JudikaturJustizBsw33695/96

Bsw33695/96 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Januar 2005

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Musumeci gegen Italien, Urteil vom 11.1.2005, Bsw. 33695/96.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Kein wirksamer Rechtsschutz gegen die Anordnung von besonderen Sicherheitsvorkehrungen im Strafvollzug. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Verlängerung des speziellen Haftregimes (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Möglichkeit gegen die Anordnung von erhöhten Sicherheitsvorkehrungen gerichtlich vorzugehen (5:2 Stimmen).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Da der Bf. keinen Antrag auf Zuspruch einer angemessenen Entschädigung gestellt hat, ist eine Befassung mit dieser Frage entbehrlich (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war wegen Verdachts der Leitung einer kriminellen Organisation verhaftet und in Gewahrsam genommen worden. Am 21.7.1992 ordnete der Justizminister seine Anhaltung unter einem speziellen Haftregime gemäß den einschlägigen Bestimmungen des italienischen Strafvollzugsgesetzes an. Es sah unter anderem die Untersagung jeglichen Kontakts mit anderen Häftlingen, die Überwachung des Briefverkehrs, eine Einschränkung der Besuche von Familienmitgliedern auf einen pro Monat sowie die Beschränkung der Bewegung im Freien auf zwei Stunden pro Tag vor.

In der Folge wurde das spezielle Haftregime neun Mal für jeweils sechs Monate verlängert. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel an die Strafvollzugsgerichte blieben zwar in der Sache erfolglos, jedoch stellten diese wiederholt fest, dass gewisse Einschränkungen, etwa Besuche von Familienmitgliedern oder die Bewegung im Freien betreffend, unzulässig seien. 1997 wurde ein Rechtsmittel vom Obersten Gerichtshof zurückgewiesen, da die Frist für die Geltung der bekämpften ministeriellen Anordnung bereits abgelaufen sei und folglich kein Interesse mehr an ihrer Überprüfung bestehe. Nach seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen Mordes wurde das spezielle Haftregime aufgehoben und der Bf. in den Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses verlegt. Er wandte sich daraufhin an das Strafvollzugsgericht und beantragte, seine Strafe unter normalen Haftbedingungen verbüßen zu dürfen. Sein Antrag wurde mit der Begründung abgewiesen, dass die Anordnung von erhöhten Sicherheitsvorkehrungen in das Ermessen der Strafvollzugsbehörden falle.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, seine gegen die Anordnung des speziellen Haftregimes bzw. erhöhter Sicherheitsvorkehrungen erhobenen Rechtsmittel seien ineffektiv gewesen, was eine Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK begründe. Er rügt ferner eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Briefverkehrs) durch die Überwachung seiner Korrespondenz.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

1. Zum speziellen Haftregime:

Der Bf. bringt vor, dass die wiederkehrenden ministeriellen Anordnungen einer Verlängerung des speziellen Haftregimes die vorherigen Entscheidungen der Strafvollzugsgerichte, mit denen gewisse Einschränkungen als unzulässig beurteilt worden waren, nicht berücksichtigt hätten.

Der GH hält fest, dass eine solche Anordnung kraft geltendem italienischen Recht zum Gegenstand eines Einspruches ohne aufschiebende Wirkung bei den Strafvollzugsgerichten gemacht werden kann, die darüber innerhalb von zehn Tagen nach Zustellung an den Häftling zu entscheiden haben. Im vorliegenden Fall wurde jedoch keine der vom Bf. angefochtenen Anordnungen, mit denen das spezielle Haftregime verlängert wurde, innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist erledigt. (Anm.: Sie wurde in allen Fällen mit einer durchschnittlichen Dauer von etwa zweieinhalb Monaten überschritten.)

Bei der Beurteilung der Frage, ob die zeitlichen Verzögerungen den Einsprüchen des Bf. praktisch jegliche Wirksamkeit nahmen, sind folgende zwei Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen die begrenzte Dauer von jeweils sechs Monaten, für die das spezielle Haftregime verlängert werden konnte, zum anderen die Tatsache, dass der Justizminister an die Entscheidungen der Strafvollzugsgerichte, einen Teil oder die Gesamtheit der zuvor angeordneten Sicherheitsmaßnahmen aufzuheben, nicht gebunden war. Er war somit in der Lage, sofort nach Ablauf der Gültigkeit seiner letzten Anordnung eine neue zu erteilen, mit der die von den Strafvollzugsgerichten als ungerechtfertigt erachteten Einschränkungen wieder eingeführt werden konnten. Der GH hält als Ergebnis fest, dass die systematische Nichtbeachtung der Frist von zehn Monaten durch die Strafvollzugsgerichte die Wirksamkeit der von ihnen ausgeübten Kontrollbefugnis erheblich geschmälert, wenn nicht sogar gänzlich beseitigt hat. Sie führte etwa dazu, dass die von ihnen wiederholt als unzulässig erachtete Einschränkung der Familienbesuche auf einmal monatlich länger als notwendig andauerte. Im Übrigen hat auch der Oberste Gerichtshof ein gegen die Verlängerung des speziellen Haftregimes eingebrachtes Rechtsmittel wegen Ablaufs der Geltungsdauer der bekämpften ministeriellen Anordnung zurückgewiesen. Unter diesen Umständen kann der vom Bf. erhobene Einspruch gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes nicht als wirksames Rechtsmittel angesehen werden. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

2.) Zur Anordnung von erhöhten Sicherheitsvorkehrungen:

Der Bf. bringt vor, er sei über die Anordnung von erhöhten Sicherheitsvorkehrungen nicht in Kenntnis gesetzt worden und hätte somit auch keine Möglichkeit gehabt, diese Maßnahme gerichtlich anzufechten.

Der GH hält fest, dass das zuständige Strafvollzugsgericht den Antrag des Bf., seine Strafe unter normalen Haftbedingungen abbüßen zu dürfen, abgewiesen hat, da die angefochtene Maßnahme in das Ermessen der Strafvollzugsbehörden falle. In dieser Hinsicht ist auf ein Erkenntnis des italienischen Verfassungsgerichtshofs vom 11.2.1999 zu verweisen, in dem dieser zwei Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes als verfassungswidrig aufgehoben hat, weil sie gegen die Einschränkung von Häftlingsrechten durch die Gefängnisverwaltung keinerlei Rechtsmittel vorsahen. Die fehlende Möglichkeit, gegen die Anordnung von erhöhten Sicherheitsvorkehrungen gerichtlich vorzugehen, stellt daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK dar (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richter Zagrebelsky, gefolgt von Richter Borrego Borrego).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Im vorliegenden Fall stützte sich die Überwachung des Briefverkehrs auf § 18 des Strafvollzugsgesetzes. Der GH hat wiederholt festgestellt, dass diese Vorschrift Art. 8 EMRK zuwiderlaufe, da darin weder die Dauer einer solchen Maßnahme, noch die dafür maßgeblichen Beweggründe festgelegt seien, was auch für die Grenzen und das Ausmaß des den Behörden in diesem Bereich zustehenden Ermessensspielraumes gelte. Die gerügte Maßnahme erfolgte somit nicht auf der von Art. 8 EMRK geforderten gesetzlichen Grundlage. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Da der Bf. keinen Antrag auf Zuspruch einer angemessenen

Entschädigung gestellt hat, ist eine Befassung mit dieser Frage

entbehrlich (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Labita/I v. 6.4.2000.

Messina/I (Nr. 2) v. 28.9.2000, NL 2000, 186.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.1.2005, Bsw. 33695/96, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 13) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_1/Musumeci.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.