JudikaturJustizBsw71407/10

Bsw71407/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. August 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Carine Simons gg. Belgien, Entscheidung vom 28.8.2012, Bsw. 71407/10.

Spruch

Art. 5 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 EMRK - Kein anwaltlicher Beistand bei polizeilicher Vernehmung.

Unzulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 13.3.2010 wurde die Polizei in Liège darüber informiert, dass ein Mann durch einen Messerstich verletzt worden war. Vor Ort erklärte die Bf., dass das Opfer ihr Lebensgefährte sei, und dass sie ihn verletzt habe.

Die Bf. wurde am selben Tag um 16:00 Uhr festgenommen und in der folgenden Nacht von den Ermittlern als »Verdächtige« vernommen. Sie hatte keinen anwaltlichen Beistand und wurde nicht über ihr Schweigerecht aufgeklärt.

Sie bestätigte, die Messerstiche getätigt zu haben, antwortete auf die Fragen der Ermittler und gab eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse zu Protokoll.

Am nächsten Tag wurde die Bf. von einem Untersuchungsrichter erneut ohne anwaltlichen Beistand und ohne Belehrung über ihr Schweigerecht verhört. Hierbei bestätigte sie die Aussagen, die sie gegenüber der Polizei gemacht hatte. Sie wurde über ihre Anklage wegen versuchter vorsätzlicher Tötung sowie über ihr Recht, sich einen Anwalt zu nehmen, informiert. Der Haftrichter stellte einen Haftbefehl gegen sie aus.

Die Bf. erschien in Begleitung ihres Anwalts am 18.3.2010 vor dem Gericht erster Instanz von Liège, wo eine einmonatige Untersuchungshaft angeordnet wurde. Am 14.4.2010 sowie am 12.5.2010 ordnete das Gericht nach erneutem Erscheinen der Bf. eine Verlängerung der Untersuchungshaft an.

Am 12.5.2010 rief die Bf. die Anklagekammer des Berufungsgerichts von Liège an, welches, da die Bf. weder bei ihrer Vernehmung durch die Ermittler noch bei jener durch den Untersuchungsrichter anwaltlichen Beistand genossen hatte, eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c und von Art. 5 EMRK feststellte, wonach eine Freiheitsentziehung nur auf die »gesetzlich vorgesehene Weise« erfolgen darf. Folglich müssten die Protokolle der Vernehmung und der Anhörung aus dem Akt gestrichen und müsste die Bf. freigelassen werden.

In seiner Anklage versuchte der Staatsanwalt am 3.6.2010, diese Argumentation zu entkräften, da der Cour de Cassation u.a. festgestellt hatte, dass es einem fairen Verfahren nicht automatisch entgegenstünde, wenn der Angeklagte in den ersten 24 Stunden keinen anwaltlichen Beistand habe. In einem Urteil vom 3.6.2010 wurde dem Staatsanwalt in diesem Punkt recht gegeben. Trotzdem wurde die Freilassung der Bf. angeordnet, da die öffentliche Sicherheit nicht mehr gefährdet sei.

Nach den von den Parteien beigebrachten Informationen ist die Untersuchung immer noch am Laufen. Der Fall konnte noch nicht zur Entscheidung in der Hauptsache vorgelegt werden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 6 Abs. 3 EMRK (hier: Recht auf Beistand eines Verteidigers), da sie weder während ihres Polizeigewahrsams noch während ihrer Vernehmung durch die Polizei oder ihrer ersten Anhörung vor dem Untersuchungsrichter anwaltlichen Beistand erhalten hätte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK

Betreffend die Beschwerde hinsichtlich einer Verletzung von Art 6 Abs. 1 und 3 EMRK stellt der GH fest, dass die Beschwerde verfrüht ist, da das Verfahren innerstaatlich noch im Ermittlungsverfahren anhängig ist. Die Fairness eines Prozesses muss allerdings grundsätzlich auf der Basis des gesamten Prozesses geprüft werden. Außerdem kann ein Beschuldigter sich nicht als Opfer einer Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren sehen, wenn es weder einen Schuldspruch noch eine Verurteilung gibt. Der GH folgert daraus, dass die Beschwerde in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK zurückgewiesen werden muss.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft, da sie die Anordnung vom 12.5.2010 abgewartet habe, um das Gericht anzurufen, wobei sie seit dem 14.3.2010 die Möglichkeit gehabt hätte, die Aufhebung des Haftbefehls gegen sie zu beantragen. Außerdem habe die Bf. die Möglichkeit gehabt, die innerstaatlichen Gerichte um Ersatz des Schadens zu ersuchen, den sie angeblich erlitten hatte.

Zudem wendet die Regierung ein, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet sei, da nichts darauf hindeute, dass die Anhaltung der Bf. nicht auf die »gesetzlich vorgesehene Weise« erfolgte.

Der GH stellt fest, dass die Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK die Erhebung von Rechtsmitteln nur dann verlangt, wenn diese wirksam oder ausreichend, also dazu geeignet sind, in einer Situation Abhilfe zu schaffen. Handelt es sich um Beschwerden in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 EMRK, müssen lediglich die Rechtsmittel, die dazu dienen sollen, den Freiheitsentzug zu beenden, dessen Unrechtmäßigkeit behauptet wird, genutzt werden. Folglich ist dann, wenn die Freiheitsentziehung noch nicht zu Ende ist, eine Klage, die auf Schadenersatz aufgrund der Freiheitsentziehung abzielt, kein innerstaatliches Rechtsmittel, das erschöpft werden muss. Die Regierung kann diese Einrede somit nicht geltend machen.

Im vorliegenden Fall hat die Bf. die Anklagekammer des Berufungsgerichts von Liège gegen die Anordnung vom 12.5.2010 angerufen. Ihr Anwalt hat dort geltend gemacht, dass die Tatsache, dass sie weder während ihrer Anhörung noch während ihrer ersten Vernehmung durch den Untersuchungsrichter anwaltlichen Beistand genossen hatte, eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK wie auch von Art. 5 Abs. 1 EMRK darstellte und verlangte auf dieser Grundlage die Entlassung seiner Mandantin. Dadurch hat er die Anklagekammer in die Lage versetzt, über die Beschwerde, wegen welcher der GH angerufen worden ist, abzusprechen. Hätte sie eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK festgestellt, hätte sie diese durch die Anordnung der Entlassung der Bf. wiedergutmachen können. Die Anklagekammer ist im Übrigen zu einer Untersuchung der Beschwerde geschritten und hat sie zurückgewiesen. Der Umstand, dass die Bf. bis zum 12.5.2010 gewartet hat, um von diesem Rechtsmittel Gebrauch zu machen, ist hinsichtlich einer Behauptung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht entscheidend.

Angesichts des Vorgesagten und der Tatsache, dass die Regierung der Bf. nicht vorwirft, keine Revision gegen das Urteil der Anklagekammer vom 3.6.2010 erhoben zu haben, sowie der diesbezüglichen Erklärungen der Bf. kommt der GH zum Schluss, dass die Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurückzuweisen ist.

Andererseits stellt der GH fest, dass die Bf. weder während ihres Polizeigewahrsams oder ihrer Anhörung durch die Polizei noch während ihrer ersten Vernehmung durch den Untersuchungsrichter die Möglichkeit gehabt hat, von einem Anwalt unterstützt zu werden. Wie der GH in seiner Entscheidung Bouglame/B festgestellt hat, resultiert dies aus der »geltenden Gesetzeslage […], die die Unterstützung durch einen Anwalt im Zuge der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter oder davor nicht vorsah.«

Die Frage, die sich dem GH stellt, ist daher, ob die Konvention einen »allgemeinen Grundsatz« vorsieht, nach welchem jede Person, die der Freiheit beraubt ist, die Möglichkeit haben muss, ab ihrer Verhaftung von einem Anwalt unterstützt zu werden.

Mit Verweis auf das Urteil Salduz/TR erinnert der GH daran, dass das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, damit es ausreichend »konkret und wirksam« ist, als allgemeine Regel enthält, dass der Zugang zu einem Anwalt ab der ersten Befragung durch die Polizei gewährleistet sein muss, außer wenn es unter den besonderen Umständen des Falls zwingende Gründe dagegen gibt.

Aus der genannten Rechtsprechung ergibt sich einerseits das Prinzip, dass der Angeklagte iSd. Art. 6 EMRK das Recht hat, ab dem Beginn des Polizeigewahrsams oder der Untersuchungshaft und gegebenenfalls während seiner Vernehmungen durch die Polizei und den Untersuchungsrichter anwaltlichen Beistand zu genießen. Wenn andererseits zwar eine Beschneidung dieses Rechts  unter bestimmten Umständen gerechtfertigt und mit dieser Bestimmung vereinbar sein kann, so ist die Tatsache, dass seine Ausübung aufgrund einer systemhaften nationalen Regelung unmöglich ist, unvereinbar mit dem Recht auf ein faires Verfahren.

Fundiert wird dieses Recht im Prinzip spezifisch durch Art. 6 Abs. 3 EMRK, der insbesondere das Recht des Beschuldigten beinhaltet, die Unterstützung eines Verteidigers seiner Wahl zu genießen. Es handelt sich dabei jedoch um keinen in der Konvention enthaltenen allgemeinen Grundsatz. Die von der Konvention vorgegebenen allgemeinen Grundsätze, auf die die Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 EMRK verweist, sind das Prinzip des Vorrangs des Rechts, der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes gegen Willkür.

Wenn also die gesetzliche Unmöglichkeit für einen in Haft sitzenden Angeklagten, anwaltlichen Beistand ab dem Zeitpunkt seiner Verhaftung zu erhalten, auch die Fairness des ihn betreffenden Strafverfahrens beeinträchtigt, führt dieser Umstand allein nicht dazu, dass seine Verhaftung gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstößt, weil sie nicht dem dieser Bestimmung inhärenten Erfordernis der Gesetzmäßigkeit entsprach.

In Bezug auf Art. 5 Abs. 1 EMRK ist die Beschwerde deshalb offensichtlich unbegründet und muss zurückgewiesen werden.

Insgesamt ist die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen (mehrheitlich).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bouglame/B v. 2.3.2010 (ZE)

Salduz/TR v. 27.11.2008 (GK) = NL 2008, 348

Dayanan/TR v. 13.10.2009

Boz/TR v. 9.2.2010

Brusco/F v. 14.10.2010

Hovanesian/BG v. 21.12.2010

Fidanci/TR v. 17.1.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Entscheidung des EGMR vom 28.8.2012, Bsw. 71407/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 289) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Entscheidung im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_5/Simons.pdf

Das Original der Entscheidungt ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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