per 30.9.2023 mit hoher Wahrscheinlichkeit (80 %) im Anschluss an eine normale Arbeitsplatzsuchdauer von bis zu drei Montaten eine Vollzeitbeschäftigung als Handelsangestellter, Bauhelfer, Hilfskraft im Baunebengewerbe, Transportfahrer/Zusteller, Lager- oder Produktionsarbeiter erlagen.

Beispielsweise könnte er als Transportfahrer/Zusteller mit niedrigem Anforderungsprofil (Kleintransporte, lediglich Führerschein B nötig), Handelsangestellter, Produktionsarbeiter, Hilfskraft im Baugewerbe oder Lagerarbeiter ein Bruttoeinkommen von durchschnittlich zumindest ca EUR 2.200 pro Monat zuzüglich Sonderzahlungen erzielen.

Als Bauhelfer könnte er im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung ein monatliches Bruttoeinkommen von durchschnittlich zumindest ca EUR 2.500 pro Monat zuzüglich Sonderzahlungen erzielen. Unter Annahme von vier Monaten AMS-Bezug und unter unter Berücksichtigung der anteiligen Sonderzahlungen für acht Monate ergibt sich ein Jahresbruttoeinkommen von EUR 28.833 und damit ein durchschnittliches Monatseinkommen von EUR 2.060 zuzüglich Sonderzahlungen.

Seit 1.7.2024 arbeitet der Kläger bei der E*.

Der Kläger ficht die Kündigung wegen Sozialwidrigkeit an. Er sei nicht in der Lage, in angemessener Zeit einen zumutbaren und bezüglich der Tätigkeiten und der Bezahlung annähernd gleichwertigen Arbeitsplatz zu finden.

Die Beklagte bestritt eine wesentliche Interessenbeeinträchtigung des Klägers durch die Kündigung und wandte überdies personenbezogene Kündigungsgründe ein.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht die Klage ab. Es traf die eingangs gekürzt wiedergegebenen und die weiteren auf den Seiten 2 bis 6 des Urteils ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen wird.

Rechtlich verneinte es eine Sozialwidrigkeit der Kündigung. Der Kläger könne schon nach nur drei Monaten eine Vollzeitbeschäftigung mit Einkommenseinbußen unter 20 % finden. Auch unter Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse des Klägers und seiner Familie, insbesondere der Sorgepflichten und der recht hohen monatlichen Ausgaben könne nicht von einer Sozialwidrigkeit ausgegangen werden. Ob personenbezogene Kündigungsgründe vorlägen, sei somit nicht zu prüfen.

Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil im Sinn einer Stattgebung der Klage abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt .

1. Die Berufung zielt darauf ab, dass das Erstgericht eine vom Kläger bezogene Außendienstzulage bei Beurteilung der zu erwartenden Einkommenseinbuße nicht berücksichtigt habe. Diese nach dem anzuwendenden Kollektivvertrag gebührende Zulage sei nicht von einer konkreten Mehrleistung abhängig, sodass sie bei der Sozialwidrigkeitsprüfung als lohnimmanent zu berücksichtigen sei. Unter Einbeziehung der Kinder- und der Außendienstzulage sei ein monatliches Durchschnittseinkommen von EUR 2.862,29 als Vergleichsbasis heranzuziehen. Davon ausgehend ergäben sich zu erwartende Einkommenseinbußen von 22 % bzw 27 %, wodurch gewichtige soziale Nachteile indiziert seien.

Dass das Erstgericht über den festgestellten Sachverhalt hinaus keine (weiteren) Feststellungen zu den vom Kläger bezogenen Zulagen und deren Voraussetzungen traf, rügt der Kläger in diesem Zusammenhang als sekundäre Unvollständigkeit der Sachverhaltsgrundlage.

2. Bei der Beurteilung des Anfechtungsgrundes des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG ist unter Anlegung eines objektiven Maßstabes primär zu prüfen, ob wesentliche Interessen des gekündigten Arbeitnehmers beeinträchtigt sind. Für diese Umstände ist der anfechtende Kläger behauptungs- und beweispflichtig (RS0051746). Gelingt dem Arbeitnehmer der ihm obliegende Nachweis einer wesentlichen Interessenbeeinträchtigung nicht, ist das Klagebegehren abzuweisen, ohne dass es einer Prüfung der weiteren Anfechtungsvoraussetzungen bedarf (RS0051640 [T4]).

Bei der Untersuchung, ob durch die Kündigung eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen eintritt, ist auf die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes und in diesem Zusammenhang auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Alter des Arbeitnehmers, den Verlust allfälliger dienstzeitabhängiger Ansprüche sowie der mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Vorteile abzustellen; darüber hinaus sind aber auch die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers einzubeziehen, wie Einkommen, Vermögen, auf Gesetz, Vertrag oder sittlichen Verpflichtungen beruhende Sorgepflichten, das Einkommen des Ehegatten und der anderen erwerbstätigen Familienmitglieder sowie Schulden, soweit deren Entstehungsgrund berücksichtigungswürdig ist (RS0051703).

Das Tatbestandsmerkmal der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen ist nur dann erfüllt, wenn die durch die Kündigung bewirkte finanzielle Schlechterstellung ein solches Ausmaß erreicht, dass sie eine fühlbare, ins Gewicht fallende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage zur Folge hat, ohne dass aber eine soziale Notlage oder eine Existenzgefährdung eintreten müsste (RS0051753). Da jede Kündigung die Interessen eines Dienstnehmers beeinträchtigt und damit soziale Nachteile verbunden sind, müssen Umstände vorliegen, die über das normale Maß hinaus eine Kündigung für den Arbeitnehmer nachteilig machen (RS0051753 [T5]). Gewisse Schwankungen der Einkommenslage muss nämlich jeder Arbeitnehmer im Lauf seines Arbeitslebens hinnehmen (RS0051727 [T2]).

Bei den Einkommenseinbußen ist nicht auf starre Prozentsätze abzustellen (RS0051727 [T10]). Mag etwa eine Einkommenseinbuße von 30 % bei einem geringen Einkommen für die Wesentlichkeit der Interessenbeeinträchtigung ausschlaggebend sein, muss dies bei einem höheren Einkommen noch nicht der Fall sein. In einer Durchschnittsbetrachtung werden Verdiensteinbußen von 20 % oder mehr auf gewichtige soziale Nachteile hindeuten (8 ObA 38/24g Rz 2 mwN).

Im Hinblick auf die zumutbare Dauer der zu erwartenden Arbeitslosigkeit wurde unter Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Einzelfall einerseits eine Dauer von etwa neun, zehn oder zwölf Monaten als Beeinträchtigung wesentlicher Arbeitnehmerinteressen qualifiziert, andererseits jedoch bei prognostizierten sechs bis acht Monaten oder sechs bis zwölf Monaten und zu erwartendem Fix-Einkommen etwa in der bisherigen Größenordnung ebenso verneint wie bei innerhalb von neun bis zwölf Monaten ab Ausspruch der Kündigung erwartbarer, ungefähr gleich dotierter Vollzeitbeschäftigung (8 ObA 38/24g Rz 5 mwN).

3. Entgeltbestandteile, die nicht leistungsunabhängig gebühren, sondern eine Mehrtätigkeit abgelten, sind bei Beurteilung der zu erwartenden Einkommenseinbuße nicht in die Vergleichsgrundlage einzubeziehen (vgl 9 ObA 237/99i).

Ob es sich bei der vom Kläger bezogenen Außendienstzulage um einen leistungsunabhängigen und demnach bei Beurteilung der Sozialwidrigkeit zu berücksichtigenden Entgeltbestandteil handelt, kann aber dahingestellt bleiben, weil sich selbst unter Annahme des in der Berufung als Vergleichsgrundlage herangezogenen Bruttomonatseinkommens von EUR 2.862,29 keine wesentliche Interessenbeeinträchtigung ergibt.

Als Bauhelfer könnte der Kläger ca EUR 2.500 brutto monatlich verdienen (siehe Urteil Seite 5). Die Einkommenseinbuße läge damit deutlich unter 20 %.

Die Berufung meint, das Erstgericht habe das vom Kläger als Bauhelfer erzielbare Bruttoeinkommen mit EUR 2.060 festgestellt. Damit entfernt sie sich aber vom festgestellten Sachverhalt. Beim genannten Betrag handelt es sich um den monatlichen Durchschnitt eines Jahresbezugs unter der Annahme, dass der Kläger in diesem Zeitraum vier Monate lang Arbeitslosengeld bezieht.

Die mit der vorübergehenden Arbeitslosigkeit verbundenen Nachteile sind unter dem Gesichtspunkt der zumutbaren Arbeitsplatzsuchdauer zu berücksichtigen. Der Einkommensvergleich bezieht sich demgegenüber auf das in einer neuen beruflichen Stellung tatsächlich erzielbare Einkommen. Eine doppelte Berücksichtigung der Arbeitslosigkeit durch Ermittlung eines die Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs einschließenden Jahresbezugs hat nicht zu erfolgen. Abgesehen davon steht hier auch nur fest, dass die Arbeitsplatzsuchdauer „bis zu drei Monaten“ beträgt.

Auch unter Berücksichtigung der Sorgepflicht des Klägers für zwei Kinder, des Einkommens der Ehefrau sowie der vom Erstgericht festgestellten Familienausgaben einschließlich der Kreditbelastung ist die Ausübung des Berufs eines Bauhelfers dem Kläger wirtschaftlich zumutbar.

Angesichts seines vergleichsweise jungen Alters und der kurzen Postensuchdauer wäre ihm überdies wirtschaftlich zumutbar, einen der weiteren vom Erstgericht festgestellten Berufe – mit einem durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommen von EUR 2.200 und somit einer Einkommenseinbuße von etwas über 20 % - auszuüben. Auf starre Prozentsätze kommt es – wie dargelegt – nicht an.

4. Die Berufung führt weiter aus, dass der Kläger keine berufliche Erfahrung am Bau oder in einer ähnlichen Branche vorzuweisen habe. Seine Tätigkeit als C*-Fahrer habe er in den vergangenen sechs Jahren hauptsächlich sitzend erbracht. Die mit den Verweisungstätigkeiten als Bauhelfer, Produktionsarbeiter, Lagerarbeiter und Transportfahrer einhergehende körperliche Ertüchtigung sei, vor allem in Kombination mit dem damit einhergehenden niedrigen sozialen Ansehen, als Schlechterstellung anzusehen. Insgesamt seien die im Gutachten genannten Verweistätigkeiten aufgrund der Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht als gleichwertige Verdienstmöglichkeiten zu betrachten.

Festzuhalten ist, dass der Kläger in der Berufung nicht mehr auf sein erstinstanzliches Vorbringen zurückkommt, wonach ihm wegen starker Knieschmerzen die Ausübung der vom Sachverständigen angeführten (und später vom Erstgericht festgestellten) Verweisungsberufe nicht zumutbar sei, soweit es sich um Tätigkeiten im Stehen oder unter körperlicher Belastung handle (ON 61, Seite 5). In der Berufung behauptet der Kläger auch gar nicht, dass das Erstgericht hierzu Feststellungen zu treffen gehabt hätte, sondern stützt sich nunmehr bloß darauf, dass ihm mit höherer körperlicher Belastung verbundene Berufe im Hinblick auf seinen bisherigen Berufsverlauf nicht zumutbar seien. Eine konkrete Einschränkung seines Leistungskalküls behauptet er nicht mehr.

5. Die Zumutbarkeit eines Ersatzarbeitsplatzes ist auch hinsichtlich der sonstigen Arbeitsbedingungen zu prüfen. Da der Ersatzarbeitsplatz auch hinsichtlich der Arbeitsbedingungen gleichwertig dem gekündigten Arbeitsverhältnis sein muss, ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, eine qualitätsmäßig geringere Position anzunehmen ( Wolliger in Neumayr/Reissner, ZellKomm 3 § 105 ArbVG Rz 159). So sind etwa Zeiten der Arbeitslosigkeit in saisonschwachen Zeiten, aber gegebenenfalls auch härtere Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen (vgl 9 ObA 300/98b). Als zumutbar erachtet wurden etwa die Beschäftigung eines Postzustellers als Lagerarbeiter (8 ObA 64/16v = ARD 6531/8/2017) oder eines U-Bahn-Fahrers als Call-Center-Mitarbeiter oder Triebfahrzeugführer (9 ObA 88/22i).

Die Verweisung des als C*-Fahrer tätig gewesenen, zum Kündigungszeitpunkt 35 Jahre alten Klägers auf körperlich fordernde Tätigkeiten erscheint nach den Umständen des Falls nicht unzumutbar, zumal er – entgegen dem Berufungsvorbringen – bereits in der Vergangenheit als Bauhelfer/Pflasterer tätig war. Auch eine die Zumutbarkeit ausschließende geringere soziale Wertschätzung der vom Erstgericht festgestellten möglichen Berufe ist nicht erkennbar.

Überdies hätte der Kläger (der nun faktisch bei der E* arbeitet) auch als Handelsangestellter tätig werden können.

6. Die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts, wonach keine Sozialwidrigkeit vorliegt, ist somit zutreffend, sodass der Berufung nicht Folge zu geben war.

7. Gemäß §§ 58 Abs 1 iVm 50 Abs 2 ASGG besteht im Kündigungsanfechtungsverfahren in zweiter Instanz kein Kostenersatzanspruch. In Übereinstimmung damit haben die Parteien keine Kosten verzeichnet, sodass eine Kostenentscheidung entfällt.

8. Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen. Ob die Sozialwidrigkeit der Kündigung nachgewiesen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und stellt in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0051640 [T5]; RS0051741 [T3, T9]; RS0051753 [T9]).