10ObS30/25x – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden und den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Anja Pokorny (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Michael Celar, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Entziehung des Rehabilitationsgeldes, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. Jänner 2025, GZ 7 Rs 134/24p 52, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Entziehung des dem Kläger seit 1. Juni 2022 gewährten Rehabilitationsgeldes durch die beklagte Pensionsversicherungsanstalt infolge Verbesserung seines Gesundheitszustands zu Recht erfolgte.
[2] Der 1968 geborene Kläger genießt unstrittig keinen Berufsschutz.
[3] Der Kläger war im Jahr 2022 – und daher auch zum Zeitpunkt der Gewährung des Rehabilitationsgeldes – von 19. März 2022 bis längstens 19. August 2022 (somit keine sechs Monate durchgehend) aufgrund eines Krankenstands arbeitsunfähig.
[4] Mit Bescheid vom 23. Juni 2022 wurde ausgesprochen, dass ab 1. Juni 2022 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten vorliege und ein Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe.
[5] Dem Kläger sind seit Entziehung (das heißt über den 31. August 2023 hinaus) leichte Arbeiten mit 2/3 zeitig besonderem Zeitdruck zuzumuten. Arbeiten in ständiger Nässe und Kälte sind dem Kläger nicht möglich. Blasenentleerungen zumindest einmal pro Stunde sind beim Kläger erforderlich. Ein häufiges Bücken (von mehr als sechs Mal in der Stunde) ist dem Kläger nicht möglich. Länger dauernde Zwangshaltungen der Hals- und Brustwirbelsäule sind dem Kläger nicht möglich. Der Gesundheitszustand des Klägers ist kalkülsrelevant nicht besserbar. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustands in absehbarer Zeit beim Kläger ist nicht zu erwarten. Eine gegenseitige Leidensbeeinflussung zu anderen Fachgebieten besteht nicht. Bei Kalkülseinhaltung sind leidensbedingte Krankenstände in Zukunft beim Kläger nicht zu erwarten. Die Anfahrtswege sind unter städtischen und ländlichen Bedingungen dem Kläger zumutbar. Öffentliche Verkehrsmittel können vom Kläger benutzt werden.
[6] Der Kläger ist aufgrund dieses Leistungskalküls auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch auf zahlreiche Hilfsarbeitertätigkeiten, zum Beispiel als Hilfskraft in der industriellen Serienfertigung oder Garagenwart, und auch auf Angestelltenberufe wie Scan- und Bürohilfskraft oder Archivkraft verweisbar.
[7] Mit Bescheid vom 7. Juli 2023 sprach die Beklagte aus, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege, und entzog dem Kläger mit 31. August 2023 das Rehabilitationsgeld. Weiters sprach sie aus, dass medizinische Maßnahmen der Rehabilitation nicht mehr zweckmäßig seien und kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
[8] Das Erstgericht stellte fest, dass über den 31. August 2023 hinaus weiterhin ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe, wies das Begehren festzustellen, dass beim Kläger über den 31. August 2023 hinaus vorübergehende Invalidität vorliege, ab und stellte fest, dass ein Anspruch des Klägers auf Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation nicht bestehe. Das Verfahren habe ergeben, dass eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustands im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt nicht gegeben sei, weil vorübergehende Invalidität damals wie auch jetzt nicht vorgelegen sei bzw vorliege.
[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Bei Nichtvorliegen vorübergehender Invalidität sei eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes auch dann gerechtfertigt, wenn bei irrtümlicher Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Gewährungszeitpunkt eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar sei und sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen beziehe, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität begründet hätten. Hier habe sich ungeachtet des Irrtums über die Dauer der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit des Klägers eine ganz wesentliche Sachverhaltsänderung ergeben, nämlich, dass der Kläger – im Gegensatz zum Gewährungszeitpunkt – wieder im Rahmen seines vom Erstgericht festgestellten Leistungskalküls dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu .
Rechtliche Beurteilung
[10] Die dagegen erhobene außerordentliche Revisiondes Klägers ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[11] 1.1.Nach § 99 Abs 1 ASVG kann eine Leistung nur entzogen werden, wenn sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben; die Änderung kann im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen (RS0083884).
[12] 1.2.Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung hingegen keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen; an einer solchen Änderung fehlt es regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen gar nie vorhanden waren (RS0106704; RS0133202). Die nachträgliche Erkenntnis, dass die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch zur Zeit der Zuerkennung nicht vorhanden waren, rechtfertigt die Entziehung der Leistung daher nicht (RS0083941).
[13] 1.3.Ist jedoch im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgeldes eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG begründet haben, so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt (RS0133202).
[14] 1.4. Hintergrund dieser Rechtsprechung ist die Überlegung, dass in diesen Fällen kein schutzwürdiges Vertrauen des Leistungsempfängers auf die Weitergewährung der Leistung vorliegt, weil eine vergleichbare Änderung zur Entziehung einer ursprünglich zu Recht zuerkannten Leistung führen hätte können (grundlegend dazu 10 ObS 40/20k ErwGr 6.4. und 8.5.; zuletzt ua 10 ObS 112/24d Rz 14; 10 ObS 115/24w Rz 13; 10 ObS 7/25i Rz 13).
[15] 2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts findet in dieser Rechtsprechung Deckung.
[16] 2.1. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers ist es im vorliegenden Fall ausgehend von den Urteilsfeststellungen sehr wohl zu einer (geringfügigen) Verbesserung seines Zustands gekommen, die aufgrund des Vorliegens der genannten weiteren Voraussetzungen die Entziehung des Rehabilitationsgeldes rechtfertigt: Danach war der Kläger im Zeitpunkt der Gewährung vorübergehend nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Sein körperlicher Zustand hat sich dahin verbessert, dass ihm im Entziehungszeitpunkt nunmehr die festgestellten Tätigkeiten möglich sind. Darin liegt jedenfalls eine Änderung des Leistungskalküls des Klägers, also des Umfangs seiner – von bestehenden Leidenszuständen beeinflussten – faktischen Leistungsfähigkeit.
[17] 2.2.Außer Zweifel steht zwar, dass es sich bei dieser Änderung um keine wesentliche handelt, weil die ursprüngliche Einschränkung angesichts der zu erwartenden kurzen Dauer im Gewährungszeitpunkt die Annahme vorübergehender Invalidität voraussichtlich im Ausmaß von zumindest sechs Monaten von vornherein nicht zu tragen vermochte. Zu einer wesentlichen, also entscheidungsrelevanten Änderung der objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung muss es jedoch unter Bedachtnahme auf die zuvor dargelegten Rechtsprechungsgrundsätze im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität gemäß § 255b ASVG gerade nicht gekommen sein. Es reicht aus, dass sich die Verbesserung, wie im vorliegenden Fall, auf ursprünglich bestehende Einschränkungen (hier: die Arbeitsunfähigkeit schlechthin) bezieht, die die Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG (mit-)begründet haben.