JudikaturJustizBsw38275/97

Bsw38275/97 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Mai 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III bzw. Kammer I, Beschwerdesachen W. F. gegen Österreich und Sailer gegen Österreich, Urteile vom 30.5.2002 bzw. 6.6.2002, Bsw. 38275/97 bzw. Bsw. 38237/97.

Spruch

Art. 4 7. ZP EMRK, § 88 Abs. 1 und Abs. 3 iVm. § 81 Z. 2 StGB, § 5 iVm. § 99 Abs. 1 lit. a StVO - Verfolgung strafbarer Handlungen durch Verwaltungsbehörden und Gerichte und Verbot der Doppelbestrafung. Verletzung von Art. 4 7. ZP EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 4.050,48 für Kosten und Auslagen (einstimmig) bzw. EUR 4.151,48 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1.) Der Bf. W.F. war im Mai 1995 an einem Verkehrsunfall beteiligt. Die BH Braunau verhängte gemäß § 5 (1) iVm. § 99 (1) (a) StVO wegen Lenken eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand eine Geldstrafe in der Höhe von ATS 14.000,--. Der Bf. erhob keine Berufung gegen diesen Bescheid.

Im August 1996 wurde der Bf. vom BG Mattighofen gemäß § 88 (1) und

(3) StGB wegen fahrlässiger Körperverletzung unter besonders gefährlichen Verhältnissen zur Zahlung einer Geldstrafe in der Höhe von ATS 8.000,-- verurteilt. Die dagegen erhobene Berufung wurde im Juni 1997 vom LG Ried abgewiesen. Das LG vertrat die Ansicht, dass sich der vorliegende Fall vom Fall Gradinger/A insofern unterscheide, als in diesem das Verwaltungsstrafverfahren nicht vor, sondern erst nach dem Strafprozess stattgefunden hätte.

2.) Der Bf. Sailer verursachte im Juli 1995 einen Verkehrsunfall, bei dem ein Mitfahrer leicht verletzt wurde. Die BH Braunau verhängte im September 1995 nach § 5 (1) iVm. § 99 (1) (a) StVO wegen Lenken eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand eine Geldstrafe in der Höhe von ATS 10.000,--. Der Bf. erhob keine Berufung gegen diesen Bescheid.

Im Jänner 1997 wurde der Bf. Sailer vom BG Grieskirchen gemäß § 88

(1) und (3) StGB wegen fahrlässiger Körperverletzung unter besonders gefährlichen Verhältnissen zur Zahlung einer Geldstrafe in der Höhe von ATS 8.000,-- verurteilt. Die dagegen erhobene Berufung wurde im Juni 1997 vom LG Wels abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK (Verbot der Doppelbestrafung).

Die Bf. bringen vor, sie wären zweimal für das Lenken eines Fahrzeugs in alkoholisiertem Zustand bestraft worden. Die vorliegenden Fälle seien nicht vergleichbar mit dem Fall Oliveira/CH, sondern glichen dem Fall Gradinger/A, in dem der GH eine Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK festgestellt hatte.

Die Reg. wendet ein, es handle sich um typische Beispiele für eine Idealkonkurrenz, ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung liege daher wie im Fall Oliveira/CH nicht vor.

Der GH erinnert daran, dass der Zweck des Art. 4 7.ZP EMRK in der Verhinderung einer Wiederholung von Strafverfahren liegt, die durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen wurden. In seinem Urteil im Fall Franz Fischer/A hat der GH festgestellt, dass sich der Wortlaut von Art. 4 7.ZP EMRK nicht auf „dieselbe strafbare Handlung" (the same offence) bezieht, sondern darauf, „erneut" für eine strafbare Handlung vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden, für die man bereits rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist. Es trifft zu, dass die bloße Idealkonkurrenz nicht in Widerspruch zu dieser Bestimmung steht. Der GH darf sich daher nicht auf die Feststellung beschränken, dass ein Bf. wegen einer Tat nach zwei nominell verschiedenen strafbaren Handlungen vor Gericht gestellt und bestraft wurde. Wie der VfGH ist auch der GH der Ansicht, dass es Fälle gibt, in denen eine Tat mehr als eine strafbare Handlung zu verwirklichen scheint, bei näherer Prüfung sich jedoch zeigt, dass nur eine strafbare Handlung verfolgt werden soll, weil die eine den Unrechtsgehalt der anderen in jeder Beziehung mitumfasst.

Es ist daher in Fällen, in denen verschiedene durch eine Tat verwirklichte strafbare Handlungen nacheinander – eine nach der rechtskräftigen Entscheidung über die andere – verfolgt werden, zu prüfen, ob diese strafbaren Handlungen dieselben wesentlichen Elemente (essential elements) haben.

Die vorliegenden Fälle gleichen dem Fall Franz Fischer/A insoweit, als in diesem der Bf. erst von der BH wegen Lenken eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand und danach vom Gericht wegen fahrlässiger Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen bestraft wurde.

Es liegen keine Gründe vor, in den vorliegenden Fällen anders als im Fall Franz Fischer/A zu entscheiden. Die Bf. wurden auf der Grundlage einer Tat zweimal vor Gericht gestellt und verurteilt, da sich die wesentlichen Elemente der Verwaltungsübertretung nach § 5 (1) iVm. § 99 (1) (a) StVO nicht von den besonderen Umständen in § 81 Z.2 StGB, auf die § 88 (3) StGB verweist, unterscheiden. Verletzung von Art. 4

7. ZP EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Gradinger/A v. 23.10.1995, A/328-C (= NL 1995, 195 = ÖJZ 1995, 954).

Oliveira/CH v. 30.7.1998 (= NL 1998, 142 = ÖJZ 1999, 77).

Franz Fischer/A v. 29.5.2001 (= NL 2001, 112 = ÖJZ 2001, 657).