JudikaturJustizBsw45313/99

Bsw45313/99 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. November 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Marziano gegen Italien, Urteil vom 28.11.2002, Bsw. 45313/99.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK - Feststellungen des Untersuchungsrichters in seinem Beschluss über die Einstellung der Vorerhebungen und Unschuldsvermutung.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK iVm Art. 6 Abs. 2 EMRK (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1993 wurde die Ehe des Bf. auf Antrag seiner Gattin S. geschieden, wobei letzterer das Sorgerecht für die vierjährige Tochter X. und ersterem ein Besuchsrecht eingeräumt wurde. Ein Jahr später erhob S. Strafanzeige gegen den Bf. wegen Unzucht mit Unmündigen. X. habe ihr gegenüber einbekannt, dass sie sexuelle Berührungen durch ihren Vater über sich ergehen lassen musste. Der Bf. erstattete seinerseits Strafanzeige gegen seine Ex-Gattin wegen Vernachlässigung der Pflege, Erziehung oder Beaufsichtigung. Im Zuge der Vorerhebungen wurden mehrere Zeugen gehört, darunter auch der Bf., der mit seinem Verteidiger erschienen war. Es wurden zwei medizinische Expertisen eingeholt, die beide mit dem Ergebnis endeten, dass ein Nachweis dahingehend nicht möglich sei, dass X. tatsächlich von ihrem Vater sexuell genötigt worden sei.

In der Folge wurden dem Untersuchungsrichter die Akten vom zuständigen Staatsanwalt mit dem Ersuchen übermittelt, die Vorerhebungen einzustellen. Seiner Ansicht nach könne kein überzeugender und ausreichender Nachweis für die Erhebung einer Anklage gefunden werden. Am 29.4.1997 wies der Untersuchungsrichter den Antrag des Staatsanwalts mit der Begründung ab, dass er einer Einstellung der Vorerhebungen angesichts der derzeitigen Lage nicht zustimmen könne.

Am 20.10.1997 wurde X. vom Untersuchungsrichter einvernommen. Der Bf. und sein An­walt entschieden sich, der Einvernahme nicht beizuwohnen. X. blieb im Wesentlichen bei ihrer Aussage. Von Seiten des Staatsanwaltes wurde neuerlich ein Antrag auf Einstellung des Verfahrens gestellt, ua. mit der Bemerkung, dass einige Details, auf die sich X. bezogen hätte, wenig plausibel seien und mit ihren früheren Aussagen im Widerspruch stünden. Mit Beschluss vom 17.4.1998 stellte der Untersuchungsrichter die Vorerhebungen gegen den Bf. und seine Gattin mit folgender Begründung ein (Auszug):

„Im Gegensatz zum Staatsanwalt bin ich nicht überzeugt, dass die Aussagen von X. unwahr sind. Ich bin der Ansicht, dass ihre Behauptung, ihr Vater hätte sie mit der Zunge an den Genitalien berührt, wahr ist. In der Tat ist es auch nicht möglich, die in Frage stehenden Aussagen als das Ergebnis eines Komplottes seitens der Mutter zu sehen – um das Kind vom Vater zu entfernen. [...]

Es lässt sich auch die Möglichkeit ausschließen, dass X. an einer Persönlichkeitsstörung leidet, die sie zu einer Vortäuschung von Tatsachen veranlassen würde. In der Tat hat diese wiederholt und jeweils einheitlich die Handlungen geschildert, deren Opfer sie wurde. Es existiert ein Faktor, der die Aussagen von X. bestätigt, nämlich ärztliche Dokumente, die eine Errötung der Genitalorgane belegen. [...]

Eine Errötung kann verschiedene Ursachen haben: sie kann durch einen sexuellen Missbrauch entstan­den, aber auch banaler Natur sein, wie dies des Öfteren unter Kindern zu beobachten ist. [...] Aus den Expertisen geht hervor, dass gemäß den vorliegenden Fakten weder die eine noch die andere These ausgeschlossen werden kann. [...] Andererseits sind in den Aussagen von X. Aspekte enthalten, die eine gerichtliche Anklage schwerlich stützen können. Es handelt sich hierbei um kindliche Fantasien, wie etwa die Verwendung eines Kinderwagens oder eines Haartrockners, die – an sich schon unglaubhaft – nicht immer in derselben Art und Weise wiederholt werden. [...] Schließlich hat X. auch die sexuellen Handlungen nicht sonderlich detailliert beschrieben.

Es ergibt sich somit für mich, dass – auch wenn man der Ansicht ist, dass X. nicht lügt – die in ihrer Version enthaltenen Widersprüche einer Anklage vor einem Gericht in der Form, wie sie den Vorerhebungen zugrunde liegt, nicht standhalten könnten. Die Fortführung des Prozesses würde weiteres Leid für das Opfer nach sich ziehen, das überdies riskiert, psychische Schäden davon zu tragen. [...]"

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, durch die eingeleiteten Vorerhebungen und durch die Feststellungen des Untersuchungsrichters in seinem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 (1) EMRK verletzt worden zu sein. Er rügt ferner eine Verletzung der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 (2)

EMRK.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (2) EMRK:

Der Bf. bringt im Wesentlichen vor, dass er für schuldig erklärt worden sei, ohne in den Genuss der einem Strafverfahren innewohnenden Verfahrensgarantien zu kommen. Er habe keine Möglichkeit gehabt, seine Unschuld zu beweisen. Die vom Untersuchungsrichter getroffenen Feststellungen hätten ihm mehr Nachteile als eine Verurteilung gebracht, weil er dagegen immerhin ein Rechtsmittel einlegen hätte können. Dies komme auch darin zum Ausdruck, dass ihm seine Ex-Gattin jedes Mal, wenn er versucht habe, eine Erweiterung seines Besuchsrechts zu erwirken, die Entscheidung des Untersuchungsrichters entgegengehalten hätte.

Der GH hält fest, dass beide Beschwerdepunkte gemeinsam abgehandelt werden können, da sie ihren Ursprung jeweils im Einstellungsbeschluss des Untersuchungsrichters haben.

Im vorliegenden Fall erfolgten die gerügten Feststellungen des Untersuchungsrichters im Rahmen einer strafrechtlichen Verfolgung und waren Bestandteil der Begründung der Entscheidung, entweder die Vorerhebungen gemäß dem Antrag des Staatsanwalts einzustellen oder das Strafverfahren gegen den Bf. zu veranlassen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Untersuchungsrichter letztlich zwar auch zu dem Ergebnis gelangte, die Vorerhebungen einzustellen, ohne jedoch gleichzeitig die Ansicht des Staatsanwaltes zu teilen – insb. was die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von X. betraf. Es ist daher durchaus nachvollziehbar, dass der Untersuchungsrichter, welcher seinen Einstellungsbeschluss gemäß den rechtlichen Vorgaben entsprechend zu begründen hatte, in Abstimmung mit dem Plädoyer des Staatsanwaltes Punkt für Punkt ge­nau erläuterte, aus welchen Gründen er sich zur Einstellung der Vorerhebungen veranlasst sah. Da die unterschiedliche Meinung des Untersuchungsrichters sich eher auf die entscheidenden Tatsachen und ihre Bewertung als auf eine rechtliche Würdigung erstreckte, ist es umso mehr verständlich, dass er darauf in sei­ner Entscheidung Bezug nahm.

In seiner Prognose, die im Übrigen durch § 125 der Vorgaben zur Anwendung der italien. StPO vorgeschrieben war, stellte der Untersuchungsrichter Überlegungen für den Fall an, dass das Strafverfahren gegen den Bf. veranlasst würde. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass trotz des Vorliegens von plausiblen Gründen für die Annahme, dass der Bf. die ihm zur Last gelegte Tat tatsächlich begangen hatte, andere Faktoren eher gegen eine Aussicht auf Erfolg im Falle einer Anklageerhebung sprechen würden. In diesem Zusammenhang wurden von ihm nicht nur die möglichen negativen Auswirkungen der Einleitung eines Strafverfahrens auf X., sondern auch Details in deren Aussagen erörtert, die von ihm für unglaubwürdig erachtetet wurden.

Es lag somit am Untersuchungsrichter, der übrigens über die

Streitigkeiten zwischen dem Bf. und seiner Ex-Gattin unterrichtet

war, auf Ehre und Gewissen zu entscheiden, wie er seine Meinung über

die näheren Umstände dieses Streits ausdrücken sollte. Sicherlich

lässt sich die Frage stellen, ob die schlussendlich getroffenen

Feststellungen von ihrer Art und Weise her als Ausspruch über eine

Schuld des Bf. gewertet werden können. Der GH ist dennoch der

Ansicht, dass der Einstellungsbeschluss des Untersuchungsrichters

lediglich einen Verdachtsstand wiedergab – und keine Feststellung

über eine allfällige Schuld. Insofern ist eine Unterscheidung zu

treffen zwischen einer Ansicht, mit der eine Schuld der betroffenen

Person zum Ausdruck gebracht wird, und einer solchen, die sich auf

die Beschreibung eines Verdachtsstandes beschränkt. Erstere verletzt

die Unschuldsvermutung, während zweitere vom GH wiederholt als mit

Art. 6 EMRK vereinbar angesehen wurde. (Anm.: Vgl. die Urteile Lutz/D

v. 25.8.1987, A/123-A (= EuGRZ 1987, 399); Englert/D v. 25.8.1987,

A-123-B (= EuGRZ 1987, 405); Nölkenbockhoff/D v. 25.8.1987, A/123-C

(= EuGRZ 1987, 410); Leutscher/NL v. 26.3.1996 (= ÖJZ 1996, 677).)

Unter diesen Umständen kann sich der GH nicht der Ansicht des Bf.

anschließen, dass die Unschuldsvermutung verletzt wurde. Was die weiteren Ausführungen des Bf. betrifft, ist zu sagen, dass dieser im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens Gelegenheit hatte, über seine Rechtsvertreter Argumente zur Stützung seines Standpunktes vorzubringen. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (2) EMRK (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Rozakis und Bonello).

Vom GH zitierte Judikatur:

Daktaras/LTU v. 10.10.2000.

Butkevicius/LTU v. 26.3.2002.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.11.2002, Bsw. 45313/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 266) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_6/Marziano.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.