JudikaturJustizBsw64602/12

Bsw64602/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. April 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache R. B. gg. Ungarn, Urteil vom 12.4.2016, Bsw. 64602/12.

Spruch

Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK, Art. 8 EMRK - Beschimpfung und Bedrohung von Roma während rechter Demonstration.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (mehrheitlich).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 3.717,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., die der Volksgruppe der Roma angehört, lebt in Gyöngyöspata, einem Dorf mit 2.800 Einwohnern, von denen etwa 450 Roma sind.

Am 6.3.2011 hielt die rechte politische Partei Jobbik Magyarországért Mozgalom (»Bewegung für ein besseres Ungarn«) dort eine Demonstration ab. Zwischen 1. und 16.3.2011 organisierten eine Bürgerwehr und zwei rechtsgerichtete paramilitärische Gruppen damit zusammenhängend Märsche im Roma-Viertel des Dorfes.

Gegen 11:00 Uhr am 10.3.2011 passierten vier Personen das Haus der Bf., die sich gerade mit ihrer Tochter und Bekannten im Garten befand, und riefen »Geht rein, ihr verfluchten dreckigen Zigeuner!«. Ein Mann tat kund, dass er in der Gegend ein Haus »aus ihrem Blut« bauen würde, und schwang eine Axt gegen die Bf., konnte aber von seinen Begleitern zurückgehalten werden.

Am 7.4.2011 erstattete die Bf. eine Strafanzeige gegen unbekannte Täter wegen der Delikte der Gewalt gegen ein Mitglied einer ethnischen Gruppe, Belästigung und versuchter Körperverletzung. Die Polizei eröffnete eine Untersuchung wegen Belästigung nach § 176/A StGB (Anm: Danach macht sich eines Vergehens schuldig, wer mit der Absicht, eine andere Person einzuschüchtern oder deren Privatsphäre oder Alltag zu stören, diese regelmäßig belästigt.), die mit einer Untersuchung eines ähnlichen Falls vom selben Tag verbunden wurde.

Die Polizei stellte dieses Verfahren am 14.7.2011 ein, weil Belästigung nur strafbar wäre, wenn sie gegenüber einer konkreten Person erfolge, nicht aber bei allgemein geäußerten Drohungen. Sie eröffnete aber ein Ordnungswidrigkeitsverfahren aufgrund der Tatsache, dass das Verhalten »unsozial« gewesen wäre. Die Bf. identifizierte in diesem Verfahren S. T. als den bewaffneten Mann.

Am 7.10.2011 wurde die Bf. informiert, dass im Hinblick auf ihre Anzeige wegen Belästigung eine separate Untersuchung eröffnet worden wäre. Der Anwalt beantragte am 20.10., auch eine Untersuchung wegen »Gewalt gegen ein Mitglied einer ethnischen Gruppe« nach § 174/B Abs. 1 StGB (Anm: Es begeht danach eine Straftat, wer unter anderem gegen einen anderen Gewalt anwendet, weil dieser zu einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe gehört, oder diese Person durch Gewalt oder Drohung zwingt, etwas zu tun oder zu unterlassen.) zu eröffnen, da Grund für die Drohungen gegenüber der Bf. ihre Roma-Herkunft gewesen sei.

Die Staatsanwaltschaft wies diesen Antrag am 3.11.2011 zurück, da das objektive Element der Anwendung von Gewalt nicht festgestellt werden könne. Am 28.11.2011 wiederholte die Bf. ihren Antrag, abermals ohne Erfolg.

Die Behörden konnten die Identität der Personen feststellen, die das Haus der Bf. passiert hatten. Am 2.2.2012 wurden die Ermittlungen in Bezug auf die Belästigung eingestellt, weil die Behauptung der Bf., dass sie konkret bedroht worden wäre, nicht durch Zeugen belegt hätte werden können. Diese Entscheidung wurde von der Staatsanwaltschaft am 21.3.2012 bestätigt, da weder das Delikt der Belästigung noch jenes der »Gewalt gegen ein Mitglied einer Gruppe« festgestellt werden hätten können.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügte eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) durch die Beschimpfungen und Drohungen von Seiten eines Mitglieds einer rechtsstehenden Gruppierung sowie das Fehlen einer wirksamen Untersuchung des Vorfalls durch die Behörden. Ebenso rügte sie unter Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), dass die Behörden keine ausreichenden Maßnahmen gesetzt hätten, um ein mögliches rassistisches Motiv für den Vorfall nachzuweisen. Unter Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) beschwerte sie sich darüber, dass die Behörden es verabsäumt hätten, entsprechende (insbesondere strafrechtliche) Maßnahmen gegen die Teilnehmer der Anti-Roma-Versammlungen zu setzen, um sie von den rassistischen Belästigungen abzuhalten, die schließlich stattfanden. Sie brachte auch vor, dass die Behörden durch das Versäumnis, diesen Vorfall rassistischer Beschimpfung ordentlich zu untersuchen, ihren positiven Verpflichtungen nicht nachgekommen wären.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 alleine und iVm. Art. 14 EMRK

(34) Die Regierung brachte vor, dass diese Beschwerde ratione materiae mit der Konvention unvereinbar sei, da die gerügte Behandlung die Mindestschwelle an Schwere, die für eine Anwendung von Art. 3 EMRK erforderlich ist, nicht erreichen würde. [...]

(39) Die Pflicht der Behörden, hassmotivierte Gewalt durch Private zu verhindern sowie das Vorliegen einer möglichen Verbindung zwischen einem diskriminierenden Motiv und dem Gewaltakt zu untersuchen, kann unter den verfahrensrechtlichen Aspekt des Art. 3 EMRK fallen, aber auch als Teil der positiven Pflichten der Behörden nach Art. 14 EMRK gesehen werden, den grundlegenden Wert, der in Art. 3 EMRK verbürgt ist, ohne Diskriminierung zu gewährleisten. Aufgrund des Zusammenspiels der beiden Bestimmungen können Fragen wie die im vorliegenden Fall unter einer der beiden Bestimmungen allein zu untersuchen sein, ohne dass eine gesonderte Frage unter der anderen auftritt, oder eine gleichzeitige Prüfung unter beiden Artikeln erfordern. Diese Frage ist für jeden Fall im Lichte der Umstände und der Natur der gemachten Behauptungen zu entscheiden.

(40) Im vorliegenden Fall behauptete die Bf., dass die Beleidigungen und Drohungen gegen sie rassistische Untertöne gehabt hätten, was die Behandlung ausreichend schwer machen würde, um die Schwelle des Art. 3 EMRK zu erreichen. Sie rügte weiters, dass die Behörden es verabsäumt hätten, sie vor dieser durch Vorurteile motivierten verbalen Gewalt zu schützen und diese ausreichend zu untersuchen. Daher zieht es der GH vor, die Rügen der Bf. einer gleichzeitigen doppelten Untersuchung unter Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK zu unterziehen.

(41) Die erste Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die Behandlung der Bf. durch die Demonstranten eine Misshandlung iSd. Art. 3 EMRK darstellte. Wenn nicht, stellt sich die Frage gar nicht, ob die belangte Regierung ihre Verpflichtungen nach dieser Bestimmung erfüllte.

(45) [...] Die Konventionsorgane haben im Zusammenhang mit Beamten zurechenbaren Akten akzeptiert, dass rassische Diskriminierung unter bestimmten Umständen für sich eine »erniedrigende Behandlung« iSd. Art. 3 EMRK darstellen kann. Diskriminierende Bemerkungen und rassistische Beleidigungen müssen bei der Beurteilung eines gegebenen Falles von Misshandlung im Lichte des Art. 3 EMRK auf jeden Fall als erschwerender Umstand angesehen werden. Dieser Ansatz wurde in Bezug auf eine Privaten zurechenbare Behandlung bestätigt. Im Kontext religiöser Intoleranz hat der GH festgehalten, dass die Garantien unter Art. 3 EMRK nicht auf Akte körperlicher Misshandlung beschränkt waren, sondern auch die Zufügung psychischer Leiden durch Dritte umfassen konnten.

(46) Im vorliegenden Fall gab die Bf. zu, dass sie keine körperliche Verletzung durch S. T. oder andere Teilnehmer an den Märschen vom 10.3.2011 erlitten hatte. Ihre Rüge stützte sich auf die psychischen Auswirkungen des Verhaltens von S. T. auf sie und andere Mitglieder der Minderheit der Roma. Sie betonte, dass Ziel der Demonstration gewesen sei, Furcht unter den Roma in Gyöngyöspata zu verbreiten, und dass ihr kleines Kind bei ihr gewesen sei, als sich der Vorfall ereignete.

(47) Im Lichte der ihm vorliegenden Beweise, insbesondere des Berichts des parlamentarischen Beauftragten für nationale und ethnische Minderheiten, akzeptiert der GH, dass das Verhalten der Teilnehmer an den Märschen geplant und durch ethnische Vorurteile motiviert war. Er bemerkt auch, dass die Märsche nach dem fraglichen Vorfall noch für etwa zwei Wochen weitergingen und dazu bestimmt waren, Angst unter der Minderheit der Roma zu verbreiten.

(48) Dennoch ist die Situation der Bf. nicht vergleichbar mit dem Fall P. F. und E. F./GB, wo festgestellt wurde, dass junge Schulmädchen und ihre Eltern beträchtlichem psychischen Leid unterworfen wurden, als sie zwei Monate lang täglicher Beschimpfung ausgesetzt waren, einschließlich »dem Werfen von Steinen, Müll, mit Urin und Hundeexkrementen gefüllten Ballonen, Böllern und einmal einem Sprengkörper [...]«, [und insgesamt eine einschüchternde Atmosphäre geschaffen wurde].

(49) Der Fall muss auch von den Fällen Begheluri u.a./GE und Members of the Gldani Congregation of Jehovah’s Witnesses u.a./GE unterschieden werden, wo die Drohungen gegen Mitglieder der religiösen Gemeinschaften von Durchsuchungen, schweren Prügeln, Raub und einer Reihe von erniedrigenden und einschüchternden Akten begleitet waren. Die andauernde organisierte Schikane war dazu bestimmt, die Bf. dazu zu zwingen, gegen ihren Willen und ihr Gewissen zu handeln, und fand in einem allgemeinen nationalen Klima religiöser Intoleranz statt.

(50) Letztlich steht die Situation der Bf. auch in einem Gegensatz zu jener in Identoba u.a./GE, wo die Beschimpfungen und ernsten Drohungen gegen die Bf. – Demonstranten für Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen- und Transgenderrechte – diskriminierend waren. Ihnen folgten tatsächliche körperliche Angriffe auf einige der Bf., wobei die Demonstranten von einem wütenden Mob umgeben waren, der ihnen an Zahl überlegen war.

(51) Im vorliegenden Fall waren die rechtsstehenden Gruppierungen zwar für mehrere Tage in der Nachbarschaft der Bf. anwesend, wurden aber ständig von der Polizei überwacht. Tatsächlich befand sich während dem größten Teil dieses Zeitraumes eine beträchtliche Polizeipräsenz in der Gemeinde. Wie aus der Fallakte hervorgeht, kam es zu keiner tatsächlichen Konfrontation zwischen den einheimischen Roma und den Demonstranten. S. T.’s Äußerungen und Akte waren zwar offen diskriminierend und wurden im Kontext von Märschen mit intoleranten Untertönen gesetzt, waren aber nicht so schwerwiegend, dass sie die Art von Angst oder Gefühlen der Unterlegenheit verursachen konnten, die für die Anwendung von Art. 3 EMRK nötig ist.

(52) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass das Mindestmaß an Schwere, das verlangt wird, damit eine Angelegenheit in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK fällt, nicht erreicht wurde. Demgemäß weist der GH die Rüge der Bf. über das Versäumnis der Behörden, ihren positiven Verpflichtungen nach Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK nachzukommen, [...] als offensichtlich unbegründet [und daher unzulässig] zurück (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Zur Rüge betreffend das Versäumnis der innerstaatlichen Behörden, eine wirksame Untersuchung durchzuführen

(55) Die Regierung forderte den GH auf, diese Beschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig zu erklären. [...]

(61) Im vorliegenden Fall erhob die Bf. eine Strafanzeige gegen unbekannte Täter wegen »Gewalt gegen ein Mitglied einer Gruppe«. Nichts weist darauf hin, dass das folgende Verfahren grundsätzlich nicht geeignet war, zur Identifikation und gegebenenfalls zur Bestrafung der Verantwortlichen zu führen.

(62) Nach Ansicht des GH wurde dem Staat durch dieses Rechtsmittel die Gelegenheit gegeben, die Sache in Ordnung zu bringen. Die Bf. hat daher ihre Rüge den nationalen Behörden inhaltlich zur Kenntnis gebracht und über die innerstaatlichen Wege Wiedergutmachung für ihre Rüge gesucht. Sie war darüber hinaus nicht gehalten, die Sache zu verfolgen, indem sie ein Privatanklageverfahren anstrengte, das dasselbe Ziel gehabt hätte wie ihre strafrechtliche Anzeige.

(65) Daraus folgt, dass die Einrede der Regierung [...] zurückgewiesen werden muss.

(66) Der GH hält fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek).

(78) [...] Art. 8 EMRK [...] kann [...] vielfältige Aspekte der körperlichen und sozialen Identität einer Person umfassen. Der GH hat in der Vergangenheit akzeptiert, dass die ethnische Identität des Einzelnen als ein weiteres solches Element angesehen werden muss. Insbesondere kann jede negative Stereotypisierung einer Gruppe, wenn sie ein bestimmtes Maß erreicht, das Identitätsgefühl der Gruppe und den Selbstwert und das Selbstbewusstsein ihrer Mitglieder und damit deren Privatleben beeinträchtigen.

(80) [...] Der GH bemerkt, dass die Bf., die den Roma angehört, sich durch die angeblichen Anti-Roma-Versammlungen, die von verschiedenen rechtsstehenden Gruppen zwischen 1. und 16.3.2011 in der vorwiegend von Roma bewohnten Umgebung von Gyöngyöspata organisiert wurden, und insbesondere durch die rassistische Beschimpfung und den versuchten Angriff, denen sie am 10.3.2011 in Beisein ihres Kindes ausgesetzt war, beleidigt und traumatisiert fühlte. Für den GH ist der Kernpunkt der Beschwerde, dass die Beschimpfung, die während laufender Anti-Roma-Versammlungen erfolgte, gegen die Bf. gerichtet wurde, weil sie einer ethnischen Minderheit angehörte. Dieses Verhalten beeinträchtigte notwendigerweise das Privatleben der Bf. iSd. Art. 8 EMRK im Hinblick auf die ethnische Identität.

(83) Bei der Untersuchung gewalttätiger Vorfälle haben die staatlichen Behörden unter Art. 3 EMRK eine zusätzliche Pflicht, alle angemessenen Schritte zu setzen, um jegliches rassistische Motiv zu enthüllen und festzustellen, ob ethnischer Hass oder ethnisches Vorurteil bei den Ereignissen ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Zudem hat der GH schon früher unter Art. 8 EMRK festgestellt, dass Gewaltakte wie die Zufügung geringfügiger körperlicher Verletzungen und verbale Drohungen vom Staat verlangen können, angemessene positive Maßnahmen im Bereich des strafrechtlichen Schutzes zu setzen.

(84) Der GH erwägt daher, dass eine ähnliche Verpflichtung in Fällen entstehen kann, wo angeblich auf Voreingenommenheit beruhendes Verhalten nicht die für Art. 3 EMRK nötige Schwelle erreicht, aber einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Privatleben nach Art. 8 EMRK darstellt, also wenn eine Person glaubhaft behauptet, dass sie einer rassistisch motivierten Belästigung – einschließlich Beleidigungen und körperlichen Bedrohungen – unterworfen wurde. In diesem Zusammenhang betont er, dass der zunehmend hohe Standard, der im Bereich des Schutzes der Menschenrechte und Grundfreiheiten verlangt wird, dementsprechend zwangsläufig eine größere Entschlossenheit bei der Beurteilung von Verstößen gegen die grundlegenden Werte demokratischer Gesellschaften erfordert. Weiters verlangen die positiven Verpflichtungen nach Ansicht des GH in Situationen, wo es Beweise für Muster von Gewalt und Intoleranz gegen eine ethnische Minderheit gibt, von den Staaten einen höheren Standard bei der Antwort auf angeblich auf Vorurteilen basierende Vorfälle.

(85) Der GH wird daher untersuchen, ob die ungarischen Behörden bei der Behandlung des Falles der Bf. ihre positiven Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK verletzten, und insbesondere, ob die Art und Weise, wie die strafrechtlichen Mechanismen im vorliegenden Fall umgesetzt wurden, [...] mangelhaft waren [...].

(86) Im vorliegenden Fall wurde die strafrechtliche Anzeige wegen der Beschimpfungen und Drohungen gegen die Bf. [...] am 7.4.2011 erhoben, also weniger als einen Monat nach dem Vorfall. Die Polizeibehörde verband den Fall der Bf. mit einer anderen strafrechtlichen Anzeige, welche dieselben Ereignisse betraf, und eröffnete eine Untersuchung zum Delikt der Belästigung. Nach Erkundigung der Bf. über den Ausgang ihrer Strafanzeige wurde am 7.10.2011 eine gesonderte Untersuchung zu ihren Vorwürfen eröffnet.

(87) In der ursprünglichen Strafanzeige vom 7.4.2011 hatte die Bf. bereits vorgebracht, dass sie Opfer einer rassistisch motivierten Attacke geworden wäre, und behauptet, dass dies Gewalt gegen ein Mitglied einer Gruppe und Belästigung dargestellt hätte. Dennoch konzentrierten sich die Strafverfolgungsbehörden bei der neueröffneten Untersuchung wieder auf die Belästigung. In ihren folgenden Anträgen vom 20.10. und 28.11.2011 zur Ausweitung der Untersuchung auf »Gewalt gegen ein Mitglied einer ethnischen Gruppe«, legte die Bf. eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse vor und argumentierte, dass das Anti-Roma-Motiv ein wichtiges Element gewesen sei und in der Untersuchung geprüft hätte werden müssen. Ihre Eingaben führten jedoch zu nichts, da das Büro des Staatsanwalts feststellte, dass die Anwendung von Gewalt – ein objektives Element des behaupteten Verbrechens – nicht nachgewiesen werden konnte. Daher beschränkte sich die Polizei darauf zu prüfen, ob die Drohungen des S. T. gegen die Bf. gerichtet oder »im Allgemeinen« geäußert worden waren und stellte fest, dass sie nicht direkt gegen die Bf. gerichtet worden wären und daher keine Straftat der Belästigung stattgefunden habe.

(88) Die gerügten Beleidigungen und Handlungen fanden während einer Anti-Roma-Versammlung statt, die mehrere Tage dauerte und kamen von einem Mitglied einer offen rechtsstehenden paramilitärischen Gruppe. Aufgrund dieser tatsächlichen Umstände erwägt der GH, dass es Gründe gab zu glauben, dass es an ihrer Herkunft als Romni lag, dass die Bf. [...] beleidigt und bedroht worden war. Daher war es wesentlich für die betreffenden innerstaatlichen Behörden, die Untersuchung in diesem speziellen Zusammenhang zu führen und alle angemessenen Schritte zu setzen, um die Rolle von rassistischen Motiven bei dem Vorfall zu enthüllen. Die Notwendigkeit, eine sinnvolle Untersuchung der hinter dem Vorfall stehenden Diskriminierung zu führen, war unerlässlich, wenn man bedenkt, dass es sich nicht um einen einzelnen Vorfall handelte, sondern dieser Teil der allgemeinen feindseligen Einstellung gegenüber der Gemeinschaft der Roma in Gyöngyöspata war.

(89) Was die strafrechtlichen Mechanismen im ungarischen Rechtssystem anbelangt, bemerkt der GH, dass § 174/B (Gewalt gegen ein Mitglied einer Gruppe) und § 269 (Aufstachelung gegen eine Gruppe) StGB in der damaligen Fassung eine geeignete rechtliche Basis für die Eröffnung einer strafrechtlichen Untersuchung wegen angeblich auf Vorurteilen beruhenden Motiven boten. Die Strafverfolgungsbehörden stellten im Fall des Bf. jedoch fest, dass ein objektives Element des Verbrechens von Gewalt gegen ein Mitglied einer Gruppe nicht festgestellt werden konnte und dass es daher keine Gründe gebe, die Untersuchung dieser Straftat weiterzuverfolgen. Der GH beobachtet auch, dass die Bestimmung des StGB über »Belästigung« kein Element enthält, das einen Bezug zu rassistischen Motiven aufweist.

(90) Unter Berücksichtigung der speziellen und begründeten Behauptungen der Bf. während der Untersuchung und der tatsächlichen Umstände des Vorfalls hatten die zuständigen Behörden Beweise zur Verfügung, die ein rassistisches Motiv für die verbale Gewalt gegen die Bf. nahelegten. Die rechtlichen Bestimmungen, die damals in Kraft standen, boten der Bf. jedoch keine angemessene rechtliche Möglichkeit, um Abhilfe in Bezug auf die angeblich rassistisch motivierte Beleidigung zu erlangen.

(91) Nach Ansicht des GH bot diese Situation der Bf. keinen angemessenen Schutz gegen einen Angriff auf ihre Integrität und zeigte, dass die Weise, auf welche der strafrechtliche Mechanismus im gegenständlichen Fall umgesetzt wurde, derart mangelhaft war, dass dies eine Verletzung der positiven Verpflichtungen des Staates unter Art. 8 EMRK begründete (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek).

Zur Rüge betreffend die Untätigkeit der Behörden während der Versammlungen

(101) Die andauernden Demonstrationen mögen für die Bf. zwar aufreibend gewesen sein, doch war die Reaktion der Polizei auf die Ereignisse [...] unter den Umständen angemessen und nicht unvereinbar mit der Pflicht der Behörden unter Art. 8 EMRK. Die angefochtene operative Entscheidung der Polizei über die Art und Weise, wie sie die Ordnung und Sicherheit während der Märsche aufrechterhielt, fiel in den Bereich legitimen polizeilichen Ermessens. Daher gab es keinen Anschein einer Verletzung der positiven Verpflichtungen des Staates unter Art. 8 EMRK, die körperliche und psychische Integrität der Bf. zu schützen.

(102) Daraus folgt, dass diese Beschwerde offensichtlich unbegründet und [als unzulässig] zurückzuweisen ist (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.000,– für immateriellen Schaden; € 3.717,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek).

Vom GH zitierte Judikatur:

Members of the Gldani Congregation of Jehovah’s Witnesses u.a./GE v. 3.5.2007

Šecic/HR v. 31.5.2007 = NL 2007, 135

S. und Marper /GB v. 4.12.2008 (GK) = NL 2008, 356 = EuGRZ 2009, 299

Sandra Jankovic/HR v. 5.3.2009

P. F. und E. F./GB v. 23.11.2010 (ZE)

Aksu/TR v. 15.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 85

Abdu/BG v. 11.3.2014 = NLMR 2014, 147

Begheluri u.a./GE v. 7.10.2014

Identoba u.a./GE v. 12.5.2015 = NLMR 2015, 242

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.4.2016, Bsw. 64602/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 138) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_2/R.B.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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