10ObS50/25p – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Annerl als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und den Hofrat Dr. Vollmaier sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Michael Mutz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch Klein, Wuntschek Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über den (richtig:) Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 18. Februar 2025, GZ 7 Rs 6/25v 19, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits und Sozialgericht vom 23. September 2024, GZ 59 Cgs 30/24k 13, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
[1] Der 1963 geborene Kläger leidet an den Folgen einer Nervenschädigung im Rückenmark und lebt seit November 2023 in einem Pflegeheim. Der Kläger ist aktuell rollstuhlmobil; mit dem Rollator kann er nur unter naher Supervision und Hilfestellung einer Pflegeperson gehen, dies aufgrund der Gang und Koordinationsstörung vor allem die linke Körperseite betreffend. Auch besteht eine eingeschränkte Hantierfähigkeit wie Feinmotorikstörung in den Händen bei verminderter Handkraft und Streckdefizit einzelner Finger beidseits.
[2] Ohne Anhalten ist der Kläger nicht stehfähig und benötigt Hilfestellung bei der Verrichtung der großen Notdurft ein bis zweimal täglich. Zur Erleichterung der Pflege uriniert der Kläger, wenn er im Bett liegt, in eine Harnflasche, die sich neben dem Bett befindet. Diese kann er selbst ergreifen; sie muss nach zweimaligem Harnlassen vom Pflegepersonal entleert und gereinigt werden, weil es sonst zu Verschütten und Verunreinigung der Bettwäsche kommen würde. Die ca halbgefüllte Harnflasche muss über 24 Stunden 6–7 mal entleert und gereinigt werden.
[3] Im Übrigen benötigt der Kläger aufgrund seiner Einschränkungen Hilfestellung bei der Mobilität im engeren und weiteren Sinn, der täglichen Körperpflege, der Zubereitung der Mahlzeiten, der Medikamenteneinnahme, dem An und Auskleiden, der Herbeischaffung von Lebensmitteln, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie der Pflege der Leib und Bettwäsche.
[4] Mit Bescheid vom 6. 2. 2024 erkannte die beklagte Partei aufgrund des Antrags des Klägers vom 3. 10. 2023 ihm Pflegegeld der Stufe 3 ab 1. 11. 2023 zu.
[5] Mit seiner dagegen eingebrachten Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes als das der Stufe 3 in der gesetzlichen Höhe.
[6] In dritter Instanz ist nur noch der Pflegebedarf im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft strittig.
[7] Das Erstgericht sprach dem Kläger ein Pflegegeld der Stufe 4 zu. Das auf die Leistung eines darüber hinausgehenden Pflegegelds gerichtete Klagebegehren wurde rechtskräftig abgewiesen.
[8] Dieser Entscheidung liegt ein monatlicher Betreuungs und Hilfsbedarf von 163 Stunden zugrunde. Das Erstgericht ging davon aus, dass beim Kläger (wegen der summierten Einschränkungen, auch hinsichtlich der Entleerung und Reinigung der Harnflasche) der Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft nicht relevant unterschritten werde, weshalb es dafür einen Bedarf von 30 Stunden im Monat ansetzte. Dabei berücksichtigte es den Richtwert für die Entleerung und Reinigung der Harnflasche nicht mehr gesondert.
[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, hob das Ersturteil auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.
[10] Es ging davon aus, dass nach dem derzeitigen Verfahrensstand der erforderliche Betreuungsaufwand für ein Pflegegeld der Stufe 4 von mehr als 160 Stunden monatlich nicht erreicht werde. Erkennbar ging das Berufungsgericht von einem derzeitig feststehenden Bedarf von 150,5 Stunden aus.
[11] Nach dem derzeitigen Verfahrensstand sei nämlich eine Betreuung nur bei der Verrichtung der großen Notdurft erforderlich, wobei hierfür nur ein Pflegebedarf von 2,5 Stunden pro Monat als angemessen zu veranschlagen sei, sodass der Mindestwert wesentlich unterschritten werde. Hingegen falle das Entleeren der Harnflasche unter die Betreuungsleistung nach § 1 Abs 3 EinstV. Aufgrund eines relevanten Überschreitens des hierfür vorgesehenen Richtwerts könne von 15 Stunden monatlich ausgegangen werden. Eine Addition der beiden Werte, um sodann zum Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft zu gelangen, könne nicht vorgenommen werden. Vielmehr handle es sich um zwei unterschiedliche Betreuungsleistungen.
[12] Allerdings stehe nur fest, dass der Kläger zur Erleichterung der Pflege in eine neben dem Bett stehende Harnflasche uriniere, wenn er im Bett liege. Wie er sonst die kleine Notdurft verrichte und ob dabei Hilfestellungen erforderlich seien, sei noch offen. Nach den Feststellungen müsse davon ausgegangen werden, dass er rollstuhlmobil sei und sich nicht permanent im Bett befinde. Zu dieser Frage sei das Verfahren zu ergänzen, weshalb das Ersturteil aufzuheben sei.
[13] Mangels Rechtsprechung zur Frage, ob der in § 1 Abs 4 EinstV festgelegte Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft auch dann heranzuziehen ist, wenn ein Betreuungsbedarf für die Verrichtung der großen Notdurft besteht und zusätzlich ein solcher für die Entleerung der Harnflasche, ohne dass im Übrigen Hilfestellungen bei der kleinen Notdurft erforderlich sind, ließ das Berufungsgericht den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu.
[14] Gegen diese Entscheidung richtet sich der (als ordentlicher Revisionsrekurs bezeichnete) Rekurs des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
[15] Die Beklagte beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
[17] 1.1 In dritter Instanz ist strittig, ob im Anlassfall bei der Berechnung des für die Verrichtung der Notdurft erforderlichen Pflegebedarfs der in § 1 Abs 4 EinstV dafür normierte Wert von täglich 4 x 15 Minuten (= 30 Stunden im Monat) zu berücksichtigen ist.
[18] 1.2 Bei den in § 1 Abs 4 EinstV genannten Mindestwerten („verbindliche Mindestwerte“ iSd § 4 Abs 7 Z 2 BPGG) ist eine Unterschreitung ausgeschlossen. Der jeweilige Mindestwert wird freilich nur dann zu berücksichtigen sein, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der dort angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht. Bei erheblicher Unterschreitung des betreffenden Werts kann die Anerkennung eines pauschalierten Mindestbedarfs nicht mehr in Betracht kommen, etwa dann, wenn die einzelnen Verrichtungen lediglich einen Aufwand verursachen, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwerts liegt (RS0109875). In einem solchen Fall darf der Mindestwert nicht veranschlagt werden, weil nur der tatsächliche Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsleistungen maßgeblich wäre (RS0109875 [T6]).
[19] 1.3 Im Sinn der Judikatur liegen solche Teilverrichtungen, die den Mindestwert typisch unterschreiten, etwa bei Unterstützungshandlungen im Zusammenhang mit der Verrichtung der großen Notdurft vor (vgl zB 10 ObS 152/10s [2,5 Stunden pro Monat für die tägliche Reinigung nach der Verrichtung der großen Notdurft]; 10 ObS 57/97y ErwGr 3, 10 ObS 319/00k [drei bzw 2,5 Stunden pro Monat für die Kontrolle der Reinigung nach Verrichtung der großen Notdurft]; 10 ObS 106/01p [fünf Stunden pro Monat für die Erinnerung/Aufforderung zu jedem Gang auf die Toilette]; vgl auch Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 Rz 5.218 mwN).
[20] 2.1 Das Rechtsmittel tritt der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach für die festgestellten Unterstützungsleistungen im Anlassfall im Zusammenhang mit der Verrichtung der großen Notdurft ein Pflegebedarf von (nur) 2,5 Stunden pro Monat zu veranschlagen ist, argumentativ nicht im Ansatz entgegen. Der Kläger vertritt – wie das Erstgericht – allerdings die Ansicht, dass zu diesem Pflegebedarf auch die erforderliche Hilfeleistung bei der Verrichtung der kleinen Notdurft (Entleerung und Säuberung der Harnflasche) hinzuzählen sei, sodass in weiterer Folge der Mindestwert von 30 Stunden anzuwenden sei, weil die Verrichtungen insgesamt dann einen Aufwand verursachen würden, der nicht mehr deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwerts liege.
[21] 2.2 Das Argument des Rechtsmittels blendet hier allerdings den Umstand aus, dass es dem Kläger (wenn er im Bett liegt) durch die Verwendung einer Harnflasche ermöglicht wird, seine Notdurft selbstständig zu verrichten . Zur Entleerung und Reinigung der Harnflasche bedarf er allerdings der Hilfe einer anderen Person. Nach der zutreffenden Ansicht des Berufungsgerichts ist für die Bemessung dieser Unterstützung in einem solchen Fall nicht auf § 1 Abs 4 EinstV zurückzugreifen ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 Rz 5.111). Vielmehr ist hier auf die speziellere Regel des § 1 Abs 3 EinstV abzustellen, der für die Entleerung und Reinigung des Leibstuhls einen Richtwert von 4 x 5 Minuten am Tag (10 Stunden im Monat) festlegt. Die Verwendung einer Harnflasche entspricht wertungsmäßig dem eines Leibstuhls (bzw einer Leibschüssel), zumal mit einem Leibstuhl (einer Leibschüssel) nicht nur Stuhl, sondern auch Urin aufgenommen werden soll (vgl Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 Rz 5.232 und FN 720). Das Berufungsgericht hat im Anlassfall in zulässiger (vgl RS0053147) Überschreitung des in § 1 Abs 3 EinstV festgelegten Werts einen Pflegebedarf von 15 Stunden angenommen, was von beiden Streitteilen auch in dritter Instanz nicht mehr angezweifelt wird.
[22] 3. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die EinstV zum BPGG im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung zwei unterschiedliche Betreuungsleistungen vorsieht. Neben der eigentlichen „Verrichtung der Notdurft“ in § 1 Abs 4 EinstV wird in § 1 Abs 3 EinstV der zeitliche Bedarf für die „Entleerung und Reinigung des Leibstuhles“ normiert. Der Senat schließt sich hier der vom Berufungsgericht vertretenen Ansicht an, dass die im Zusammenhang mit der (selbstständigen!) Verrichtung der Notdurft erforderlichen und unter § 1 Abs 3 EinstV zu qualifizierenden Hilfeleistungen (in casu: Reinigung und Leerung der Harnflasche) nicht unter § 1 Abs 4 EinstV fallen.
[23] 4. Gegenteiliges ist auch aus der Entscheidung 10 ObS 161/12t (= RS0128474) nicht abzuleiten. Dort hat der Oberste Gerichtshof in ErwGr 5.1. festgehalten, dass eine Bezugnahme auf § 1 Abs 3 EinstV (Entleerung und Reinigung des Leibstuhls) dann entfällt, wenn die Verrichtung der Notdurft am Leibstuhl nur mit fremder Unterstützung möglich ist, weil der festgelegte Zeitwert für die Verrichtung der Notdurft auch die Reinigung der Toilette bzw des Leibstuhls umfasst. Der Anlassfall unterscheidet sich davon aber entscheidend, weil der Kläger (zumindest wenn er im Bett liegt) die (kleine) Notdurft sehr wohl ohne Unterstützung verrichten kann.
[24] 5. Auch der Hinweis im Rechtsmittel, es müsse dem Kläger aus den Gründen der Menschenwürde ermöglicht werden, die Notdurft auf einer Toilette zu verrichten und es könne von ihm nicht verlangt werden, eine Harnflasche zu verwenden, verfängt nicht. § 1 Abs 3 EinstV normiert ausdrücklich die Verwendung des Leibstuhls für pflegebefohlene Personen. Auch aus der dazu ergangenen Judikatur (zB 10 ObS 161/12t ErwGr 3 ff) ist nicht abzuleiten, dass es die Menschenwürde verletzt, wenn die Notdurft auf einem Leibstuhl (also auch außerhalb einer Toilette) verrichtet wird. Entsprechendes gilt für die Verwendung einer Harnflasche (vgl oben ErwGr 2.2).
[25] 6. Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4 bestehe nicht schon deshalb, weil (nach den bisherigen Feststellungen) im Anlassfall im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung – abgesehen von typischen, den Mindestwert des § 1 Abs 4 EinstV unterschreitenden Teilverrichtungen – nur Hilfsleistungen bei der selbstständigen Verrichtung der Notdurft iSd § 1 Abs 3 EinstV anfallen, ist somit nicht zu beanstanden.
[26] 7. Der Oberste Gerichtshof ist nicht Tatsacheninstanz, sodass er nicht überprüfen kann, ob sich die vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist (RS0042179; RS0043414).
[27] 8. Dem Rekurs des Klägers ist daher ein Erfolg zu versagen.
[28] 9. Der Kostenvorbehalt beruht auf §§ 50, 52 ZPO iVm § 2 ASGG.