JudikaturJustizBsw48322/12

Bsw48322/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. Juli 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Gazso gg. Ungarn, Urteil vom 16.7.2015, Bsw. 48322/12.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK - Piloturteil wegen überlanger Verfahrensdauer im Zivilverfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.400,– für Kosten und Auslagen (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Zwischen 25.2.2002 und 18.5.2005 war zwischen dem Bf. und seinem früheren Arbeitgeber ein Rechtsstreit im Gange. Letzterer wurde am Ende verpflichtet, den Bf. wieder einzustellen. Der Bf. akzeptierte die Stelle allerdings nicht, die ihm daraufhin angeboten wurde. Es kam ab 5.1.2006 zu einem neuen Rechtsstreit.

Am 18.11.2008 wies das Arbeitsgericht Budapest die Klage des Bf. ab. In Berufung entschied das Landgericht Budapest am 9.7.2010 zugunsten des Bf. Die Kúria kehrte diese Entscheidung allerdings am 29.2.2012 um.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(13) Die zu berücksichtigende Periode begann am 5.1.2006 und endete am 29.2.2012 und betrug daher fast sechs Jahre und zwei Monate für drei Instanzen.

(14) Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(15) Der GH wiederholt, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer vor dem Hintergrund der Umstände des Falles und mit Bezugnahme auf die folgenden Kriterien zu beurteilen ist: die Komplexität des Falles, das Verhalten des Bf. und der betroffenen Behörden und das, was für den Bf. bei dem Streit auf dem Spiel stand. Besondere Sorgfalt ist in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten nötig.

(16) Der GH hat in Fällen, die ähnliche Fragen wie die vorliegende Beschwerde aufwarfen, häufig Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Im vorliegenden Fall beobachtet der GH, dass der Streit nicht besonders komplex war. Er betraf die Frage der Wiedereinstellung des Bf. Der GH ist jedoch nicht überzeugt, dass die Behörden beim Abschluss des Falles die geforderte angemessene Sorgfalt walten ließen. Zudem konnte nicht gezeigt werden, dass der Bf. oder die belangte Partei besondere Verzögerungen verursachten.

(17) Nachdem er das ganze ihm vorgelegte Material untersucht hat, erwägt der GH, dass die Regierung kein Faktum oder überzeugendes Argument vorgebracht hat, das geeignet ist, ihn davon zu überzeugen, unter den vorliegenden Umständen zu einem anderen Schluss zu kommen. Angesichts seiner Rechtsprechung zur Materie befindet der GH, dass die Verfahrensdauer übermäßig war und das Erfordernis der »angemessenen Frist« nicht erfüllte. Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK

(18) Der Bf. rügte ferner, er habe über keinen wirksamen Rechtsbehelf verfügt, um das Verfahren zu beschleunigen [...].

(20) Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(21) Die Konventionsorgane haben bereits festgehalten, dass im Hinblick auf die Verzögerung von Zivilverfahren in Ungarn kein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel verfügbar war. Die Regierung zeigte nicht, dass die Situation sich zwischenzeitlich geändert hat, sei es in Bezug auf beschleunigende oder entschädigende Rechtsbehelfe. Aus diesen Gründen erfolgte eine Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Anwendung von Art. 46 EMRK

(22) Der GH bemerkt, dass der vorliegende Fall ein wiederkehrendes Problem betrifft, dem die häufigsten vom GH gegenüber Ungarn festgestellten Konventionsverletzungen zugrundeliegen. Zudem bietet das ungarische Rechtssystem keinen von Art. 13 EMRK geforderten wirksamen Rechtsbehelf, um übermäßig lange gerichtliche Verfahren zu verhindern oder eine Entschädigung für durch solche Verfahren verursachten Schaden zu leisten.

(23) Der GH stellt fest, dass die Fragen der übermäßigen Länge von Zivilverfahren und des Fehlens eines wirksamen Rechtsbehelfs im ungarischen Rechtssystem trotz des Umstands ungelöst sind, dass seit doch einiger Zeit eine eindeutige Rechtsprechung existiert, die der Regierung Anlass gibt, angemessene Maßnahmen zu setzen, um diese Fragen zu lösen.

Anwendung des Piloturteilsverfahrens

(31) Entsprechend seinem Ansatz im Fall Ümmühan Kaplan/TR, der ähnliche Fragen betraf, erachtet es der GH für angemessen, angesichts insbesondere der wiederkehrenden und hartnäckigen Natur der zugrundeliegenden Probleme, der Zahl der davon in Ungarn betroffenen Personen und des Bedürfnisses, ihnen auf nationaler Ebene rasche und geeignete Abhilfe zu gewähren, im vorliegenden Fall das Piloturteilsverfahren anzuwenden.

(32) Der GH bemerkt das Vorbringen der Regierung, dem Ministerkomitee bereits einen Aktionsplan vorgestellt zu haben, um das Problem von Verfahrensverzögerungen anzusprechen. Er begrüßt das Engagement der Regierung zur Behandlung dieser Frage und ermutigt sie, diese Bemühungen fortzusetzen.

(33) Der GH kann jedoch nur beobachten, dass das Problem während der vier Jahre, die seit der Annahme der von der Regierung bezeichneten Reformen vergangen sind, weiterbestanden hat. Daher erwägt er, dass das Piloturteilsverfahren es ihm erlaubt zu betonen, dass der belangte Staat Rechtsbehelfe einführen muss, welche die Konventionsverletzungen durch Verzögerungen bei Gerichtsverfahren auf tatsächlich wirksame Weise ansprechen.

Vorliegen einer mit der Konvention unvereinbaren Praxis

(34) Ab dem Beitritt Ungarns zur Konvention und bis zum 1.5.2015 betrafen mehr als 200 Urteile die Feststellung einer Verletzung durch Ungarn im Hinblick auf die übermäßige Dauer von Zivilverfahren. Allein 2014 wurden bei 24 Gelegenheiten Verletzungen des Rechts auf eine Verhandlung binnen einer angemessenen Zeit im Zivilverfahren festgestellt. Zudem traf die Regierung in zahlreichen Fällen betreffend die Dauer von Zivilverfahren gütliche Einigungen oder gab einseitige Erklärungen ab; diese Beschwerden wurden in der Folge aus dem Register gestrichen.

(35) Der GH bemerkt, dass der belangte Staat es bislang verabsäumt hat, Maßnahmen in Kraft zu setzen, die die Situation tatsächlich verbessern – trotz der umfassenden und einheitlichen Rechtsprechung des GH in dieser Sache.

(36) Der systemische Charakter der im vorliegenden Fall identifizierten Probleme wird zudem durch den Umstand belegt, dass am 1.5.2015 etwa 400 gegen Ungarn eingebrachte Fälle, die dieselbe Frage betreffen, vor den verschiedenen richterlichen Formationen des GH anhängig sind – und die Zahl solcher Beschwerden steigt ständig.

(37) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zum Schluss, dass die im gegenständlichen Urteil festgestellten Verletzungen weder durch einen einzelnen Vorfall ausgelöst wurden noch einer besonderen Entwicklung in diesem Fall zuzurechnen waren. Vielmehr stellten sie die Folge von Fehlern des belangten Staats dar. Daher muss die Situation im vorliegenden Fall als Ergebnis einer mit der Konvention unvereinbaren Praxis eingestuft werden (einstimmig).

Setzen von Maßnahmen zur Behebung der systemischen Probleme

(39) Der GH erwägt, dass der belangte Staat ohne Verzögerung und spätestens binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt, an dem dieses Urteil rechtskräftig wird, einen Rechtsbehelf oder eine Kombination von Rechtsbehelfen im nationalen Rechtssystem einrichten muss, um dieses in Einklang mit den Schlussfolgerungen des GH im vorliegenden Urteil zu bringen und die Erfordernisse von Art. 46 EMRK einzuhalten (einstimmig).

Er muss weiters sicherstellen, dass der Rechtsbehelf oder die Rechtsbehelfe theoretisch und praktisch die vom GH aufgestellten Schlüsselkriterien erfüllen. Insbesondere erinnert der GH daran, dass »die beste Lösung – wie in vielen Bereichen – absolut und unbestritten Prävention ist. Wo das Justizsystem im Hinblick auf das Erfordernis einer angemessenen Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK mangelhaft ist, ist ein Rechtsbehelf, der dazu bestimmt ist, die Verfahren zu beschleunigen, um zu verhindern, dass sie eine übermäßige Länge erreichen, die wirksamste Lösung. Ein solcher Rechtsbehelf bietet einen unleugbaren Vorteil im Vergleich zu einem Rechtsbehelf, der lediglich Entschädigung vorsieht, da er auch der Feststellung aufeinanderfolgender Verletzungen im Hinblick auf das gleiche Verfahren vorbeugt und die Verletzung nicht nur a posteriori wiedergutmacht, wie es ein entschädigender Rechtsbehelf tut. Einige Staaten haben die Situation perfekt verstanden, indem sie entschieden, zwei Arten von Rechtsbehelfen zu kombinieren – einen, der das Verfahren beschleunigen soll und einen, der Entschädigung bieten soll« (Sürmeli/D). Art. 13 EMRK erlaubt es dem Staat ebenfalls, zwischen einem Rechtbehelf, der anhängige Verfahren beschleunigen kann oder einem nachträglichen Rechtsbehelf auf Entschädigung für bereits erfolgte Verzögerungen zu wählen. Während ersterer vorzuziehen ist, da er einer Verzögerung vorbeugt, kann ein entschädigender Rechtsbehelf als wirksam angesehen werden, wenn das Verfahren bereits übermäßig lang war und ein präventiver Rechtsbehelf nicht existierte. Bei der Findung einer Lösung für das Problem der Rechtsbehelfe sollten die ungarischen Behörden auch die Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Verbesserung von innerstaatlichen Rechtsbehelfen vom 12.5.2004 gebührend berücksichtigen.

Verfahren in ähnlichen Fällen

(41) Unter den vorliegenden Umständen erachtet es der GH für nötig, die Prüfung ähnlicher neuer Fälle aufzuschieben, die nach dem Zeitpunkt, zu dem dieses Urteil rechtskräftig wird, an ihn herangetragen werden, und zwar bis zur Einrichtung der einschlägigen Maßnahmen durch den belangten Staat und für ein Jahr ab dem genannten Zeitpunkt (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.000,– für immateriellen Schaden; € 2.400,– für Kosten und Auslagen (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bottazzi/I v. 28.7.1999 (GK)

Sürmeli/D v. 8.6.2006 (GK) = NL 2006, 135 = EuGRZ 2007, 255

McFarlane/IRL v. 10.9.2010 (GK) = NL 2010, 278

Ümmühan Kaplan/TR v. 20.3.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.7.2015, Bsw. 48322/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 357) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_4/Gazso.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.