JudikaturJustizBsw45749/06

Bsw45749/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Januar 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Kaemena und Thöneböhn gegen Deutschland, Urteil vom 22.1.2009, Bsw. 45749/06 und Bsw. 51115/06.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Rechtsbehelf bei überlanger Dauer eines Strafverfahrens.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:  € 3.000,– für immateriellen Schaden, € 4.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die beiden Bf. wurden am 9.5.1996 wegen des Verdachts, den Ehemann der ErstBf. ermordet zu haben, festgenommen. Am 16.12.1997 verurteilte das Landgericht Verden die Bf. wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Das Gericht stellte fest, dass die Schuld der beiden Verurteilten nicht besonders schwer sei.

Der BGH verwies am 10.2.1999 in Stattgebung der vom Staatsanwalt gegen dieses Urteil erhobenen Revision die Sache zur neuerlichen Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld an das Landgericht zurück. Die Revision der Bf. wurde verworfen.

Die Bf. brachten daraufhin Verfassungsbeschwerden gegen die Verwerfung ihrer Revision ein. Das BVerfG prüfte in diesem Grundsatzurteil die Verfassungsmäßigkeit der Zulässigkeitsanforderungen für revisionsrechtliche Verfahrensrügen im Strafverfahren. Nach Ansicht des BVerfG waren diese zwar grundsätzlich nicht unvereinbar mit der Rechtsschutzgarantie, allerdings hätte der BGH im vorliegenden Fall die Zulässigkeitsanforderungen überspannt. Das BVerfG behob daher am 25.1.2005 den Beschluss des BGH und verwies die Sache an diesen zurück.

Im neuerlichen Verfahren vor dem BGH beantragten die Bf. eine Milderung ihrer Freiheitsstrafen wegen der unverhältnismäßigen Dauer des Strafverfahrens. Der BGH verwarf mit Urteil vom 7.2.2007 neuerlich die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Verden. Zur beantragten Strafmilderung stellte er fest, dass die Verfahrensdauer eine Herabsetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht rechtfertige. Der BGH war der Ansicht, er könne die Frage offenlassen, ob es vor dem BVerfG zu unangemessenen Verzögerungen gekommen sei, da die Bf. für solche keine Kompensation verlangen könnten. Von der lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes könne nämlich auch dann nicht abgesehen werden, wenn es im Strafverfahren zu erheblichen Verzögerungen gekommen sei. Da die Verurteilung am 10.2.1999 rechtskräftig gewesen sei, hätte die mit der bloßen Hoffnung auf Stattgebung ihrer Verfassungsbeschwerden verbundene Unsicherheit keine Belastung ergeben, die eine Kompensation im Wege einer Strafmilderung erfordern würde. Daher bestand nach Ansicht des BGH auch kein Anlass für eine bloße Feststellung einer Konventionsverletzung.

Die Bf. erhoben gegen dieses Urteil des BGH wiederum Verfassungsbeschwerden, mit denen sie insbesondere geltend machten, dass ihre lebenslange Freiheitsstrafe aufgrund der überlangen Verfahrensdauer in zeitige Freiheitsstrafen umgewandelt hätten werden müssen. Das BVerfG nahm die Beschwerden am 21.6.2006 nicht zur Entscheidung an. Es stellte fest, dass eine Reduzierung von wegen Mordes verhängten lebenslangen Freiheitsstrafen wegen einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer aufgrund der Besonderheiten des Mordtatbestands und des Strafrahmens grundsätzlich nicht in Betracht käme. Selbst unter der Annahme, dass es im vorliegenden Fall zu unverhältnismäßigen Verzögerungen gekommen wäre, hätten diese keinen Umfang erreicht, der eine Relativierung der vom Gesetzgeber für Mord vorgesehenen absoluten Strafe rechtfertigen würde.

Am 6.11.2006 nahm das Landgericht Verden das auf Antrag der Bf. unterbrochene Verfahren über die Feststellung der besonderen Schwere ihrer Schuld wieder auf. Mit Urteil vom 15.12.2006 stellte es erneut fest, dass die Schuld der Bf. nicht besonders schwer war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur Verbindung der Beschwerden:

Da die beiden Beschwerden Fragen zu ein und demselben Strafverfahren betreffen, beschließt der GH, sie zu verbinden (einstimmig).

Zur Zulässigkeit der Beschwerden:

Die Beschwerde nach Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK ist nicht offensichtlich unbegründet. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Die Beschwerde der ErstBf. über eine behauptete Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK ist offensichtlich unbegründet und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die zu berücksichtigende Zeitspanne begann mit der Festnahme der Bf. am 9.5.1996 und endete mit der Zustellung der Entscheidung des BGH am 5.7.2006. Das Verfahren dauerte somit zehn Jahre und zwei Monate.

Während das Verfahren ansonsten zügig abgewickelt wurde, war die erste Verfassungsbeschwerde der Bf. über sechs Jahre beim BVerfG anhängig. Nach ständiger Rechtsprechung des GH ist Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verfahren vor dem BVerfG anwendbar, weil deren Ergebnis den Ausgang des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer vor den Strafgerichten beeinflussen kann.

Der Gegenstand des Verfahrens vor dem BVerfG, in dem der Senat eine Leitentscheidung fällte, war nicht unkompliziert. Die Bf. haben jedoch keine Verzögerungen vor diesem Gericht verursacht. Auch wenn der GH nicht davon überzeugt ist, dass die Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG als solche negative Auswirkungen auf die Haftbedingungen der Bf. hatte, ist doch anzuerkennen, dass der Ausgang des Verfahrens, der sich auf ihre Verurteilung wegen Mordes auswirken konnte, wichtig für sie war. Was das Verhalten der Gerichte betrifft, stellt der GH wesentliche Verzögerungen im ersten Verfahren vor dem BVerfG fest. So vergingen mehr als zwei Jahre zwischen der Einbringung der Beschwerde und ihrer Übermittlung an die Gerichte zur Stellungnahme. Weitere zweieinhalb Jahre vergingen zwischen der Stellungnahme des ZweitBf. und der Zustellung der Entscheidung.

Da das Verfahren daher nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wurde, liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Die Bf. rügen die Verweigerung einer Strafmilderung als Wiedergutmachung für die Verfahrensverzögerungen.

Da die Beschwerde über die Verfahrensdauer für zulässig erklärt wurde, kann iSv. Art. 13 EMRK in vertretbarer Weise angenommen werden, die Bf. wären Opfer einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

Die nach deutschem Recht zur Verfügung stehenden Mittel, um sich über die Dauer von Strafverfahren zu beschweren, können grundsätzlich als wirksam iSv. Art. 13 EMRK angesehen werden, da sie geeignet sind, angemessene Wiedergutmachung für eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu gewähren. Die Konsequenzen solcher Verzögerungen schließen eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 und § 153a StPO, eine Beschränkung der Strafverfolgung nach § 154 und § 154a StPO oder ein Absehen von der Strafe oder eine Strafmilderung mit ein.

Alle diese Formen der Wiedergutmachung setzten jedoch voraus, dass die betroffene Person entweder einer Straftat für schuldig befunden wurde, oder dass das Verfahren unter der Annahme eingestellt wird, die Person könne ansonsten von den Strafgerichten für schuldig befunden werden. Außerdem müssen die einschlägigen Bestimmungen des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts die Anwendung der Kompensation gewährenden Maßnahme unter den Umständen des Falls gestatten.

Die Bf. wurden wegen Mordes für schuldig befunden. Nach Ansicht des BGH und des BVerfG war eine Herabsetzung der verhängten Strafen unter diesen Umständen nach dem StGB ausgeschlossen. Die innerstaatlichen Gerichte waren der Ansicht, dass die lebenslange Freiheitsstrafe bei Mord nach § 211 StGB zwingend vorgesehen sei und, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen bei extremen Verzögerungen herabgesetzt werden könne. Solche Umstände hätten aber im Fall der Bf. nicht vorgelegen. Wie auch die Regierung einräumt, waren die den Gerichten zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe daher nicht geeignet, den Bf. unter den Umständen des vorliegenden Falls angemessene Wiedergutmachung für die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu gewähren.

Der GH nimmt die jüngste Wende in der Judikatur des BGH über die Wiedergutmachung für Verletzungen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer durch die Strafgerichte zur Kenntnis. Nach dem sogenannten Vollstreckungsmodell, für das sich der BGH in seinem Beschluss vom 17.1.2008 entschieden hat, sind Strafgerichte auch in Fällen wie dem vorliegenden in der Lage, Kompensation zu gewähren, indem sie erklären, dass ein bestimmter Teil der lebenslangen Freiheitsstrafe – von der zumindest 15 Jahre verbüßt werden müssen – als vollstreckt gelte.

Der GH begrüßt diese Initiative. Unbestritten ist jedoch, dass diese neue Judikatur erst nach den Entscheidungen im vorliegenden Fall entwickelt wurde, die rechtskräftig wurden. Da sie daher nichts an der Schlussfolgerung ändern kann, dass den Bf. kein wirksamer Rechtsbehelf zur Erlangung einer Wiedergutmachung Für die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zur Verfügung stand, liegt eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 3.000,– für immateriellen Schaden, € 4.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Gast und Popp/D v. 25.2.2000.

Kudla/PL v. 26.10.2000 (GK), NL 2000, 219; EuGRZ 2004, 484; ÖJZ 2001, 908.

Dzelili/D v. 10.11.2005, NL 2005, 279.

Scordino/I (Nr. 1) v. 29.3.2006 (GK), NL 2006, 83; ÖJZ 2007, 382.

Sürmeli/D v. 8.6.2006 (GK), NL 2006, 135; EuGRZ 2007, 255.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.1.2009, Bsw. 45749/06 und Bsw. 51115/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 26) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_1/Kaemena.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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