JudikaturJustizBsw36658/05

Bsw36658/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. Dezember 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Murtazaliyeva gg. Russland, Urteil vom 18.12.2018, Bsw. 36658/05.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK - Ablehnung der Ladung von Entlastungszeugen zur Hauptverhandlung.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b EMRK im Hinblick auf die Videoaufnahme (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK im Hinblick auf den Zeugen A. (mehrheitlich).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK im Hinblick auf die Zeugen B. und K. (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die aus Tschetschenien stammende Bf. zog 2003 nach Moskau, wo sie in einer Moschee zwei zum Islam konvertierte Frauen namens V. und Ku. kennenlernte. Im Dezember 2003 wurde sie von der Polizei zum Zweck der Identitätsfeststellung festgenommen und nach einigen Tagen aufgrund der Intervention eines Polizisten namens A. freigelassen. A. half ihr in weiterer Folge, eine Wohnung zu finden, in die sie mit V. und Ku. zog. Er besuchte sie gelegentlich und unterstützte sie finanziell. Die Wohnung gehörte der Polizei und war mit verdeckten Kameras und Mikrofonen ausgestattet. Die Bf. wurde überwacht, weil sie verdächtigt wurde, in Verbindung zu einer Terrorgruppe zu stehen.

Am 4.3.2004 wurde die Bf. von einer Polizeistreife festgenommen. Sie rief sofort A. an, der kurz mit den Polizisten sprach, bevor diese die Bf. zur Polizeistation brachten, weil die Registrierung ihres Aufenthalts in Moskau abgelaufen war. Auf der Polizeistation wurde ihre Handtasche von einer Polizistin in Anwesenheit von zwei beurkundenden Zeugen, B. und K., durchsucht und es wurden ihre Fingerabdrücke genommen. Bei der Durchsuchung wurden zwei Päckchen gefunden, die sich als Plastiksprengstoff erwiesen. Daraufhin wurde die Bf. wegen Terrorverdachts verhaftet und eine strafrechtliche Ermittlung gegen sie eingeleitet. Bei einer Durchsuchung der Wohnung der Bf. fand die Polizei eine handschriftliche Notiz, in der harsche Kritik an Russland geübt und der Jihad verherrlicht wurde. Außerdem wurden Fotos eines Aufzugs in einem Einkaufszentrum sichergestellt. Die Transkripte der Videoaufzeichnungen zeigten, dass die Bf. gegenüber V. und Ku. das Gebot eines »heiligen Kriegs« gegen Russland betonte.

Am 7.12.2004 wurde die Bf. wegen Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags auf ein Einkaufszentrum angeklagt. In der Hauptverhandlung vor dem Stadtgericht Moskau sagten V. und Ku. unter anderem aus, die Bf. hätte ihnen gegenüber Selbstmordanschläge verherrlicht. Der Polizist A. wurde in der Hauptverhandlung nicht vorgeladen. Die von zwei Anwälten (S. und U.) unterstützte Bf. verteidigte sich damit, dass ihr der Sprengstoff bei ihrer Durchsuchung in der Polizeistation untergeschoben worden sei. Ihr wären schon vor der Durchsuchung die Fingerabdrücke abgenommen worden und währenddessen habe sie ihre Handtasche in einem anderen Raum zurückgelassen. Im Polizeiprotokoll wäre fälschlicherweise nur die zweite Abnahme der Fingerabdrücke verzeichnet worden, die nach der Durchsuchung stattgefunden hatte. Auf Antrag der Verteidigung wurde eines der Überwachungsvideos vorgeführt. Ein Antrag auf Vorladung der beurkundenden Zeugen B. und K. wurde abgewiesen. A. wurde nicht befragt, weil er sich dienstlich im Ausland aufhielt. Die Beweisaufnahme wurde geschlossen, nachdem weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung Einwände dagegen erhoben oder weitere Beweisanträge gestellt hatten.

Am 17.1.2005 wurde die Bf. wegen Vorbereitung einer terroristischen Handlung, Anstiftung anderer zu solchen Handlungen und wegen des Besitzes von Sprengstoff zu neun Jahren Haft verurteilt.

Die Berufung wurde am 17.3.2005 vom Obersten Gerichtshof abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 6 Abs. 3 EMRK (Verteidigungsrechte).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b im Hinblick auf die Videoaufnahme

(82) Die Bf. behauptete, [...] die Gesamtfairness des gegen sie geführten Strafverfahrens wäre untergraben worden, weil sie ein im Verhandlungssaal gezeigtes Video nicht wirksam ansehen hätte können. [...]

(91) [...] Art. 6 EMRK garantiert in seiner Gesamtheit das Recht einer angeklagten Person, effektiv an einem Strafverfahren teilzunehmen. Dies umfasst nicht nur ihr Recht anwesend zu sein, sondern auch, dem Verfahren zu folgen. [...]

(93) [...] Während der Verhandlung wurde nur ein Video angesehen. Dies erfolgte aufgrund eines Antrags der Verteidigung, um die Genauigkeit der Transkription dieser spezifischen Aufnahme zu überprüfen. Es wurde kein weiterer Antrag auf Vorführung anderer Videos gestellt und es steht außer Streit, dass sie für eine Prüfung vor Gericht zur Verfügung gestanden wären [...]. Außerdem waren die Transkriptionen der auf diesen Bändern aufgezeichneten Gespräche im Akt enthalten und einer Überprüfung zugänglich.

(94) [...] Die Protokolle [...] enthalten keinen Hinweis auf irgendwelche Beschwerden über die Qualität der Tonspur der Aufnahme. [...]

(95) Der GH ist davon überzeugt, dass sich die Bf. in einer Weise wirksam an der Betrachtung der Videoaufzeichnung beteiligen konnte, die ihren verfahrensrechtlichen Bedürfnissen entsprach, nämlich die Genauigkeit der Transkription zu prüfen, indem sie diese mit der Tonspur der Aufnahme verglich. Daraus folgt, dass keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b EMRK stattgefunden hat (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK im Hinblick auf den Zeugen A.

(96) Die Bf. brachte vor, die Gesamtfairness des Strafverfahrens gegen sie wäre untergraben worden, weil sie in der Hauptverhandlung den Zeugen A. nicht befragen konnte. [...]

(114) Der GH nimmt das Argument der Regierung zur Kenntnis, die Bf. habe auf ihr Recht verzichtet, den Zeugen A. in der Hauptverhandlung zu befragen. Dieses Vorbringen muss als Verfahrenseinrede geprüft werden, die sich auf die Zulässigkeit dieses Beschwerdepunkts bezieht.

(117) Art. 6 EMRK hindert weder nach seinem Wortlaut noch nach seinem Sinn eine Person daran, entweder ausdrücklich oder stillschweigend aus freien Stücken auf die Garantien eines fairen Verfahrens zu verzichten. Damit ein Verzicht aber im Hinblick auf die Konvention wirksam ist, muss er in unmissverständlicher Weise erfolgen und von Mindestgarantien begleitet werden, die seiner Wichtigkeit entsprechen. Ein Verzicht muss nicht ausdrücklich erfolgen, aber er muss freiwillig sein und eine wissentliche und informierte Preisgabe eines Rechts darstellen. Bevor angenommen werden kann, dass ein Angeklagter durch sein Verhalten implizit auf ein wichtiges Recht nach Art. 6 EMRK verzichtet hat, muss nachgewiesen werden, dass er vernünftigerweise vorhersehen konnte, welche Folgen dieses Verhalten haben würde. Außerdem darf der Verzicht keinem wichtigen öffentlichen Interesse widersprechen.

(118) Ein Verzicht auf das Recht, einen Zeugen zu befragen, [...] muss den oben genannten Anforderungen strikt entsprechen.

(119) Im vorliegenden Fall [...] stimmte die von zwei Verteidigern unterstützte Bf. in der Verhandlung vom 13.1.2005 der Verlesung der Aussagen von A. aus dem Vorverfahren zu. Die Bf. bestritt weder die Richtigkeit des Verhandlungsprotokolls noch behauptete sie, in dieser Angelegenheit von ihren Anwälten nicht angemessen beraten worden zu sein.

(121) Der GH muss nun bestimmen, ob die Bf. unter den Umständen des vorliegenden Falls auf ihr Recht verzichtete, den Zeugen A. zu befragen. Dazu stellt er zunächst fest, dass nichts darauf hindeutet, ihre Handlungen wären nicht freiwillig gewesen oder hätten einem wichtigen öffentlichen Interesse widersprochen.

(122) Angesichts des Verhandlungsprotokolls ist festzuhalten, dass die Verteidigung unmissverständlich der Verlesung der Aussagen von A. aus dem Vorverfahren zustimmte. Am letzten Tag der Beweisaufnahme beantragte Anwalt S. die Vorladung des Zeugen A. Der vorsitzende Richter informierte die Parteien darüber, dass dieser Zeuge nicht verfügbar wäre, woraufhin der Staatsanwalt die Verlesung seiner Aussagen aus dem Vorverfahren beantragte. Anwalt U. sprach sich nicht dagegen aus und Anwalt S. stimmte ausdrücklich zu.

(123) In weiterer Folge fragte der vorsitzende Richter [...] die Parteien, ob sie einem Abschluss der Beweisaufnahme auch ohne Befragung der Zeugen, die nicht erschienen waren, zustimmen würden. Die Bf. erhob keine Einwände und bestand vor allem nicht auf ihrem Antrag, A. in der Hauptverhandlung zu hören.

(124) Das russische Strafprozessrecht hätte der Bf. eine Gelegenheit geboten, selbst ohne Angabe von Gründen der Verlesung dieser Aussagen zu widersprechen. Hätte sie dies getan und auf der Vorladung von A. bestanden, hätte das Gericht seine Aussagen aus dem Vorverfahren nur verlesen können, wenn die besonderen Voraussetzungen des § 281 Abs. 2 StPO erfüllt gewesen wären. (Anm: Diese Ausnahmetatbestände sind: Tod des Opfers bzw. Zeugen oder eine schwere Erkrankung, die ein Erscheinen ausschließt; die Weigerung eines ausländischen Zeugen, einer Vorladung Folge zu leisten und Naturkatastrophen oder ähnliche außergewöhnlichen Umstände, die ein Erscheinen vor Gericht verhindern.) Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt waren, wäre eine Vertagung und neuerliche Vorladung des Zeugen A. eine mögliche Vorgangsweise gewesen.

(125) Die Bf. wurde vor Gericht von zwei Anwälten ihrer Wahl vertreten. Nichts deutet darauf hin, dass diesen die Konsequenzen ihrer Zustimmung zur Verlesung der Aussagen von A. nicht bewusst gewesen wären, nämlich dass sie die Möglichkeit einer Befragung des Zeugen in der Hauptverhandlung verlieren und seine Aussagen vom Gericht bei der Entscheidung über die Anklage gegen die Bf. berücksichtigt würden.

(126) Außerdem hinderte nichts [...] die Verteidigung daran, im Berufungsverfahren Anträge auf eine Befragung von A. zu stellen. Die wiederum von zwei Anwälten unterstützte Bf. entschied sich allerdings dazu, auch von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen. [...]

(127) Die obigen Überlegungen reichen für den GH aus um zum Schluss zu kommen, dass die Bf. durch die Zustimmung zur Verlesung der Aussagen des Zeugen A. aus dem Vorverfahren und durch ihr Nichtbestehen auf ihrem Antrag auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung auf ihr Recht verzichtete, diesen konkreten Zeugen zu befragen. Dieser Verzicht ging mit Mindestgarantien einher, die seiner Wichtigkeit entsprechen. [...]

(128) Folglich bestätigt der GH die Einrede der Regierung und weist die Beschwerde [...] über die Abwesenheit des Zeugen A. in der Hauptverhandlung als offensichtlich unbegründet [und somit unzulässig] zurück (mehrheitlich).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK im Hinblick auf die Zeugen B. und K.

(129) Die Bf. behauptete [...] eine Unfairness des Verfahrens insgesamt [...], weil sie die beiden Zeugen B. und K. in der Hauptverhandlung nicht befragen konnte.

(136) [...] Das russische Strafverfahren enthält gesonderte Bestimmungen für materielle Zeugen und beurkundende Zeugen, für die es unterschiedliche Begriffe verwendet. Beurkundende Zeugen werden von einem Ermittler als neutrale Beobachter einer Ermittlungsmaßnahme eingeladen. Sie werden nicht als Zeugen der Anklage oder der Verteidigung angesehen, da sie [...] sich nicht zum Sachverhalt oder zu Schuld oder Unschuld des Angeklagten äußern. Die Abwesenheit beurkundender Zeugen im Strafverfahren verletzt die Garantien von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK nicht, sofern sich ihre Aussage auf die Art der Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen beschränkt [...].

(137) Die obigen Grundsätze wurden allerdings in einem Kontext entwickelt, in dem die Aussagen der beurkundenden Zeugen von der Anklage vorgelegt wurden.

(138) Im vorliegenden Fall war es die Verteidigung, die sich auf die Aussagen der beurkundenden Zeugen B. und K. stützen wollte, um ihre Behauptung zu untermauern, der Sprengstoff wäre vor der Durchsuchung der Bf. in deren Handtasche platziert worden. In diesem Licht betrachtet wären die Aussagen von B. und K. über die bloßen Modalitäten der Durchsuchung und die danach in die Aufzeichnungen der Polizei eingetragenen Informationen hinausgegangen. Daher sind B. und K. als »Entlastungszeugen« iSv. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK anzusehen.

Allgemeine Grundsätze betreffend die Befragung von Entlastungszeugen

(139) [...] Die Zulassung von Beweisen ist in erster Linie eine Angelegenheit des innerstaatlichen Rechts und es ist nicht Aufgabe des GH zu entscheiden, ob Zeugenaussagen ordnungsgemäß als Beweise zugelassen wurden. Er muss sich eher vergewissern, ob das Verfahren insgesamt fair war, einschließlich der Art der Beweiserhebung. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verlangt nicht die Anwesenheit und Befragung jedes einzelnen Entlastungszeugen. Das wesentliche Ziel dieser Bestimmung ist es [...], die volle Waffengleichheit sicherzustellen.

(140) In seinem Urteil Perna/I [...] fasste der GH die Grundsätze zur Vorladung und Befragung von Entlastungszeugen zusammen. [...]

(141) Der in Perna/I formulierte Test umfasst im Wesentlichen zwei Fragen: Erstens, ob der Bf. seinen Antrag, einen bestimmten Zeugen zu laden, unter Verweis auf die Relevanz der Aussagen dieser Person für die Wahrheitsfindung untermauert hat, und zweitens, ob die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, diesen Zeugen zu laden, die Fairness des Verfahrens insgesamt untergrub.

(142) Es ist aufschlussreich, die Entwicklung des in Perna/I dargelegten Zugangs in der späteren Rechtsprechung und die Schwierigkeiten seiner praktischen Anwendung zu beleuchten.

(143) Es wurde vom GH wiederholt klargestellt, dass ein Entlastungszeuge, dessen Aussage geeignet ist, ein Alibi der angeklagten Person begründet festzustellen, prima facie als relevant angesehen wird. Umgekehrt hat in einem Fall, in dem [...] die Aussage nicht zum Beweis der Unschuld geeignet war, die Abwesenheit des Zeugen die Fairness des Strafverfahrens nicht beeinträchtigt. [...]

(144) Ein Bf. entspricht den Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, wenn er einen Antrag stellt, der ausreichend begründet und für den Gegenstand der Anklage relevant ist und der vertretbar die Position der Verteidigung stärken oder zu einem Freispruch führen kann. Von Bf. wird verlangt, den innerstaatlichen Gerichten mit ausreichender Deutlichkeit zu erklären, warum die Vernehmung eines bestimmten Zeugen notwendig ist.

(145) Die Bedeutung der Aussage eines Entlastungszeugen ist an der Geeignetheit zu messen, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. [...] Sobald die nationalen Behörden selbst die Bedeutung der Aussagen eines Entlastungszeugen anerkannt haben, indem sie sich beispielsweise in der Anklageschrift darauf beziehen und wiederholt Anträgen auf Anhörung dieses Zeugen stattgeben, kann es dann, wenn dieser Zeuge im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht mehr vorgeladen wird, für die Verteidigung entbehrlich sein, [...] weitere detaillierte Gründe für seine Befragung vorzubringen.

(146) Wenn die Verteidigung die Befragung eines Zeugen beantragt, der vertretbar die Position der Verteidigung stärken oder dessen Aussage gar zu einem Freispruch führen hätte können, müssen die innerstaatlichen Gerichte relevante Gründe für die Abweisung eines solchen Antrags vorlegen. [...]

(148) Nur ausnahmsweise wird der GH zu dem Schluss kommen, dass das Versäumnis, einen Zeugen anzuhören, mit Art. 6 EMRK unvereinbar war. Die unbegründete Abweisung eines Antrags oder das Schweigen der innerstaatlichen Gerichte zu einem ausreichend begründeten und relevanten Antrag auf Anhörung eines Entlastungszeugen führt nicht zwingend zur Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK. Da die Gesamtfairness des Verfahrens nach Art. 6 EMRK ein überragendes Kriterium ist, muss ein Bf. nicht nur nachweisen, dass ein bestimmter Entlastungszeuge nicht angehört wurde, sondern auch, dass die Befragung dieses Zeugen notwendig war und dass die Verteidigungsrechte durch das Versäumnis, den Zeugen aufzurufen, beeinträchtigt wurden.

Klarstellung dieser allgemeinen Grundsätze

(154) Eine sorgfältige Durchsicht der Rechtsprechung offenbart, dass der GH zwar im Allgemeinen dem oben genannten Zugang (vgl. Rn. 141) gefolgt ist, aber auch immer wieder die Art und Weise geprüft hat, wie die innerstaatlichen Gerichte über einen Antrag auf Befragung eines bestimmten Zeugen entschieden. Das Verhalten und die Entscheidungsfindung der innerstaatlichen Gerichte haben eine unabhängige Prüfung erfahren und waren in der großen Mehrheit der Fälle vor und nach Perna/I gewichtige Faktoren bei der Analyse durch den GH. Die sorgfältige und respektvolle Prüfung der Begründungen der innerstaatlichen Gerichte durch den GH steht in Einklang mit den etablierten Grundsätzen, wonach erstens diese Gerichte am besten in der Lage sind, die Bedeutung und Zulässigkeit von Beweisen einzuschätzen, und zweitens nur außergewöhnliche Umstände den GH zu der Schlussfolgerung veranlassen werden, dass das Versäumnis, eine bestimmte Person als Zeugen zu hören, mit Art. 6 EMRK unvereinbar war.

(155) Die Frage, ob die [...] Gerichte die Relevanz der Aussage dieser Person berücksichtigten und ausreichende Gründe für ihre Entscheidung lieferten, einen Zeugen in der Hauptverhandlung nicht zu hören, muss als unabhängige und integrale Komponente des Tests nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK anerkannt werden.

(156) Es scheint, dass die gerichtliche Beurteilung der Relevanz der Aussage eines Zeugen und die Begründung der innerstaatlichen Gerichte bei ihrer Reaktion auf einen Antrag der Verteidigung auf Befragung eines Zeugen die logische Verbindung zwischen den beiden Elementen des Perna-Tests bilden und als ein implizites Element dieses Tests herangezogen wurden. Der GH erachtet es im Interesse der Klarheit und Konsistenz der Rechtsprechung als wünschenswert, es zu einem expliziten Element zu machen.

(157) Diese Entwicklung scheint der jüngeren Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK zu entsprechen, in der die entscheidende Bedeutung der Verpflichtung der [...] Gerichte betont wird, eine sorgfältige Prüfung der relevanten Angelegenheiten vorzunehmen, wenn die Verteidigung einen ausreichend begründeten Antrag stellt. [...]

(158) Im Hinblick auf Fälle, in denen ein dem innerstaatlichen Recht entsprechender Antrag auf Befragung eines Entlastungszeugen gestellt wurde, formuliert der GH im Licht der obigen Überlegungen den folgenden dreistufigen Test:

1. War der Antrag auf Befragung eines Zeugen ausreichend begründet und im Hinblick auf den Gegenstand der Anklage relevant?

2. Haben die innerstaatlichen Gerichte die Relevanz dieser Aussage geprüft und ausreichende Gründe für ihre Entscheidung geliefert, einen Zeugen nicht in der Hauptverhandlung zu hören?

3. Wurde durch die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, einen Zeugen nicht anzuhören, die Fairness des Verfahrens insgesamt untergraben?

(159) Der GH ist der Ansicht, dass die vorhandene Rechtsprechung bereits eine solide Grundlage für die Anwendung aller drei Schritte dieses Tests bietet, erachtet es aber für angemessen, die folgende Anleitung für zukünftige Fälle bereitzustellen.

War der Antrag auf Befragung eines Zeugen ausreichend begründet und im Hinblick auf den Gegenstand der Anklage relevant?

(160) [...] Nach dem Perna-Test wird die Frage, ob ein Angeklagter seinen Antrag auf Ladung eines Entlastungszeugen untermauert hat, im Hinblick auf die Relevanz der Aussage dieser Person für die »Wahrheitsfindung« entschieden. Während in manchen Fällen nach Perna/I geprüft wurde, ob die Aussage eines Zeugen für die »Wahrheitsfindung« relevant war, bezogen sich andere auf deren Potential, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen, ein Alibi zu bestätigen, vertretbar zu einem Freispruch zu führen oder die Position der Verteidigung zu stärken [...]. Was alle diese Standards gemeinsam zu haben scheinen, ist die Relevanz der Aussage eines Zeugen für den Gegenstand der Anklage und ihre Fähigkeit, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Im Licht der Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK erachtet es der GH als notwendig, den Standard klarzustellen, indem er nicht nur Anträge der Verteidigung auf Ladung eines Zeugen, der den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann, sondern auch anderer Zeugen, von denen vernünftigerweise eine Stärkung der Position der Verteidigung erwartet werden kann, in seinen Anwendungsbereich bringt.

(161) Die Relevanz der Zeugenaussage ist daher auch für die Beurteilung entscheidend, ob der Bf. ausreichende Gründe für seinen Antrag auf Ladung eines Zeugen vorgebracht hat, da die Stärke der als »ausreichend« angesehenen Begründung von der Rolle dieser Aussage unter den Umständen eines konkreten Falls abhängt. Es ist unmöglich, abstrakt zu beurteilen, ob bestimmte Gründe für die Befragung eines Zeugen als ausreichend und relevant für den Gegenstand der Anklage angesehen werden können. Diese Einschätzung umfasst notwendigerweise eine Berücksichtigung der Umstände eines konkreten Falls, einschließlich der anwendbaren Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, des Stadiums und Fortschritts des Verfahrens, der von den Parteien verfolgten Begründungen und Strategien und ihres prozessualen Verhaltens. Zugegebenermaßen kann die Relevanz der Aussage eines Entlastungszeugen in bestimmten Fällen so offensichtlich sein, dass selbst eine knappe Begründung der Verteidigung ausreichend wäre, um die erste Frage des Tests zu bejahen.

Haben die innerstaatlichen Gerichte die Relevanz dieser Aussage geprüft und ausreichende Gründe für ihre Entscheidung geliefert, einen Zeugen nicht in der Hauptverhandlung zu hören?

(163) Der GH erinnert daran, dass einerseits die Zulässigkeit von Beweisen [...] in erster Linie durch das innerstaatliche Recht geregelt wird und die innerstaatlichen Gerichte am besten in der Lage sind darüber zu entscheiden und dass andererseits Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht die Anwesenheit und Befragung jedes Entlastungszeugen verlangt, sondern auf die Gewährleistung von Waffengleichheit in dieser Angelegenheit abzielt. Innerhalb dieses Rahmens ist es in erster Linie Sache der innerstaatlichen Gerichte, die relevanten Fragen sorgfältig zu prüfen, wenn die Verteidigung einen ausreichend begründeten Antrag auf Befragung eines bestimmten Zeugen gestellt hat.

(164) Jede solche Beurteilung umfasst notwendigerweise eine Berücksichtigung der Umstände eines konkreten Falls und die Begründung der Gerichte muss etwa hinsichtlich des Umfangs und der Detailliertheit in Einklang mit den von der Verteidigung vorgebrachten Gründen stehen.

(165) Da die Konvention nicht die Anwesenheit und Befragung jedes Entlastungszeugen verlangt, kann von den Gerichten nicht erwartet werden, jeden Antrag der Verteidigung detailliert zu beantworten, sondern sie müssen eine angemessene Begründung geben.

(166) Im Allgemeinen werden die Relevanz der Zeugenaussage und das Ausreichen der von der Verteidigung vorgebrachten Gründe im Einzelfall ausschlaggebend sein für den Umfang und die Detailliertheit der von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommenen Beurteilung der Notwendigkeit, die Anwesenheit und Befragung eines Zeugen sicherzustellen. Je stärker und gewichtiger die von der Verteidigung vorgebrachten Argumente sind, desto genauer muss demnach die Prüfung sein und desto überzeugender müssen die innerstaatlichen Gerichte die Abweisung des Antrags der Verteidigung auf Befragung eines Zeugen begründen.

Wurde durch die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, einen Zeugen nicht anzuhören, die Fairness des Verfahrens insgesamt untergraben?

(167) [...] Es ist unerlässlich, in jedem Fall den Einfluss zu beurteilen, den eine Entscheidung, mit der die Befragung eines Zeugen in der Hauptverhandlung abgelehnt wird, auf die Fairness des Verfahrens insgesamt hatte. [...]

(168) Nach Ansicht des GH gewährleistet das Festhalten an der Gesamtfairness als endgültigem Maßstab für die Beurteilung des Verfahrens, dass der obige dreistufige Test nicht übermäßig streng oder schematisch in der Anwendung wird. Während die Schlussfolgerungen bei den ersten beiden Schritten dieses Tests im Allgemeinen starke Hinweise über die Fairness des Verfahrens geben werden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass in bestimmten – wenn auch zugegebenermaßen seltenen – Fällen Überlegungen hinsichtlich der Fairness die gegenteilige Schlussfolgerung rechtfertigen können.

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(169) Wie das Verhandlungsprotokoll zeigt, beantragten die Anwälte der Bf. die Vorladung von B. und K., um die genauen Umstände der Durchsuchung zu klären und festzustellen, ob der Bf. der Sprengstoff untergeschoben wurde. Die Bf. ihrerseits gab an, sie würde nicht auf deren Anwesenheit »bestehen«, da der Sprengstoff ihrer Meinung nach bereits vor ihrer Durchsuchung von Polizisten platziert worden war. Dennoch hatte sie den Antrag unterstützt, weil ihre Anwälte die Anwesenheit von B. und K. als notwendig erachteten.

(170) Es ist von Bedeutung, dass es die Staatsanwaltschaft war, die in der Hauptverhandlung die an der Festnahme, Durchsuchung und erkennungsdienstlichen Behandlung der Bf. beteiligten Polizisten umfangreich befragte. Alle Polizeibeamten sagten aus, dass die Bf. vor der Durchsuchung ihre Handtasche stets bei sich getragen hätte und dass ihre Fingerabdrücke nur einmal nach der Durchsuchung abgenommen worden wären. Die Verteidigung blieb während des Kreuzverhörs dieser Zeugen generell passiv und stellte nur zwei Fragen an sie, die auf weitere Details der oben genannten Ereignisse zielten.

(171) [...] Die Verteidigung lieferte kaum mehr als einen kurzen Hinweis auf die Relevanz der potentiellen Aussagen von B. und K., brachte aber keine besonderen faktischen oder rechtlichen Argumente vor und führte nicht konkret aus, inwiefern von diesen Aussagen eine Stärkung der Position der Verteidigung zu erwarten war. Auch in ihrer Berufung ging die Verteidigung nicht näher darauf ein. Da die Bf. selbst ausgesagt hatte, der Sprengstoff wäre schon vor Ankunft der beurkundenden Zeugen platziert worden, wären weitere Gründe für die Befragung dieser Zeugen notwendig gewesen.

(172) [...] Das Verhandlungsprotokoll nennt keine Begründung des Gerichts für die Abweisung des Antrags der Verteidigung, die beurkundenden Zeugen vorzuladen. Allerdings führte der Oberste Gerichtshof aus [...], dass das persönliche Erscheinen von B. und K. nicht notwendig gewesen wäre, da die Bf. selbst behauptet hatte, der Sprengstoff wäre schon vor ihrer Durchsuchung in ihrer Handtasche platziert worden. Er stellte weiters fest, dass die Verteidigung [...] weder Einwände gegen die Schließung der Beweisaufnahme erhoben noch weitere Beweisanträge gestellt hatte.

(173) Auch wenn die innerstaatlichen Gerichte den Antrag der Bf. nicht als unbegründet zurückwiesen, ist klar, dass die Bedeutung der möglichen Aussage der beurkundenden Zeugen [...] für den Gegenstand der Anklage nur entfernt relevant war.

(174) Angesichts der generellen Passivität der Verteidigung während der Befragung der Polizisten über die Ereignisse rund um das angebliche Unterschieben des Sprengstoffs und des Fehlens spezifischer rechtlicher oder faktischer Argumente hinsichtlich der Notwendigkeit der Befragung der beurkundenden Zeugen kommt der GH zu dem Schluss, dass der Oberste Gerichtshof ausreichende Gründe für die Entscheidung lieferte, sie in der Hauptverhandlung nicht zu befragen. Die Begründung war unter den Umständen des Falls angemessen und sie stand hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Detailliertheit in Einklang mit den von der Verteidigung vorgebrachten Gründen.

(175) Wie der GH betonen möchte, konnte sich die von zwei Anwälten unterstützte Bf. effektiv verteidigen, Belastungszeugen befragen, sich zu den belastenden Beweisen ungehindert äußern, von ihr als relevant erachtete Beweise vorbringen und den innerstaatlichen Gerichten ihre Version der Ereignisse präsentieren. Ihre Verurteilung wegen Vorbereitung eines Terrorakts und Anstiftung anderer zu solchen Handlungen beruhte auf erheblichem Beweismaterial einschließlich der Aussagen mehrerer Belastungszeugen, dem in ihrer Wohnung beschlagnahmten Material [...], kriminaltechnischen Untersuchungsberichten und den Transkripten der Aufnahmen der polizeilichen Videoüberwachung.

(176) Angesichts dieser Überlegungen kommt der GH zum Ergebnis, dass die Gesamtfairness des Verfahrens durch die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, B. und K. in der Hauptverhandlung nicht zu befragen, nicht untergraben wurde.

(177) Dementsprechend stellt der GH [...] im Hinblick auf die Zeugen B. und K. keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK fest (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Bošnjak und Pinto de Albuquerque).

Vom GH zitierte Judikatur:

Van Mechelen u.a./NL v. 23.4.1997 = NL 1997, 91 = ÖJZ 1998, 274

Perna/I v. 6.5.2003 (GK)

Al-Khawaja und Tahery/GB v. 15.12.2011 (GK) = NLMR 2011, 375

Dvorski/HR v. 20.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 412

Schatschaschwili/D v. 15.12.2015 (GK) = NLMR 2015, 503 = EuGRZ 2016, 511

Ibrahim u.a./GB v. 13.9.2016 (GK) = NLMR 2016, 423

Simeonovi/BG v. 12.5.2017 (GK) = NLMR 2017, 226

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.12.2018, Bsw. 36658/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 520) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abrufbar: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-187932

Rechtssätze
2