JudikaturJustizBsw38549/97

Bsw38549/97 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. Oktober 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Vostic gegen Österreich, Urteil vom 17.10.2002, Bsw. 38549/97.

Spruch

Art. 6 Abs. 2 EMRK, § 2 Abs. 1 lit. b StEG - Haftentschädigung und Unschuldsvermutung.

Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 5.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. wurde am 12.4.1996 vom LG Wels wegen des Verdachts des Mordes in Untersuchungshaft genommen. Am 13.12.1996 wurde sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen, nachdem die Geschworenen die Hauptfrage, ob die Angeklagte schuldig sei, den Mord begangen zu haben, mit sechs zu zwei Stimmen verneint hatten.

Nach dem Freispruch stellte die Bf. noch in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Zuerkennung einer Haftentschädigung. Das LG Wels wies den Antrag ab. Es begründete seine Entscheidung damit, dass die Voraussetzungen des § 2 (1) (b) StEG nicht erfüllt wären, da der Freispruch nicht einstimmig erfolgt sei und der Verdacht gegen die Bf. nicht entkräftet worden wäre. Insb. wäre die Aussage der Eltern der Angeklagten, wonach diese sich zur Tatzeit in ihrem Haus aufgehalten hätte, nicht glaubwürdig. Überdies sei die Angeklagte im Besitz einer Waffe gewesen, die als Tatwaffe in Frage käme. Die von der Bf. erhobene Bsw. wurde vom OLG Linz am 20.6.1997 abgewiesen. In seiner Begründung bezog es sich auf die Entscheidung des EGMR im Fall Sekanina/A und führte aus, dass die Unschuldsvermutung nur durch eine Entscheidung verletzt würde, in der nach einem rechtskräftigen Freispruch des Antragstellers die Ansicht ausgedrückt würde, dass dieser schuldig sei. Im vorliegenden Fall habe das LG Wels jedoch nur ausgesprochen, dass noch ein Verdacht bestehe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (2) EMRK (Grundsatz der Unschuldsvermutung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (2) EMRK:

Die Bf. bringt vor, dass die Begründung des LG Wels und des OLG Linz bei der Abweisung ihres Antrages auf Haftentschädigung, wonach der Verdacht gegen sie nicht entkräftet worden sei, den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletze.

Die Reg. bestreitet, dass der vorliegende Fall von der Entscheidung Sekanina/A zu unterscheiden sei. Dort sei entscheidend gewesen, dass die über die Entschädigung entscheidenden Gerichte die Frage, ob der Verdacht gegen den Angeklagten entkräftet worden sei, auf der Grundlage der Akten untersuchten, womit sie die Beweiswürdigung der Geschworenen durch ihre eigene ersetzt hätten. Im Gegensatz dazu hätte im vorliegenden Fall das Gericht nur den Wahrspruch der Geschworenen, nach dem der Freispruch nur im Zweifel erfolgt wäre, wiederholt, ohne selbst die Schuld der Bf. zu beurteilen. Der GH hat diesen Einwand bereits in seiner Entscheidung Asan Rushiti/A als unzulässige Auslegung seines Urteils im Fall Sekanina/A verworfen. Nach einem rechtskräftigen Freispruch ist jeglicher Ausdruck eines Schuldverdachts mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar. Dies gilt auch dann, wenn Zweifel an der Unschuld bereits im Freispruch ausgedrückt worden sind und der Freispruch aus Mangel an Beweisen erfolgt ist.

Der GH sieht keinen Grund, im vorliegenden Fall anders als im genannten Urteil zu entscheiden. Das LG Wels und das OLG Linz stellten im Verfahren über die Haftentschädigung nach dem rechtskräftigen Freispruch der Bf. fest, dass weiterhin ein Verdacht gegen die Bf. bestehen würde und brachten somit Zweifel an ihrer Unschuld zum Ausdruck. Verletzung von Art. 6 (2) EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 5.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sekanina/A v. 25.8.1993, A/266-A (= NL 1993/5, 10 = ÖJZ 1993, 816).

Asan Rushiti/A v. 21.3.2000 (= NL 2000, 55 = ÖJZ 2001, 155).

Lamanna/A v. 10.7.2001 (= NL 2001, 147 = ÖJZ 2001, 910).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.10.2002, Bsw. 38549/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 219) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_5/Vostic.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.