JudikaturJustizBsw50882/99

Bsw50882/99 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
27. September 2005

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Petri Sallinen u.a. gegen Finnland, Urteil vom 27.9.2005, Bsw. 50882/99.

Spruch

Art. 8 EMRK - Durchsuchung einer Anwaltskanzlei.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6

EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.500,- für immateriellen Schaden des ErstBf. Was die übrigen Bf. betrifft, stellt die Feststellung einer Verletzung eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. Insgesamt € 6.870,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der ErstBf. ist Rechtsanwalt, die 17 weiteren Bf. waren seine Mandanten. Am 2.3.1999 wurden die Kanzlei und die Wohnung des ErstBf. von der Polizei durchsucht. Die Durchsuchung stand im Zusammenhang mit gegen zwei Mandanten des ErstBf. wegen des Verdachts des Kreditbetrugs geführten Erhebungen. Der ErstBf. wurde verdächtigt, dieses Delikt begünstigt zu haben. Die Polizei kopierte vor Ort zwei Festplatten des ErstBf., zwei weitere Computer wurden beschlagnahmt und nach Kopie der Daten am 4.3.1999 zurückgegeben. Ein Antrag des ErstBf., die Beschlagnahme für rechtswidrig zu erklären, wurde am 24.3.1999 vom Bezirksgericht (käräjäoikeus) Joensuu abgewiesen. Diese Entscheidung wurde am 11.5.1999 vom Hofgericht (hovioikeus) bestätigt. Der Oberste Gerichtshof wies ein dagegen erhobenes Rechtsmittel des ErstBf. am 25.11.1999 ab. Am 4.5.1999 bescheinigte die Polizei die Rückgabe von drei der vier Festplatten und die Zerstörung der von diesen angefertigten Kopien. Sie stellte jedoch fest, dass sie eine Kopie der vierten Festplatte bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme behalten würde.

Am 17.6.1999 stellte das Bezirksgericht auf Antrag von drei der Bf. die Rechtswidrigkeit der Beschlagnahme der vierten Festplatte, die Material über ihre Unterredungen mit dem ErstBf. enthielt, fest und ordnete die Herausgabe der angefertigten Kopie an.

Die Staatsanwaltschaft erhob am 3.3.2000 Anklage gegen die beiden Klienten des ErstBf. Gegen diesen selbst wurde keine Anklage erhoben, da keine Beweise für seine Beteiligung an einer Straftat gefunden wurden.

Die Entscheidung des Bezirksgerichts vom 17.6.1999 wurde vom Hofgericht im zweiten Rechtszug am 4.10.2001 aufgehoben und die Beschlagnahme für rechtmäßig erklärt. Dem dagegen erhobenen Rechtsmittel gab der Oberste Gerichtshof teilweise statt. Er erachtete es als unbestritten, dass die kopierte Festplatte auch durch die Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts geschützte Informationen enthielt, die sich auf die Unterredungen des ErstBf. mit seinen Mandanten bezogen.(Anm.: Gemäß Kapitel 4, § 2 des Zwangsmittelgesetzes (pakkokeinolaki), das die Voraussetzungen für Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen regelt, dürfen Dokumente nicht zur Beweissicherung beschlagnahmt werden, wenn anzunehmen ist, dass sie Informationen enthalten, über die ein Rechtsanwalt nach Kapitel 17, § 23 des Prozessgesetzes (oikeudenkäymiskaari) in einem Verfahren nicht aussagen darf.) Die Polizei sei zwar zur Beschlagnahme und Anfertigung einer Kopie der Festplatte befugt gewesen, hätte die Dateien jedoch unverzüglich zurückgeben oder löschen müssen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens, der Wohnung und der Korrespondenz) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. bringen vor, die Durchsuchung und Beschlagnahme von der Verschwiegenheitspflicht unterliegendem Material habe Art. 8 EMRK verletzt.

1. Zum Vorliegen eines Eingriffs:

Die Durchsuchung der Wohnung und der Kanzlei des ErstBf. sowie die Beschlagnahme seiner Festplatten stellen einen Eingriff in sein Recht auf Achtung der Wohnung und der Korrespondenz dar. Diese Maßnahmen bedeuten auch einen Eingriff in das Recht der Mandanten des ErstBf., die sich der Beschwerde angeschlossen haben, auf Achtung der Korrespondenz. Der GH erachtet es nicht als notwendig zu entscheiden, ob auch in das Recht auf Achtung des Privatlebens eingegriffen wurde.

Zu prüfen bleibt daher, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten berechtigten Ziele verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

2. Zur Rechtfertigung des Eingriffs:

Die Formulierung gesetzlich vorgesehen in Art. 8 Abs. 2 EMRK erfordert in erster Linie, dass die Maßnahme eine Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss.

Die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts obliegt in erster Linie den nationalen Gerichten. Es ist daher nicht Sache des GH, der Ansicht der finnischen Gerichte zu widersprechen, die Durchsuchung und Beschlagnahme habe auf dem Zwangsmittelgesetz und dem Prozessgesetz beruht. Der in Beschwerde gezogene Eingriff hatte damit eine Grundlage im finnischen Recht.

Das zweite Erfordernis, das sich aus der Formulierung gesetzlich vorgesehen ergibt die Zugänglichkeit des Rechts wirft im vorliegenden Fall keine Probleme auf.

Dies gilt allerdings nicht für das dritte Erfordernis, die Vorhersehbarkeit der Bedeutung und der Art der anwendbaren Maßnahmen. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK die Vereinbarkeit des in Rede stehenden Gesetzes mit dem Rechtsstaatsprinzip verlangt. Im Zusammenhang mit Hausdurchsuchungen muss das Gesetz dem Einzelnen einen gewissen Schutz vor willkürlichen Eingriffen in seine durch Art. 8 EMRK gewährten Rechte bieten. Das innerstaatliche Recht muss daher ausreichend deutlich formuliert sein, um den Bürgern klaren Aufschluss darüber zu geben, unter welchen Umständen und Bedingungen die staatlichen Behörden zu solchen Maßnahmen ermächtigt sind.

Zur Qualität der im vorliegenden Fall anwendbaren Bestimmungen stellt der GH fest, dass nach Kapitel 4, § 2 des Zwangsmittelgesetzes ein Dokument nicht zu Beweiszwecken beschlagnahmt werden darf, wenn anzunehmen ist, dass es Informationen enthält, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Nach Kapitel 15, § 23 des Prozessgesetzes darf ein Rechtsanwalt nichts darüber aussagen, was ihm ein Mandant zum Zweck der Vertretung in einem Verfahren anvertraut hat.

Der Text der genannten Bestimmung des Prozessgesetzes erscheint dem GH unklar, soweit er die Vertraulichkeit betrifft. Das innerstaatliche Recht stellt nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit klar, ob der Begriff Vertretung in einem Verfahren (pleading a case) nur die Beziehung zwischen einem Anwalt und seinen Mandanten hinsichtlich eines bestimmten Verfahrens umfasst, oder in einem weiteren Sinne zu verstehen ist.

Die Regierung bringt dazu vor, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme der Aufklärung eines schweren Delikts gedient hätten. Ein Anwalt, der einer schwerwiegenden Straftat verdächtig sei, könne nicht anders als sonstige Verdächtige behandelt werden. Dieses Argument vermag nicht zu überzeugen. Die durchsuchten, beschlagnahmten und kopierten Festplatten enthielten Informationen, die zwischen dem ErstBf. und Mandanten ausgetauscht wurden, die nichts mit diesen Straftaten zu tun hatten. Eine Kopie der vierten Festplatte blieb längere Zeit in den Händen der Polizei. Der GH stellt fest, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme keiner unabhängigen oder richterlichen Kontrolle unterlagen. Der GH betont, dass solche Maßnahmen einen schwerwiegenden Eingriff in Privatleben, Wohnung und Korrespondenz darstellen und daher auf einer besonders präzisen gesetzlichen Grundlage beruhen müssen. Dem Bestehen eindeutiger, detaillierter Regelungen kommt dabei wesentliche Bedeutung zu.

In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass das Verhältnis zwischen dem Zwangsmittelgesetz und dem Prozessgesetz unklar war und Anlass zu unterschiedlichen Auffassungen darüber gab, in welchem Umfang Informationen, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen geschützt sind. Der GH gelangt zu dem Ergebnis, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme im vorliegenden Fall ohne angemessene rechtliche Sicherungen durchgeführt wurden. Selbst wenn vom Bestehen einer allgemeinen rechtlichen Grundlage für die Maßnahmen im finnischen Recht ausgegangen werden könnte, wurden die Bf. durch das Fehlen anwendbarer Regelungen, die mit ausreichender Bestimmtheit die Umstände bezeichnen, unter denen Informationen, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, einer Untersuchung und Beschlagnahme unterzogen werden können, jenes Mindestmaßes an Schutz beraubt, das ihnen in demokratischen Gesellschaften nach dem Rechtsstaatsprinzip zusteht. Da der Eingriff somit nicht gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK war, liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6

EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 13

EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 2.500, für immateriellen Schaden des ErstBf. Was die übrigen Bf. betrifft, stellt die Feststellung einer Verletzung eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. Insgesamt €

6.870, für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Chappell/GB v. 30.3.1989, A/152-A.

Niemietz/D v. 16.12.1992, A/251-B, NL 1993/1, 17; EuGRZ 1993, 65; ÖJZ

1993, 389.

Kopp/CH v. 25.3.1998, NL 1998, 73; ÖJZ 1999, 115.

Sociéte Colas Est u.a./F v. 16.4.2002, NL 2002, 88.

Buck/D v. 28.4.2005, NL 2005, 83.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.9.2005, Bsw. 50882/99, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 230) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_5/Sallinen.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.