JudikaturJustizBsw67667/09

Bsw67667/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Juni 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Bayev u.a. gg. Russland, Urteil vom 20.6.2017, Bsw. 67667/09.

Spruch

Art. 10 EMRK, Art. 14 EMRK iVm. Art. 10 EMRK - Verbot der öffentlichen Bewerbung von Homosexualität.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 14 EMRK iVm. Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 8.000,–, € 15.000,– bzw. € 20.000,– für immateriellen Schaden an den Erst-, Zweit- bzw. den DrittBf.; € 45,– bzw. € 180,– für materiellen Schaden an den Zweit- bzw. DrittBf.; € 5.880,– bzw. € 83,– für Kosten und Auslagen an den Erst- bzw. den DrittBf. (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um Aktivisten für Schwulenrechte, die des Verwaltungsdelikts der »öffentlichen Aktivitäten zur Bewerbung von Homosexualität unter Minderjährigen« für schuldig befunden wurden. In der Oblast Rjasan, in der Oblast Archangelsk und in St. Petersburg waren zwischen 2006 und 2012 mit neuen Gesetzesbestimmungen Verbote für entsprechende Handlungen vorgesehen und diese unter Verwaltungsstrafe gestellt worden. In St. Petersburg galt Gleiches für öffentliche Aktivitäten zur Bewerbung von Bisexualität und Transgenderismus.

Der ErstBf. demonstrierte am 30.3.2009 vor einer Sekundarschule in Rjasan, wobei er zwei Transparente mit der Aufschrift »Homosexualität ist normal« und »Ich bin stolz auf meine Homosexualität« zur Schau stellte. Am 6.4.2009 wurde er wegen Verstoßes gegen § 3.10 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten zur Zahlung einer Verwaltungsstrafe von umgerechnet ca. € 34,– verurteilt. Seine Berufung gegen diese Entscheidung wurde abgewiesen.

Der Zweit- und DrittBf. demonstrierten am 11.1.2012 vor der Kinderbücherei in Archangelsk. Der ZweitBf. hielt ein Plakat mit der Aufschrift »Russland hat die höchste Rate an Teenager-Selbstmorden weltweit. Diese Zahl umfasst einen großen Anteil von Homosexuellen. Sie setzen diesen Schritt aufgrund eines Mangels an Informationen über ihre Natur. Abgeordnete sind Kindesmörder. Homosexualität ist gut!« Der DrittBf. hob ein Transparent mit der Aussage »Kinder haben das Recht, es zu wissen. Großartige Leute sind auch manchmal schwul; schwule Leute werden auch großartig. Homosexualität ist natürlich und normal.«. Dem folgte eine Liste mit Namen von bekannten Personen, die zum kulturellen Erbe Russlands beigetragen hatten und für schwul gehalten wurden. Am 3.2.2012 wurden die beiden Bf. wegen Verstoßes gegen § 2.13 Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten zur Zahlung einer Verwaltungsstrafe von umgerechnet ca. € 45,– bzw. € 50,– verurteilt. Ihre Berufungen wurden ebenfalls abgewiesen.

Der DrittBf. demonstrierte zudem am 12.4.2012 vor der Stadtverwaltung von St. Petersburg, wobei er ein Plakat mit der Aufschrift »Homosexualität ist keine Perversion. Feldhockey und Eisballett sind es.« vorzeigte. Am 5.5.2012 wurde der DrittBf. wegen Verstoßes gegen § 7.1 A des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten zur Zahlung einer Verwaltungsstrafe von umgerechnet ca. € 130,– verurteilt. Auch seine Berufung blieb ohne Erfolg.

Beschwerden gegen die Regelungen in Rjasan und St. Petersburg an das russische Verfassungsgericht wurde von diesem abgewiesen, da es befand, dass die betreffenden Bestimmungen dem Schutz der Minderjährigen dienten, keine Diskriminierung darstellten und daher auch keine unverhältnismäßige Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit bewirkten.

Am 29.6.2013 wurde auch der Kodex der Russischen Föderation über Ordnungswidrigkeiten dahingehend geändert, dass in Art. 6.21 eine verwaltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit für die Bewerbung von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen vorgesehen wurde. Nachdem der DrittBf. diese Regelung gemeinsam mit anderen Personen beim Verfassungsgericht angefochten hatte, wies dieses die Beschwerde mit einer ähnlichen Begründung wie in den genannten früheren Fällen ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch das Verbot öffentlicher Äußerungen über die Identität, die Rechte und den sozialen Status von sexuellen Minderheiten. Sie rügten ebenso eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 10 EMRK, da es für die heterosexuelle Mehrheit keine ähnlichen Beschränkungen gab.

Verbindung der Beschwerden

(59) Angesichts ihres ähnlichen faktischen und rechtlichen Hintergrunds beschließt der GH, die drei Beschwerden […] miteinander zu verbinden.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(44) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Vorliegen eines Eingriffs in die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit der Bf.

(61) Der GH beobachtet, dass das zentrale Problem in diesem Fall das Bestehen eines gesetzlichen Verbots zur Bewerbung von Homosexualität oder nicht traditionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen selbst ist, im Hinblick auf welches die Bf. geltend machen, dass es als solches mit der Konvention unvereinbar sei. Die Bf. rügten die allgemeine Auswirkung der Gesetze auf ihr Leben, da diese sie nicht nur daran hindern würden, sich für Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern (LGBT) einzusetzen, sondern von ihnen auch verlangen würden, sich der Anwesenheit von Minderjährigen während ihrer täglichen Aktivitäten bewusst zu sein, um ihre sexuelle Orientierung vor diesen zu verbergen. Sie wiesen darauf hin, dass sie für Verwaltungsübertretungen verurteilt worden waren, weil sie die banalsten und harmlosesten Transparente gezeigt hätten.

(62) Es ist von Bedeutung, dass das Verbot der Bewerbung von nicht traditionellen Beziehungen zwischen Minderjährigen sogar bereits bevor Verwaltungsmaßnahmen gegen die Bf. gesetzt worden waren angeblich die Aktivitäten beeinträchtigt hatte, welche sie persönlich verfolgen wollen hätten können, vor allem als LGBT-Aktivisten. Der GH hat bereits festgehalten, dass der abschreckende Effekt einer Gesetzesbestimmung oder einer Politik für sich schon einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit darstellen kann. Im vorliegenden Fall muss der GH jedoch das Vorliegen eines Eingriffs auf Basis der allgemeinen Wirkung der gerügten Gesetze auf das Leben der Bf. nicht feststellen, weil diese Gesetze gegenüber den Bf. in den Verwaltungsverfahren vollzogen wurden. Wie von der Regierung zugestanden, erfolgte ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf.

Rechtfertigung des Eingriffs

(63) Die gegen die Bf. getroffenen Maßnahmen wurden auf die Gesetzesbestimmungen gestützt, die speziell angenommen worden waren, um die Bewerbung von Homosexualität und nicht traditionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen zu verbieten. Während es keinen Streit betreffend die Einhaltung des Gesetzes durch die Behörden gibt, stellt sich die Frage der Rechtmäßigkeit in Bezug auf die Behauptungen der Bf., dass das Gesetz selbst unangemessen vage und in seiner Anwendung unvorhersehbar war. Der GH erwägt allerdings, dass die Frage der Qualität des Gesetzes der Frage der Notwendigkeit solcher Gesetze als allgemeine Maßnahmen untergeordnet ist. Er wiederholt, dass er zur Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen Maßnahme in erster Linie die ihr zugrundeliegende gesetzgeberische Wahl beurteilen muss. Dabei ist die Qualität der parlamentarischen und gerichtlichen Überprüfung der Notwendigkeit der Maßnahme ebenso zu berücksichtigen wie die Gefahr von Missbrauch, wenn eine allgemeine Maßnahme aufgelockert wird. Der GH wird hierzu ihre Umsetzung in den konkreten Fällen der Bf. miteinbeziehen, die die Wirkung in der Praxis illustriert und daher wesentlich für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist [...]. Grundsätzlich gilt, dass der GH der Wirkung einer allgemeinen Maßnahme in einem speziellen Fall umso weniger Bedeutung beimessen wird, je überzeugender die allgemeinen Rechtfertigungen für sie sind.

Rechtfertigung aufgrund des Schutzes der Moral

(65) Als erstes Argument stützte sich die Regierung auf moralische Gebote und die öffentliche Unterstützung für die fraglichen Maßnahmen. Sie behauptete, dass eine offene Bekundung von Homosexualität einen Angriff auf die Sitten darstelle, die unter der religiösen und sogar der nicht religiösen Mehrheit der Russen vorherrschten, und allgemein als ein Hindernis zur Anerziehung traditioneller familiärer Werte gesehen werde.

(66) Der GH akzeptiert grundsätzlich einen weiteren Ermessensspielraum, wenn bei Gegenständen, die mit sensiblen moralischen oder ethischen Fragen in Verbindung gebracht werden können, unter den Mitgliedstaaten kein Konsens besteht. Im vorliegenden Fall bemerkt der GH hingegen, dass es einen eindeutigen europäischen Konsens zur Anerkennung der Rechte von Individuen gibt, sich offen als schwul, lesbisch oder einer anderen sexuellen Minderheit zugehörig zu bekennen und ihre eigenen Rechte und Freiheiten zu bewerben. Zudem muss der GH, bevor er über die Weite des Ermessensspielraums entscheidet, das von der Regierung im Zusammenhang mit ihrer Behauptung, die Angelegenheit betreffe eine sensible moralische oder ethische Frage, vorgebrachte legitime Ziel prüfen. Er wird untersuchen, ob es der Regierung offen steht, sich in einem Fall auf Gründe der Moral zu stützen, der Facetten der Existenz und Identität der Bf. und das Wesen des Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit betrifft.

(67) Zur Frage der Moral brachte die Regierung die angebliche Unvereinbarkeit zwischen der Aufrechterhaltung von familiären Werten als Grundlage der Gesellschaft und der Anerkennung der sozialen Akzeptanz von Homosexualität vor. Der GH sieht keinen Grund, diese Elemente als unvereinbar anzusehen, gerade angesichts der steigenden allgemeinen Tendenz, Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren in das Konzept des »Familienlebens« miteinzubeziehen und der Einräumung des Bedarfs ihrer rechtlichen Anerkennung und ihres rechtlichen Schutzes. Es obliegt dem Staat, bei seiner Wahl von Mitteln zum Schutz der Familie Entwicklungen in der Gesellschaft und Änderungen in der Wahrnehmung von sozialen Fragen und Fragen im Zusammenhang mit dem Familienstand und Beziehungen zu berücksichtigen, einschließlich des Umstands, dass es nicht nur einen Weg oder nur eine Wahl gibt, wenn es darum geht, wie man sein Privat- oder Familienleben führt. Es ist hinzuzufügen, dass viele Personen, die sexuellen Minderheiten angehören, den Einrichtungen der Ehe, Elternschaft und Adoption positiv gegenüberstehen, wie durch die dauerhafte Einbringung von Beschwerden beim GH durch Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft belegt wird, die Zugang dazu haben möchten. Diese sind daher weit davon entfernt, familiären Werten entgegenzutreten. Die Regierung verabsäumte es zu zeigen, wie Meinungsäußerungsfreiheit zu Fragen der LGBT tatsächliche und bestehende »traditionelle Familien« abwerten oder anderweitig nachteilig betreffen oder ihre Zukunft gefährden würde.

(68) Der GH hat sich stets geweigert, Politiken und Entscheidungen zu unterstützen, die eine Voreingenommenheit von Seiten einer heterosexuellen Mehrheit gegenüber einer homosexuellen Minderheit zum Ausdruck brachten. Er stellte fest, dass diese negativen Haltungen, Bezugnahmen auf Traditionen oder allgemeinen Annahmen in einem speziellen Land vom GH für sich als keine ausreichende Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung angesehen werden, ebenso wenig wie ähnliche negative Einstellungen gegen jene mit einer unterschiedlichen Rasse, Herkunft oder Hautfarbe [...].

(69) Die gegenständliche Gesetzgebung ist ein Beispiel solcher Voreingenommenheit, was durch ihre innerstaatliche Auslegung und Vollstreckung eindeutig unterstrichen und durch Formulierungen wie »um ein verzerrtes Bild der sozialen Gleichstellung von traditionellen und nicht traditionellen sexuellen Beziehungen zu schaffen« sowie Bezugnahmen auf die potentiellen Gefahren der »Schaffung eines verzerrten Eindrucks der sozialen Gleichstellung von traditionellen und nicht traditionellen ehelichen Beziehungen« zum Ausdruck gebracht wird. Noch weniger akzeptabel sind die Versuche, Paralellen zwischen Homosexualität und Pädophilie zu ziehen.

(70) Der GH berücksichtigt die Behauptung der Regierung, wonach die Mehrheit der Russen Homosexualität missbilligt und sich an einer Zurschaustellung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen stoßen würde. Es ist wahr, dass die öffentliche Empfindung bei der Beurteilung des GH eine bedeutende Rolle spielen kann, wenn es um die Rechtfertigung aus moralischen Gründen geht. Es besteht allerdings ein bedeutender Unterschied dazwischen, der öffentlichen Unterstützung zugunsten der Ausweitung des Anwendungsbereichs der Konventionsgarantien Raum zu geben, und einer Situation, wo diese Unterstützung herangezogen wird, um den Anwendungsbereich des inhaltlichen Schutzes zu schmälern. Der GH wiederholt, dass es mit den der Konvention zugrundeliegenden Werten unvereinbar wäre, wenn die Ausübung von Konventionsrechten durch eine Minderheitengruppierung davon abhängig gemacht würde, dass sie von der Mehrheit akzeptiert wird. Wäre das so, würden die Rechte einer Minderheitengruppierung auf Religions-, Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit statt wie von der Konvention verlangt praktisch und effektiv rein theoretisch werden.

(71) Angesichts der obigen Erwägungen weist der GH die Behauptung der Regierung zurück, die Regulierung der öffentlichen Debatte über LGBT-Fragen könne aus Gründen des Schutzes der Moral gerechtfertigt werden.

Rechtfertigung aus Gründen des Gesundheitsschutzes

(72) Als nächstes argumentierte die Regierung, dass die Bewerbung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen verboten werden müsse, weil sie eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit und die Bevölkerungssituation darstelle. Was die behaupteten Gesundheitsrisiken betrifft, hat die Regierung nicht gezeigt, dass die Botschaften der Bf. sorgloses Verhalten oder andere schädliche persönliche Entscheidungen befürworteten. Jedenfalls erachtet es der GH für unwahrscheinlich, dass eine Beschränkung potentieller Meinungsäußerungsfreiheit betreffend LGBT-Fragen die Reduktion von Gesundheitsrisiken fördern würde. Ganz im Gegenteil wäre die Verbreitung von Wissen über Fragen von Sex und Geschlechteridentität sowie die Schaffung von Bewusstsein für jedes verbundene Risiko und für Methoden zum Selbstschutz gegen diese Risiken durch objektive und wissenschaftliche Präsentation ein unverzichtbarer Teil einer Kampagne zur Krankheitsverhütung und einer allgemeinen Gesundheitspolitik.

(73) Es ist ebenso schwer zu sehen, wie das Gesetz zum Verbot der Bewerbung von Homosexualität oder nicht traditionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen helfen könnte, die gewünschten demografischen Ziele zu erreichen oder wie umgekehrt das Fehlen eines solchen Gesetzes diese beeinträchtigen könnte. Bevölkerungswachstum hängt von einer Vielzahl von Bedingungen ab, wobei wirtschaftlicher Wohlstand, Sozialversicherungsrechte und die Zugänglichkeit von Kinderbetreuung die offensichtlichsten von jenen Faktoren sind, die staatlichem Einfluss unterliegen. Die Unterdrückung von Informationen über gleichgeschlechtliche Beziehungen ist keine Methode, durch welche ein negativer demografischer Trend umgekehrt werden könnte. Zudem hätte ein möglicher Nutzen jedenfalls gegen die konkreten Rechte von LGBT-Indivviduen abgewogen werden müssen, die von den strittigen Beschränkungen beeinträchtigt wurden. Es reicht aus zu beobachten, dass die soziale Akzeptanz von heterosexuellen Paaren nicht von ihrer Absicht oder Möglichkeit abhängt, Kinder zu bekommen. Daraus folgt, dass dieses Argument keine Rechtfertigung für eine Beschränkung der Redefreiheit zum Gegenstand gleichgeschlechtlicher Beziehungen bieten kann.

Rechtfertigung aufgrund des Schutzes der Rechte anderer

(74) Schließlich konzentrierte sich die dritte Argumentationslinie der Regierung auf die Notwendigkeit, Minderjährige vor Informationen zu schützen, welche ein positives Bild von Homosexualität vermitteln konnten –als Vorkehrung gegen ihren Übertritt zu einem »homosexuellen Lebensstil«, der für ihre Entwicklung schädlich sein und sie für Missbrauch verwundbar machen würde. Sie betonte das potentielle Risiko, dass Minderjährige dazu verleitet oder gezwungen würden, eine unterschiedliche sexuelle Orientierung anzunehmen, das – ganz abgesehen von dem oben diskutierten moralischen Aspekt – Fragen berühren würde, welche die persönliche Autonomie von Minderjährigen betrafen und die erzieherischen Entscheidungen ihrer Eltern beeinträchtigten.

(75) Der GH bemerkt, dass die Notwendigkeit des Schutzes der Minderjährigen der Hauptgrund für die Annahme der Gesetze war, was sich auch in ihrem Text widerspiegelt. Die Beschränkungen der »Bewerbung« sind jedoch nicht auf spezielle Situationen beschränkt, was von dem Umstand bezeugt wird, dass einer der Bf. für eine Demonstration vor der Stadtverwaltung von St. Petersburg mit einer Geldstrafe belegt wurde, einem öffentlichen Ort, der nicht speziell für Minderjährige bestimmt ist. Es scheint, dass eine zufällige oder potentielle Beobachtung durch einen Minderjährigen ausreichen würde, eine »Bewerbung« an jedem Ort zu verbieten. Der Kern des Delikts wird tatsächlich durch den Inhalt des fraglichen Ausdrucks bestimmt. Das Verfassungsgericht stellte klar, dass das Verbot keine »Informationen« betraf, »die in einem neutralen (erzieherischen, künstlerischen, historischen) Kontext präsentiert werden und ... keine Hinweise auf eine Bewerbung aufweisen, wenn sie also nicht darauf abzielen, Präferenzen in Verbindung mit der Wahl von nicht traditionellen Formen von sexueller Identität zu schaffen«. In der Praxis kann sich das Erfordernis der Neutralität jedoch im Hinblick auf das Ausdrücken von Meinungen und sogar Tatsachendarstellungen als unerreichbar erweisen, da das Fehlen einer negativen Konnotation für sich so wahrgenommen werden kann, als dass es eine positive Haltung vermittelt. Die Äußerungen »Homosexualität ist keine Perversion« und »Homosexualität ist natürlich« wurden als unzureichend neutral und als »Bewerbung« angesehen.

(76) Im Hinblick auf den Anwendungsbereich des Verbots verweist der GH auf die Definition, die die Regierung für »Bewerbung« oder »Propaganda« lieferte und mit der sie diese als »aktive Verbreitung von Information mit dem Ziel, dass andere sich einem speziellen Wertebild verschreiben« skizzierte, auf die Urteile in den Fällen der Bf. und auf die Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Der GH teilt die Ansicht der Venedig-Kommission, die sich auf die Unklarheit der Terminologie in der gegenständlichen Gesetzgebung bezog, welche eine weite Auslegung der einschlägigen Bestimmungen erlaubte [...]. Er erwägt, dass der weite Anwendungsbereich dieser Gesetze, der durch Begriffe zum Ausdruck kam, die für eine vorhersehbare Anwendung nicht geeignet waren, bei der Beurteilung der von der Regierung vorgebrachten Rechtfertigung berücksichtigt werden muss.

(77) Bei der Äußerung ihrer Bedenken hinsichtlich der möglichen gewaltsamen oder heimlichen »Rekrutierung« von Minderjährigen durch die LGBT-Gemeinschaft wiederholte die Regierung im Wesentlichen dieselben Behauptungen wie jene, die vom GH in Alekseyev/RUS verworfen wurden:

»(86) [...] die [Regierung] erachtete es für notwendig, jede Erwähnung von Homosexualität auf den privaten Bereich zu beschränken und Schwule und Lesben aus der Öffentlichkeit zu verbannen und unterstellte damit, dass Homosexualität das Ergebnis einer bewussten und antisozialen Entscheidung war. Sie konnte allerdings keine Rechtfertigung für einen solchen Ausschluss bieten. Dem GH sind keine wissenschaftlichen Beweise oder soziologischen Daten verfügbar, die nahelegen würden, dass die bloße Erwähnung von Homosexualität oder eine offene öffentliche Debatte über den sozialen Status von sexuellen Minderheiten Kinder oder ›verwundbare Erwachsene‹ beeinträchtigen würden. Im Gegenteil kann die Gesellschaft solche komplexen Fragen wie jene des vorliegenden Falles nur durch eine faire und öffentliche Debatte behandeln. Eine derartige Debatte würde, durch wissenschaftliche Forschung untermauert, den sozialen Zusammenhalt begünstigen, indem sichergestellt wird, dass Vertreter aller Ansichten gehört werden, einschließlich der betroffenen Individuen. Dies würde auch einige verbreitete Verwirrungen klarstellen, etwa ob eine Person zu Homosexualität oder davon weg erzogen oder geleitet werden oder aus freien Stücken dafür oder dagegen optieren kann. Genau das war die Debatte, die der Bf. im vorliegenden Fall anstoßen wollte, und diese konnte nicht dadurch ersetzt werden, dass von offizieller Seite spontan nicht sachkundige, als verbreitet erachtete Ansichten zum Ausdruck gebracht wurden. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann der GH nur zum Schluss kommen, dass die Entscheidungen der Behörden, die fraglichen Ereignisse zu verbieten, nicht auf einer akzeptablen Beurteilung der einschlägigen Fakten beruhten.«

(78) Die Position der Regierung hat sich seit Alekseyev/RUS nicht weiterentwickelt und sie bleibt unbegründet. Die Regierung konnte keine Erklärung für den Mechanismus bieten, durch den ein Minderjähriger zu einem »homosexuellen Lebensstil« verleitet werden konnte, geschweige denn wissenschaftliche Beweise dafür, dass die sexuelle Orientierung oder Identität sich unter externem Einfluss ändern kann. Der GH weist diese Behauptungen daher zurück, da es ihnen an einer Beweisgrundlage fehlte.

(79) Soweit die Regierung die Gefahr der Ausbeutung und des Verderbens der Minderjährigen anführte und dabei auf die Verwundbarkeit der Letzteren verwies, erhält der GH den Einwand der Bf. aufrecht, wonach der Schutz gegen diese Gefahren nicht auf gleichgeschlechtliche Beziehungen beschränkt werden sollte. Dieselbe positive Verpflichtung sollte grundsätzlich auch im Hinblick auf verschiedengeschlechtliche Beziehungen relevant sein. Wie die Bf. darlegten, sah das russische Recht bereits eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für unzüchtige Handlungen gegen Minderjährige und die Weitergabe von Pornographie an Minderjährige vor. Diese Bestimmungen sind unabhängig von der sexuellen Orientierung der Betroffenen anwendbar. Die Regierung hat keine Gründe dafür vorgebracht, warum diese Regelungen nicht ausreichten und warum sie befand, dass Minderjährige im Zusammenhang mit homosexuellen Beziehungen für Missbrauch verwundbarer waren als mit heterosexuellen. Der GH kann nur wiederholen, dass eine solche Annahme eine Manifestation von Voreingenommenheit darstellen würde.

(80) Was das angebliche Eindringen der Bf. in den Bereich von Erziehungspolitiken und elterlichen Entscheidungen über sexuelle Erziehung anbelangt, beobachtet der GH, dass die Bf. bei ihren Demonstrationen nicht versuchten, mit Minderjährigen zu interagieren oder in ihren privaten Bereich einzudringen. Nichts auf ihren Plakaten konnte als Vorschlag ausgelegt werden, Unterweisungen zu Gender-Fragen zu bieten. Dieser Fall berührt nicht direkt die Funktionen, die vom Staat im Hinblick auf Schulerziehung und -unterricht übernommen werden.

(81) Auch unter der Annahme, dass die Verpflichtung der Behörden, die religiösen oder philosophischen Ansichten der Eltern zu achten, so ausgelegt werden können, als dass sie sie dazu verpflichten würden, Maßnahmen jenseits der Einrichtung der Curricula von Bildungseinrichtungen zu setzen, wäre es unrealistisch zu erwarten, dass die religiösen oder philosophischen Ansichten der Eltern in jeder Situation Vorrang erhalten müssten, insbesondere außerhalb der Schule. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Konvention nicht das Recht garantiert, nicht mit Ansichten konfrontiert zu werden, die den eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen.

(82) In sensiblen Angelegenheiten wie der öffentlichen Diskussion von sexueller Erziehung, wo elterliche Ansichten, Bildungspolitik und das Recht dritter Parteien auf Meinungsäußerungsfreiheit abgewogen werden müssen, haben die Behörden keine andere Wahl, als auf die Kriterien der Objektivität, des Pluralismus, der wissenschaftlichen Exaktheit und letztlich der Nützlichkeit einer bestimmten Art von Information für das junge Publikum zurückzugreifen. Es ist wichtig zu bemerken, dass die Botschaften der Bf. nicht falsch, sexuell freizügig oder aggressiv waren [...]. Auch machten die Bf. keinen Versuch, irgendein sexuelles Verhalten zu befürworten. Nichts in den Handlungen der Bf. minderte das Recht der Eltern, ihre Kinder aufzuklären und zu informieren, im Hinblick auf ihre Kinder die natürlichen elterlichen Funktionen als Erzieher auszuüben oder ihre Kinder auf einen Weg im Einklang mit ihren eigenen religiösen oder philosophischen Überzeugungen zu führen [...]. Soweit die Minderjährigen, die Zeugen der Kampagne der Bf. wurden, den Ideen von Vielfalt, Gleichheit und Toleranz ausgesetzt wurden, konnte die Übernahme dieser Ansichten dem sozialen Zusammenhang nur förderlich sein. Der GH anerkennt, dass der Schutz der Kinder vor Homophobie der Empfehlung Rec(2010)5 des Ministerkomitees (Anm: Empfehlung CM/Rec(2010)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten vom 31.3.2010 über Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität.) praktischen Ausdruck verleiht [...].

Ergebnis

(83) Im Lichte der obigen Erwägungen befindet der GH, dass die fraglichen rechtlichen Bestimmungen nicht dazu dienen, das legitime Ziel des Schutzes der Moral zu fördern und dass solche Maßnahmen wahrscheinlich für die Erreichung der erklärten legitimen Ziele des Schutzes der Gesundheit und der Rechte anderer kontraproduktiv sind. Angesichts der Unklarheit der verwendeten Terminologie und ihres potentiell unlimitierten Anwendungsbereichs stehen diese Bestimmungen in individuellen Fällen Missbrauch offen, wie in den drei vorliegenden Beschwerden belegt wird. Vor allem verstärken die Behörden durch die Annahme solcher Gesetze Stigma und Vorurteil und ermutigen zu Homophobie, was mit den einer demokratischen Gesellschaft immanenten Begriffen der Gleicheit, des Pluralismus und der Toleranz unvereinbar ist.

(84) Die vorangehenden Überlegungen sind ausreichend, um es dem GH zu ermöglichen zum Schluss zu kommen, dass die russischen Behörden mit der Annahme der betreffenden verschiedenen allgemeinen Maßnahmen und mit der Umsetzung dieser in den Fällen der Bf. ihren von Art. 10 EMRK gewährten Ermessensspielraum überschritten haben. Es erfolgte daher eine Verletzung dieser Bestimmung (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 10 EMRK

(86) Der GH hält fest, dass diese Beschwerde mit jener nach Art. 10 EMRK verbunden ist und daher ebenfalls für zulässig erklärt werden muss (einstimmig).

(89) [...] Im Hinblick auf unterschiedliche Behandlungen wegen der sexuellen Orientierung hat der GH festgehalten, dass der Ermessensspielraum des Staates eng ist. Mit anderen Worten erfordern solche Unterschiede besonders überzeugende und gewichtige Gründe für die Rechtfertigung [...]. Der GH hat betont, dass Unterschiede, die sich allein auf Erwägungen der sexuellen Orientierung gründen, unter der Konvention nicht akzeptiert werden können.

(90) Der GH beobachtet, dass der Kodex über Ordnungswidrigkeiten – in Übereinstimmung mit der Position des Verfassungsgerichts – speziell verbietet, »die Attraktivität von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen zu bewerben, ein verzerrtes Bild der sozialen Gleichstellung von traditionellen und nicht traditionellen sexuellen Beziehungen zu schaffen«. Die gegenständliche Gesetzgebung konstatiert somit die Minderwertigkeit von gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Vergleich zu verschiedengeschlechtlichen.

(91) Der GH hat bereits oben festgestellt, dass die fraglichen Gesetzesbestimmungen eine Voreingenommenheit von Seiten der heterosexuellen Mehrheit gegen die homosexuelle Minderheit zum Ausdruck bringen und dass die Regierung keine überzeugenden und gewichtigen Gründe vorgebracht hat, um die unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen.

(92) Die vorangegangenen Feststellungen führen auch zur Feststellung einer Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 8.000,–, € 15.000,– bzw. € 20.000,– für immateriellen Schaden an den Erst-, Zweit- bzw. den DrittBf.; € 45,– bzw. € 180,– für materiellen Schaden an den Zweit- bzw. DrittBf.; € 5.880,– bzw. € 83,– für Kosten und Auslagen an den Erst- bzw. den DrittBf. (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/DK v. 7.12.1976 = EuGRZ 1976, 478

Smith und Grady/GB v. 27.9.1999 = NL 1999, 156 = ÖJZ 2000, 614

Salgueiro da Silva Mouta/P v. 21.12.1999 = NL 2000, 20

L. und V./A v. 9.1.2003 = NL 2003, 16 = ÖJZ 2003, 394

Alekseyev/RUS v. 21.10.2010

Vejdeland u.a./S v. 9.2.2012 = NLMR 2012, 48

X. u.a./A v. 19.2.2013 (GK) = NLMR 2013, 46 = ÖJZ 2013, 476

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.6.2017, Bsw. 67667/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 251) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_3/Bayev.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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